Читать книгу DISRUPT-HER - Miki Agrawal - Страница 19
WANN WURDE AUS UNSEREM KINDLICHEN STAUNEN EIGENTLICH EIN ERWACHSENWERDEN?
ОглавлениеKINDLICHES STAUNEN:
Zustand von kindlicher Neugierde, Verspieltheit, Ehrfurcht sowie überbordernder Kreativität. Begeisterte Ausrufe wie Oooh! sind ein Zeichen dafür. Ebenso die Tatsache, dass jedes Spiel konstruktiv und bereichernd und frei von Selbstzweifeln ist. Alles ist im Fluss.
ERWACHSEN SEIN:
Seine Rechnungen bezahlen, sich an gesellschaftlich akzeptierten Vorgaben orientieren wie ein Eigenheim zu erwerben, für das man dreißig Jahre lang einen Kredit abstottert, bloß niemanden in der U-Bahn ansprechen. Darüber hinaus hat die Gesellschaft genaue Vorstellungen darüber, wie man auszusehen und sich zu verhalten hat. Aus diesem Grund sind Erwachsene viel verunsicherter, was einen authentischen Zustand des Im-Fluss-Seins verhindert.
„Okay, du schnappst dir Ganzy und ich nehme Skippy.“
Skippy, das Eichhörnchen, war mein Lieblingskuscheltier und Ganzy, der Bär, das von Radha.
„Skippy und Ganzy sind im Weltall und fliegen durch die Gegend. Und als sie eine Alienfrau sehen, fangen sie ein Gespräch an und werden beste Freunde. Die Alienfrau, die Ali heißt, lädt Skippy und Ganzy zu sich nach Hause ein und zeigt ihnen all das schleimige Zeug, das sie isst.“
Ich ratterte die Geschichte, die ich mir gerade ausgedacht hatte, herunter, ohne einmal Luft zu holen.
Radha nahm den Faden begeistert auf: „Ja genau – und dann nimmt uns Ali mit zu ihrer Familie und sie singen uns ein Lied vor. Das geht etwa so: Fejfepwomi’repibnevoimvolmrw“, begann sie lautstark zu singen.
Damit war die Geschichte keineswegs zu Ende. Sie ging immer weiter und weiter, wir zwei Fünfjährige spielten stundenlang mit nichts anderem außer den beiden Kuscheltieren, kicherten die ganze Zeit und hatten viel Spaß.
Dieses fantasievolle Wandern unserer Gedanken hat mit Sicherheit dazu beigetragen, unseren kreativen Geist nachhaltig zu wecken, und das Erlauben von kindlicher Verspieltheit entwickelte unseren kreativen Geist.
Erinnerst du dich daran, dass du als Kind nichts anderes machen wolltest als singen, Verstecken spielen, mit den Füßen im Schlamm wühlen, Sport treiben, malen oder basteln, kurz: Spaß haben?
Und erinnerst du dich daran, wie unwichtig es war, ob etwas cool oder gesellschaftlich akzeptiert war?
Natürlich nicht, denn als Kind weiß man gar nicht, was das bedeutet. Wir haben geweint, wenn wir hungrig waren oder uns verletzt hatten, aber es dauerte nie lange. Über alles, was wir lustig fanden, haben wir laut gelacht, und wir waren neugierig auf alles, was um uns herum passierte. Sogar die Gründe für Papas lange Nasenhaare haben uns beschäftigt. Außerdem glaubten wir zu diesem Zeitpunkt, dass die Welt uns ohne Einschränkung offenstand, dass wir alles schaffen und alles werden konnten. Und uns war nicht im Geringsten bewusst, dass es eine Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gab.
Bis wir ein paar Jahre später mit einem Mal ganz andere Dinge zu hören bekamen:
Du bist kein kleines Mädchen mehr. Hör auf, rumzuspielen.
Werde erwachsen.
Werde endlich ein bisschen ernsthafter.
Hör mit dem Starren auf.
Sprich nicht so laut. Setz dich hin und sei still.
