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Zur selben Zeit hatte das frühsommerliche Wetter in Kapstadt die 20-Grad-Marke längst überschritten. Es war 11:00 Uhr und Irina Herzberg genoss den zweiten Cappuccino in ihrem zerwühlten Hotelbett in dem 5-Sterne-Haus am Strand von Camps Bay. Ein hochsommerlicher Tag stand bevor, aber an ein Bad im Meer war angesichts der eisigen Wassertemperatur auf dieser Seite des Ozeans nicht zu denken. Dafür freute sich die junge Ärztin auf ein paar sonnige Stunden am Hotelpool, der überwiegend von britischen Touristen frequentiert wurde.

Ihr Freund war schon um 09:00 Uhr zu einem Ausflug mit den anderen Teilnehmern der sogenannten Studienreise aufgebrochen. Das umfangreiche Tagesprogramm sah eine mehrstündige Tour in der Region mit einem Lunch im bekannten Harbour House in Kalk Bay vor. Irina konnte also den restlichen Tag ganz nach eigener Lust und Laune gestalten. Sie schüttelte innerlich den Kopf über das, was sich hinter solchen Studienreisen in Wirklichkeit verbarg. Auf diesem Trip jedenfalls war mehr Trinkfestigkeit als fachliches Interesse für den eigentlichen Anlass gefordert.

Während ihres Praktikums an der Hanse CityClinic hatte sie eine heimliche Affäre mit Prof. Udo Krüger begonnen. Deshalb hatte sie sich überreden lassen, den überregional renommierten Chefarzt der onkologischen Abteilung auf dieser viertägigen Reise zu begleiten. Und Südafrika stand ganz oben auf ihrer Liste der noch unerfüllten Traumreisen.

Gastgeber war der mächtige Pharmakonzern Chemtec, der eine neu entwickelte Chemotherapie nach nunmehr erfolgter Zulassung rasch am Markt platzieren wollte. Zur klinischen Einführung hatte das Unternehmen führende Onkologen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eingeladen.

Kapstadt bot mit seinen erlebenswerten Weinbergen und Feinschmecker-Restaurants genau das richtige Szenario für diesen Zweck. Das Programm setzte dabei mehr auf die persönlichen Annehmlichkeiten der hochkarätigen Teilnehmer als auf lange wissenschaftliche Vorträge und fachliche Diskussionen. Die wichtigsten Informationen über das neue Präparat waren bereits in den entsprechenden Fachmedien vor dieser Reise publiziert worden, die somit inhaltlich keine wirklich neuen Erkenntnisse versprachen.

Der gemeinsame Flug in der bequemen Business Class an den südlichen Zipfel des afrikanischen Kontinents sollte vor allem die sozialen Kontakte zwischen der Firma und den Ärzten vertiefen. Bekanntlich zählen diese für die gewinnorientierte Pharmaindustrie mehr als ein wissenschaftlich fundierter Produktvergleich. Gerade bei einer Neueinführung geht es primär um die besseren Kontakte zu den einflussreichen Entscheidungsträgern und nicht darum, wer die wirksameren Medikamente anbietet. Im sogenannten Networking war Chemtec führend und leistete sich ein hohes Budget speziell für das persönliche Wohl seiner verwöhnten Kundschaft. Die Investitionen in den Goodwill der Onkologen machten sich unterm Strich bestens bezahlt.

Geschäftsführer Jan Siebert und Prof. Krüger kannten sich persönlich, infolge ihrer langjährigen Tätigkeit in der Onkologie, sehr gut. Auf verschiedenen Reisen hatten sie viele gemeinsame Stunden an den Hotelbars verbracht. Sie waren zwar keine kumpelhaften Freunde, aber sie schätzten sich gegenseitig aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation und beruflichen Position. Auf diesem Trip indes hatte sich der grauschläfige Chef-Onkologe aus Hamburg zunächst etwas rar gemacht und sich die ersten beiden Tage mit seiner attraktiven Reisebegleiterin zurückgezogen. Für den erfahrenen Chemtec-Manager war dies kein Problem. Hauptsache, der Doktor genoss den Trip und gab dem Gastgeber zugleich den Freiraum, sich intensiver um die anderen Teilnehmer bemühen zu können.

