Читать книгу Die Kassemacher - Michel Rodzynek - Страница 7

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Es war ein typischer Herbsttag in einem Oktober, der mehr nass als goldig war. Der heftige Regen klatschte gegen die verschmutzten Fensterscheiben im ungemütlichen Konferenzzimmer der Hanse CityClinic im nördlichen Randgebiet von Hamburg. Draußen stürmte es; in dem stickigen Raum mit seinen nur spärlich bebilderten Wänden herrschte jene typische Ruhe, wenn Diskussionen an den toten Punkt einer gewissen Ratlosigkeit gelangt sind. Minutenlanges Schweigen, nur unterbrochen vom Klappern der vergilbten Tassen und von dem Lärm startender Maschinen vom benachbarten Flughafen. Der trübe und dünne Kaffee entsprach ganz der Stimmung. Sie war einfach schlecht. Während sich die Runde zur turnusgemäßen Wochenbesprechung pünktlich um 10:00 Uhr eingefunden hatte, herrschte seit 07:00 Uhr früh auf allen Stationen des Klinikums der typische Hochbetrieb zum Wochenanfang.

Die Hanse CityClinic gehörte einem privaten Träger und war ein Krankenhaus mit Maximalversorgung. Mit insgesamt 750 Betten wurden jährlich rund 50.000 Patienten stationär behandelt. Fast genauso viele Menschen ließen sich ambulant versorgen. Nahezu 2.500 Mitarbeiter gewährleisteten rund um die Uhr einen Klinikbetrieb, der auch für alle erforderlichen Sofortmaßnahmen in akuten Notfällen ausgelegt war. Der in den 1970er-Jahren errichtete Komplex bestand aus einem imposanten 24-stöckigen Haupthaus mit einer rötlichen Backsteinfassade und zwei länglichen Seitenflügeln, die nachträglich angesetzt worden waren. In diesen flachen Anbauten waren die zentrale Notaufnahme und gegenüber die Geburtshilfe mit der Gynäkologie untergebracht. Dazwischen lag die Zufahrt für die Rettungsfahrzeuge. Der Landeplatz für den Rettungshubschrauber befand sich auf dem Dach.

Die 20 Fachabteilungen der Hanse CityClinic deckten das komplette Leistungszentrum der modernen Medizin ab. Dazu gehörten auch ein überregionales Traumazentrum für Schwerverletzte, eine Stroke Unit speziell für eine optimale Schlaganfallversorgung und eine hochmoderne Einheit für Organtransplantationen. Die jüngste Investition war eine hotelartige Privatstation für wohlhabende Patienten mit allem Komfort und anspruchsvoller Gastronomie à la carte.

Verwaltungsdirektor Joachim Frankenberg hatte an diesem Montagvormittag den Ärztlichen Direktor, Prof. Andreas Winkmann, Prof. Walter Schultz, Chefarzt der Radiologie und Pflegeleiterin Susanne Schubert zu einem seiner berüchtigten Budgetgespräche gebeten. Wie so oft ging es mal wieder vor allem ums liebe Geld. An den medizinischen Themen und täglichen Herausforderungen auf den einzelnen Stationen hatte der rigorose Finanzmann kein Interesse und so gut wie nie ein offenes Ohr.