Pssst!
All die unschuldigen Dinge, die für uns als Kinder selbstverständlich waren, galten schlagartig als unangemessen oder störend, und das verstärkte sich, je älter wir wurden.
VOM KINDLICHEN STAUNEN ZUM ERWACHSENWERDEN
UnschuldigUnangemessen
SpielerischStörend
SpaßSchlecht
Und damit fing die Konditionierung an – und das in vielen Bereichen …
„Hallo, Frau S!“
Radha und ich liebten es, unsere Freundin Vicky zu Hause zu besuchen, um in den Genuss des traditionellen griechischen Essens zu kommen, das ihre Mutter zubereitete, und um Super Mario zu spielen, was uns, gemäß den strengen indischen Benimmregeln, verboten war.
Nach dem Essen sagte Frau S. zu uns: „Mädels, ich denke, es ist an der Zeit, euch mit zu meiner Kosmetikerin zu nehmen, damit eure Oberlippen enthaart und eure Augenbrauen gezupft werden. Ihr seid jetzt fünfzehn Jahre alt und solltet langsam etwas damenhafter aussehen. Vicky geht schon seit einem Jahr zu ihr, nehmt euch ein Beispiel an ihr.“
Sie sagte das sehr liebevoll und wollte wirklich das Beste für uns. Radha und ich hatten seit Beginn der Pubertät definitiv Haare auf der Oberlippe, bloß war nicht ganz klar, wer von uns dort stärker behaart war, wir Halb-Inder oder unsere griechische Freundin. Unsere japanische Hälfte balancierte die Dinge zumindest ein bisschen aus.
Wie auch immer. Bis zu diesem Moment war uns gar nicht bewusst gewesen, dass das ein Problem sein könnte. Frau S. war die netteste Frau der Welt, dennoch konditionierte sie uns. Ihrer Meinung nach sollten wir so aussehen, wie es den gesellschaftlichen Standards entsprach, die sie selbst befolgte. Nicht zuletzt, weil sie zu wissen glaubte, dass sie einem potenziellen Partner am besten gefielen. So hatte sie es eben gelernt.
In diesem Moment hatten wir das Gefühl, dass wir so, wie wir waren, keinen Anklang fanden und über unser Aussehen nachdenken mussten. Was fast zwangsläufig zu Selbstzweifeln führte. Wir gewannen den Eindruck, mit unserer behaarten Oberlippe und unseren dichten Augenbrauen gesellschaftliche Außenseiter zu sein. So begann unsere Veränderung.
Als wir zu Jugendlichen heranwuchsen, verloren wir zunehmend unsere Verspieltheit, unser kindliches Staunen und unsere naive Neugier, und zwar je mehr gesellschaftlicher Druck auf uns ausgeübt wurde. Materielle Dinge und Produkte, die die Sichtweise auf unsere Körperlichkeit beeinflussten, wurden an uns herangetragen, parallel dazu wuchs das Interesse an Jungs. Für einen Schwarm habe ich mir tatsächlich die Beine rasiert. Zugleich begannen wir, den erhobenen Zeigefinger der Gesellschaft wahrzunehmen, der uns vor Augen führte, was wir durften und was nicht und wo die Grenzen lagen. Ein absolutes Tabu etwa war es, über die Periode und schleimige Ausflüsse zu sprechen. Stattdessen machten wir uns zu eigen, wie Frauen aus einer speziellen, recht einseitigen männlichen Sicht auszusehen hatten. Nämlich wie Sexualobjekte. Etwas anderes war unseren pubertierenden Verehrern nicht wichtig.
Und so setzte eine zerstörerische Verurteilung unserer selbst ein, die dann im Erwachsenenalter durch massiven gesellschaftlichen Druck und Manipulation erst richtig zum Tragen kam.
Mein Vater begann zu lachen. „Jetzt bist du ein Weihnachtskuchen!“
„Was meinst du damit, Papa?“
„Na ja, heute ist dein sechsundzwanzigster Geburtstag.“
„Und was hat das mit dem Weihnachtskuchen zu tun?“
„Na ja, am 26. Dezember sind Weihnachtskuchen alt, niemand will sie mehr haben.“
Er lachte noch lauter.