Für die 31-jährige Irina könnte diese gemeinsame Reise auch berufliche Vorteile haben, denn die Assistenzärztin versprach sich die persönliche Unterstützung ihres einflussreichen Lovers bei ihrer weiteren Karriere in der Klinik. Medizin faszinierte sie und für sie kam kein anderer Beruf infrage.

Während ihrer Studienzeit hatte sie ihren Vater verloren, der nach einem mehrjährigen Leiden bereits mit Anfang 60 an Prostatakrebs gestorben war. Nach einer erfolgreichen Operation mit anschließender Bestrahlung schien die Krankheit zunächst verdrängt. Doch der langsam wachsende Tumor war aktiv geblieben. Drei Jahre später hatten die Ärzte Metastasen in der Leber diagnostiziert und eine Chemotherapie verordnet. Die Nebenwirkungen waren wie in so vielen Fällen sehr heftig gewesen. David Herzberg hatte mit seinen Haaren auch die Freude und den Willen am weiteren Leben verloren. Es hatte nicht einmal mehr ein weiteres Jahr gedauert, bis die ursprünglich aus St. Petersburg stammende Familie ihren geliebten Vater auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg beerdigen musste.

Irinas Beziehung zu ihrem Vater war sehr eng gewesen. Von klein auf hatte er sie liebevoll gefordert und gefördert. Es war für sie schwer erträglich gewesen, den Zerfall dieses bis dahin kerngesunden und kräftigen Mannes so nah mitzuerleben. Auch deshalb zweifelte sie immer wieder an der Widersprüchlichkeit der heutigen Medizin. Einerseits verfügten die Ärzte über unvorstellbare Möglichkeiten, andererseits scheiterten Forschung und Entwicklung immer noch in der Prävention und Heilung vieler Krebserkrankungen. Zwar ermöglichten neue Operationsmethoden und Medikamente beachtenswerte Fortschritte, aber der entscheidende Durchbruch war noch längst nicht in Sicht.

Aufgrund der schmerzvollen Erinnerungen an die eigene Familientragödie hatte Irina vom ersten Moment an nur wenige Sympathien für den Geschäftsmann Jan Siebert. Sie mochte ihn nicht, weder sein dominantes Auftreten und noch weniger die eigennützige Rolle, die er in ihrer Medizinwelt einnahm. Die Art und Weise, wie dieser joviale Pharmaboss ein Mittel anpries, das den behandelten Menschen ihre Lebensqualität nahm und meistens auch sehr leiden ließ, empfand sie als zynisch und pietätlos. Dass sie nun selbst vom Erfolg dieser Firma auf einer solchen Luxusreise profitierte, gab ihr ein beschämendes Gefühl. Sie kam sich wie eine Verräterin am eigenen Vater vor, der an dieser brutalen Chemie vor ihren Augen zugrunde gegangen war. Und sie begriff immer mehr, dass die Realität im Gesundheitswesen in vielerlei Hinsicht anders war als ihre ursprünglichen Vorstellungen von einem Beruf, den sie mit großer Überzeugung und Leidenschaft gewählt hatte.