Er hatte das typische Machtgehabe klein gewachsener Männer, trug vorzugsweise mausgraue Anzüge mit gestreiften Krawatten. Seine schwarzmatten Schuhe hatten schief abgelaufene Absätze und mussten Schwerstarbeit verrichten, da der Träger sie selten wechselte. Frankenberg war so modisch wie herzlich. Für beides hatte er nicht viel übrig. Als kühler Zahlenmensch verdankte der Verwaltungschef seine langjährige Position vor allem seiner Fähigkeit, menschliche Regungen ganz den ehrgeizigen Vorgaben seines autoritären Arbeitgebers unterzuordnen. Dabei war die Gesundheit der Patienten lediglich ein Mittel zum Zweck. Und dieser Zweck hieß EBITA, der finanzielle Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen auf die immateriellen Vermögensgegenstände. Auf einen Nenner gebracht war das EBITA für Klinikeigentümer Bernd von Assberg das einzig wahre Mittel, um seinen Reichtum mit maximalen Steigerungsraten zu vermehren. Nur darum ging es; die oftmals verzweifelten Hoffnungen schwerkranker Menschen oder die zunehmenden Probleme des überforderten Krankenhauspersonals waren für ihn und sein Führungsteam nur zweitrangig. Die Zahlen waren das A und O, tiefschwarz mussten sie sein und ja nicht auch nur ansatzweise rot. Rückläufige Ergebnisse oder gar Verluste waren für den 66-jährigen Milliardär so schockierend wie die unerwartete Krebsdiagnose für Menschen, die sich bis dahin als gesund gewähnt hatten und sich auch ansatzweise nicht vorstellen konnten, nunmehr zu Umsatzbringern für einen gierigen Klinikbetreiber zu werden.

»Nein, wir müssen bis auf Weiteres alle Investitionen zurückstellen«, verkündete der Verwaltungsdirektor im Auftrag des abwesenden Eigentümers, als wolle dieser das Haus aufgrund verfehlter Umsatzziele nunmehr bestrafen.

Der erwartete Protest ließ nicht lange auf sich warten.

»Der Personalmangel bei den Pflegekräften hat ein Ausmaß erreicht, das einen reibungslosen Ablauf in der Patientenversorgung erheblich gefährdet«, hielt Susanne Schubert entgegen. »Wir brauchen dringend und ganz schnell mehr Personal im Pflegebereich.«

Für den ärztlichen Direktor Winkmann das richtige Stichwort. »Schon jetzt sind fast 30 Prozent der Betten nicht belegt, weil wir nicht genügend Personal haben. Wichtige Eingriffe müssen abgesagt werden, weil wir nicht genügend Mitarbeiter haben, um die Patienten aufnehmen oder sie richtig versorgen zu können. Wie soll das gehen, wenn beispielsweise nur eine einzige Pflegekraft für jeweils 30 Betten auf zwei Stationen in mehreren Etagen zuständig ist? Es ist verantwortungslos und völlig absurd.« Warnend hob er seine rechte Hand, streckte den Zeigefinger nach oben und legte mit fester Stimme nach. »Die rückläufige Auslastung wirkt sich zwangsläufig auch auf die Einnahmen aus. Wie sollen wir denn unter diesen unzumutbaren Bedingungen die ohnehin utopischen Ziele erreichen? Nein, Herr Frankenberg, so geht das nicht. Wir sparen hier am falschen Ende.«

Für den kaufmännischen Leiter waren das bekannte Einwendungen, die er mit anteillosem Ausdruck zur Kenntnis nahm. Sein aschfahles Gesicht zeigte keinerlei Regung. Mit den Jahren hatte er gelernt, seine Gedanken hinter einem nichtssagenden Ausdruck zu verstecken. Empathie hatte hier nichts verloren. Dabei konnte er seinem Ärztlichen Direktor nicht widersprechen. Das Haus steckte wahrhaftig in einer höchst gefährlichen Abwärtsspirale. Aber wer würde es denn schon wagen, sich den Vorgaben des mächtigen Klinikinhabers zu widersetzen? Er mit Sicherheit nicht. Wenn von Assberg behauptete, die blaue Wand sei gelb, dann war es so. Jeder Widerspruch konnte das Ende der Karriere mit sich bringen. Eine Schreckensvision für den 54-Jährigen. In dem Alter und mit seinem branchenweit umstrittenen Ruf würde das für Frankenberg den zwangsläufigen Vorruhestand bedeuten. Nein, es musste einen anderen Ausweg aus diesem Dilemma geben.