„Wir müssen eine Heiratsannonce in der Zeitung für dich aufgeben, mit dem Zusatz Green Card vorhanden, um mögliche Kandidaten anzulocken. Hahaha.“
Er konnte mit dem Lachen gar nicht mehr aufhören.
Obwohl es sicherlich als harmloser Witz gedacht war, wurden mir plötzlich mein Alter und das Fehlen eines Partners bewusst. In meinem Unterbewusstsein begann es zu rattern.
Okay, in jedem Alter werden wir von unserem Umfeld konditioniert, und man macht uns glauben, dass die Welt eben so und nicht anders funktioniert und wir diesem Muster folgen müssen. Als Erwachsene klingen unsere Wahrheiten wie folgt:
Du musst heiraten und Kinder bekommen, sonst wirst du eine alte Jungfer mit Katze. Und das willst du ja nicht, oder?
Du brauchst einen gut bezahlten, soliden Job mit guten Arbeitsbedingungen.
Werde bloß kein Künstler oder fang in der Kreativbranche an – was bedeutet das überhaupt? Kein Geld vermutlich. Ein richtiger Job ist es jedenfalls nicht.
Du musst ein Haus mit Garten kaufen und einen Baum pflanzen.
In der Phase des Erwachsenwerdens machen wir von heute auf morgen Dinge, die unsere Eltern bereits gemacht haben oder von denen wir glauben, dass wir sie tun sollten. Nach dem Motto: Als Erwachsener tut man das eben. Oder: Durch diese Dinge wirst du ein schönes, sicheres Leben haben.
Die Leute haben nicht mal unrecht. Schließlich hat das alles bei ihnen funktioniert, weshalb sie auch im Brustton der Überzeugung davon erzählen können, und dieser selbstbewusste Unterton gibt uns ebenfalls ein Gefühl der Sicherheit, oder?
Parallel dazu rücken das kindliche Staunen, die Verspieltheit und der Spaß, die einst im Mittelpunkt standen, immer mehr in den Hintergrund. Brichst du es bis ins Letzte herunter, geschieht der Wechsel vom kindlichen Staunen zum Erwachsenwerden in dem Moment, da wir anfangen, uns darüber Gedanken zu machen, was andere Leute und die Gesellschaft über uns denken und wie wir von ihnen beurteilt werden.
Robert Provine, den man den „lachenden Wissenschaftler“ nennt, fand beispielsweise heraus, dass Babys dreihundertmal am Tag lachen, Erwachsene dagegen im Durchschnitt lediglich zwanzigmal.1
Solange wir unseren Kurs nicht ändern und spielerischer an die Dinge herangehen, werden die Jahre unseres Erwachsenenlebens banal, vorhersehbar und, na ja, irgendwie unlustig vorbeigehen.
Erwachsen wird man nicht über Nacht. Es ist ein schleichender Tod durch tausend kleine Einschnitte. Diese Einschnitte können alles Mögliche sein: Jemand sagt uns, dass wir etwas nicht können oder sollen, weil es sich nicht gehört, weil es ein gesellschaftliches Tabu oder einfach falsch ist. Zentnerschwere Lasten werden auf uns abgeladen, angefangen mit den Problemen unserer Eltern, den Beurteilungen unserer Familie, den Dramen in der Nachbarschaft und bei Freunden, dem Druck in der Schule, den starren Vorgaben des Vorgesetzten, dem medialen Meinungsterror, dem gesellschaftlichen Status quo. Wir hören ständig Sätze wie: Werde erwachsen. Sei nicht so kindisch. Du machst dich lächerlich. Hör auf zu träumen. Werde endlich ernster. Sei realistisch.
Wenn so viel auf uns abgeladen wird, ist es schwer oder unmöglich, sich die kindliche Neugier und das Staunen zu erhalten.