Читать книгу Ich nannte ihn Krawatte - Milena Michiko Flasar - Страница 34
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ОглавлениеZuerst verstand ich ihn nicht. Ich verstand ihn genausowenig wie die Gedichte, die er schrieb. Ich las sie und verstand die Wörter, die sie formten. Ich verstand Hölle und Feuer und Eis. Aber den Abgrund, den sie bezeichneten, den zu verstehen hätte es einer Art zu lesen bedurft, die sich tief nach unten begab, und ich scheute davor zurück, wohl weil ich ahnte, dass ich ebendort war und es dennoch nicht wahrhaben wollte. Dabei. Wenn ich ihn damals verstanden hätte, es wäre vielleicht manches anders gekommen, doch wer weiß das schon? Wer weiß, wofür etwas gut, und ob es zählt, dass es gut ist? Soweit ich mich erinnere, ist gut keine Vokabel, die Kumamoto jemals gebrauchte.
Wir wurden trotzdem Freunde. Gute Freunde. Ich bewunderte seine Unbeirrbarkeit. Von ihm ging das Licht eines Menschen aus, der genau wusste, wohin er ging und dass es dort, wohin er ging, schrecklich einsam sein würde. Er hielt nichts von Meinungen. Er lachte mit denen, die über ihn lachten. Wie über seinen Vater sagte er dann: Sie haben ja Recht. Ich kann nur einfach nichts dafür. Er sagte es mit einem Zwinkern. Es war ein dahingezwinkerter Spruch.
Was er an mir bewunderte?
Ich weiß es nicht. Vielleicht, dass ich ihm ganz und gar anhing. Ich vertraute ihm und seiner Heiterkeit. Ich vertraute darauf, dass da jemand war, der immer jung bleiben würde, und der, wenn ich tot wäre, immer noch, mit schneeweißen Haaren, von dem perfekten Gedicht träumen würde.