Prof. Walter Schultz hob die Hand und beendete das unerträgliche Schweigen der ratlosen Runde. Fast mitleidsvoll lächelte der weißhaarige Radiologe die Pflegeleiterin an. »Sie haben natürlich grundsätzlich recht, Frau Pflegedirektorin. Aber der Mangel an Pflegekräften ist ein branchenweites Problem, das wir nicht allein in unserem Haus lösen können. Die Akquisition von Pflegekräften ist sehr zeit- und kostenaufwendig. Und würden sich denn die Ausgaben für neue Mitarbeiter auch bei voller Bettenauslastung rechnen? Hierzu bestehen wohl unterschiedliche Ansichten. Ich persönlich kann die Frage jedenfalls nicht beantworten.«

Wütend schlug Prof. Winkmann mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wir sind eine Klinik und somit verantwortlich für die Gesundheit der Menschen in unserer Region. Ich bin nicht Arzt geworden, um einem Klinikbesitzer die bereits vollen Taschen noch weiter vollzustopfen. Ich bestehe auf eine adäquate Patientenversorgung anstatt einer Gewinnmaximierung. Verdammt, das ist unsere Aufgabe.«

Mit sanfter Stimme protestierte Frankenberg. »Wir suchen ja nach Pflegekräften und geben seit Monaten teure Anzeigen in mehreren osteuropäischen Fachzeitschriften aus. Der deutsche Markt ist ja wie leergefegt.«

»Warum wohl?«, wendete die Pflegeleiterin kopfschüttelnd ein, »wir haben es seit Jahren versäumt, diesen Beruf attraktiver zu machen. Wer möchte denn heute noch2Krankenschwester werden? Diese so verantwortungsvolle Tätigkeit hat doch mittlerweile überhaupt keinen Stellenwert mehr. Was bieten wir denn dem Nachwuchs außer Stress, Überstunden, Schichtdienst und mangelnde Wertschätzung bei schlechter Bezahlung? Ich bin zu 100 Prozent sicher, mit Pflegekräften aus Osteuropa oder Asien werden wir niemals die wachsenden Löcher stopfen können. Mal ganz abgesehen von den Risiken für die zu betreuenden Patienten durch mangelnde Sprachkenntnisse.«

Der massive Pflegenotstand bereitete Susanne Schubert schon seit längerer Zeit schlaflose Nächte. Die alleinstehende Frau war seit jeher mit ihrem Beruf verheiratet und litt unter der allgemein mangelnden Anerkennung für diese so wichtige Arbeit. Ihr vorbildliches Engagement und ihre unermüdliche Leidenschaft hatten das Management davon überzeugt, dass die 45-jährige Berlinerin genau die richtige Fachkraft für die anspruchsvolle Position der Pflegeleitung war. Auch wenn sie sich mit ihrer etwas forschen Berliner Schnauze manchmal in Ton und Wortwahl etwas vergriff, genoss sie aufgrund ihrer Kompetenz und vorbildlichen Arbeitsauffassung den Respekt des Managements. Außerdem wirkte sich ihre hohe Beliebtheit auf allen Stationen immer wieder vorteilhaft für den Hausfrieden aus.

»Glauben Sie mir, wir suchen nach Lösungen«, versuchte Frankenberg mit monotoner Stimme zu beschwichtigen. Es klang wie bei allen vorherigen Diskussionen zu diesem Thema wenig überzeugend.

Niemand an diesem Tisch nahm ihm das ab; er selbst glaubte ebenso wenig daran. Es waren die hohlen Worte leerer Versprechungen. Der dramatische Mangel an Pflegepersonal war ein weit bekanntes und rapide wachsendes Problem in der gesamten Gesundheitsbranche. Es kam regelmäßig auf den Tisch, um dann letztendlich doch ungelöst beiseitegeschoben zu werden. Ein ungeliebtes Thema für alle Beteiligten, da es augenscheinlich keine Lösung gab. Es war wie eine tickende Bombe, die niemand entschärfen wollte, obwohl ihre folgenschwere Explosion nur eine Frage überschaubarer Zeit war.

Die Kassemacher

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