Auf dem Hinflug hatte sie mit Udo lange über ihre Schuldgefühle gesprochen. Dem sensiblen Onkologen, selbst Vater von zwei erwachsenen Töchtern, war es jedoch gelungen, die kritischen Bedenken der attraktiven Frau zu zerstreuen. Sie hatte ihn aus ihren großen Augen angeschaut, während er in seiner typischen Art argumentiert hatte. Seine Stimme hatte leise und wohlwollend geklungen, aber zugleich auch eindringlich und überzeugend. »Ich könnte dir etliche Patienten von mir nennen, die durch Chemotherapie viel Zeit gewonnen und auch eine wieder positive Lebenseinstellung gewonnen haben. Wie du weißt, gibt es viele Tumore, die wir heute erfolgreich operieren und mit potenten Medikamenten therapieren können. Wir dürfen daher auf keinen Fall schwarz-weiß malen und die bedeutenden Fortschritte in der Onkologie ignorieren.« Sanft hatte er ihr seine linke Hand auf den Unterarm gelegt und liebevoll die junge Frau gestreichelt, die sich wieder dem ovalen Fenster in der riesigen Boeing zugewandt und in über 12.000 Meter Flughöhe in die finstere Nacht gestarrt hatte. Ihr rotbraunes Haar hatte in der abgedunkelten Kabine fast ebenso schwarz gewirkt. Es glänzte und hatte einen blumigen Duft, den Udo ebenso mochte wie ihren sehr gepflegten Körper. Irina war 1,65 Meter groß, schlank und hatte dennoch frauliche Rundungen an den richtigen Stellen. Ihre Hautfarbe hatte einen leicht goldigen Schimmer; im Sonnenlicht konnte man ein paar dezente Sommersprossen rings um ihre schmale Nase herum wahrnehmen. Sie hatte ein hübsches mädchenhaftes Gesicht mit leicht hochstehenden Wangenknochen. Ihr wohlgeformter Mund war von weichen Lippen umschlossen und ihre braungrünen Augen konnten von jetzt auf gleich von extrem fröhlich auf tiefsinnig traurig wechseln. Am liebsten lief sie in Jeans mit Sneakers herum. Sie hatte eine Schwäche für hochwertige Pullis aus feinem Kaschmir, die sie vorzugsweise auf der nackten Haut trug. Im Herbst und Winter mit einer Bluse, die sie nicht in die Jeans stopfte, sondern unter dem Pulli herausragen ließ.

So hatte Udo Krüger sie an der Kasse der Klinikkantine kennengelernt. Sie hatte ihr Portemonnaie vergessen und der charmante Prof. hatte diese Gelegenheit wahrgenommen, die junge Frau gleich zu einem Essen einzuladen. Fortan trafen sie sich immer häufiger zu einem gemeinsamen Lunch im Haus.

Nach drei Wochen fragte er die junge Frau mit der Höflichkeit eines wohlerzogenen Kavaliers, ob er sie denn zu einem Dinner einladen dürfe. Irina sagte zu, weil sie diesen unterhaltsamen Mann interessant und angenehm fand. Außerdem könnte er ihr auf dem weiteren Weg ihrer jungen Karriere sicher auch nützlich sein. Persönliche Beziehungen schadeten bekanntlich nur denen, die sie nicht hatten.

Es kam, wie es kommen musste; nach dem fünften Rendezvous landete das Paar in einem Hotelbett. Ihr Verehrer musste sich schon einige Wochen in Geduld üben, bevor er sie in seine Arme nehmen durfte.

Irina fühlte sich wohl an der Seite dieses lebenserfahrenen Mannes, der mit seinen 62 Jahren allerdings auch ihr Vater hätte sein können. Sie hatte ohnehin eine Schwäche für jung gebliebene Männer im reifen Alter und empfand meistens schnell Langeweile im Kreise von gleichaltrigen Verehrern.

Udo war ein sehr attraktiver Mann, sensibel und charmant. Trotz seines Alters hatte er einen sportlich durchtrainierten Körper, den sie insbesondere in intimen Momenten zu genießen wusste. Und sie liebte seine verführerische Zärtlichkeit, die sie immer wieder auf einer Wolke der Erfüllung schweben ließ.

Dass Udo verheiratet war und mit seiner Frau Marianne und ihren beiden gemeinsamen Töchtern ein bürgerliches Leben mit vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen führte, störte sie wenig. Im Gegenteil. Die begrenzte Zeit ihres Liebhabers beanspruchte sie zeitlich nicht zu sehr und ließ ihr den Freiraum, der ihr schon immer wichtig war. Anders als die meisten Frauen in ihrem Alter hatte sie noch nie den Wunsch nach einem räumlichen Zusammenleben mit einem Lebenspartner verspürt.

Sie mochte zwar Kinder, konnte sich aber selbst als Mutter in dieser Lebensphase noch nicht so recht vorstellen. Für Irina standen ihr beruflicher Erfolg und ihre persönliche Eigenständigkeit ohne einschränkende Verpflichtungen an erster Stelle. In welcher Reihenfolge auch immer.

Die Kassemacher

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