Читать книгу The Vampire Cats - Mimi Tiger - Страница 12
Оглавление5. KAPITEL
„ACH DU HEILIGE…!“, spricht Felix seine Gedanken laut aus, als die beiden direkt vor der gigantischen Felsmasse stehen. „Wie um alles willst du da denn bitte hochkommen?!“
„Also eigentlich ist das ziemlich einfach…“, beginnt Nachtpfote vorsichtig.
„Das nennst du einfach…?!“, entgegnet der junge Kater völlig entgeistert.
„Schau her, ich zeig’s dir!“, erwidert sie fröhlich und nimmt ihm die Unsicherheit, indem sie ihm erklärt, was er machen soll. „Also, du stellst dich auf deine Hinterpfoten und setzt deine beiden Vorderpfoten zuerst auf diesen kleinen Felsvorsprung. Du musst dich gut festhalten, dann kannst du dich vorsichtig hochziehen. Warte dann auf mich, ja?“
Felix nickt und gehorcht ihr. Er holt etwas Schwung und stellt sich dann wie gefordert auf seine beiden Hinterpfoten, während er versucht, mit seinen Krallen irgendwie Halt auf dem in seinen Augen eher winzigen Felsvorsprung zu finden. Allerdings fühlt er in seinen Pfoten nicht einmal eine kleine Kuhle, wo er sich hätte hochziehen können.
„Nicht aufgeben, du hast es gleich!“, ermutigt ihn Nachtpfote.
Der junge Kater beißt seine Zähne zusammen. Er drückt sich mit seiner ganzen Sprungkraft vom Boden ab. Es gelingt ihm, sich auf den Felsvorsprung zu hieven und zieht sich rauf. Dann dreht er sich ein wenig um und lehnt sich gegen die Felswand, damit die nachtschwarze Kätzin genug Platz hat, um ebenfalls hochzukommen.
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragt Felix etwas hilflos nach unten.
„Warte, ich komme hoch! Dann führe ich dich zu einem kleinen Tunnel, der uns nach oben auf den Felsen führen wird!“, hört er es von unten antworten.
Der junge Kater hofft, dass sie neben ihm ausreichend Platz hat, als sich Nachtpfote auch schon direkt bei ihm befindet.
„Wow!“, staunt er fasziniert. „Das ging ja beeindruckend schnell!“
„Ach was, das ist alles nur eine Frage der Übung…“, meint die nachtschwarze Kätzin ausweichend und deutet nun mit ihren Ohren auf das seitliche Ende der Felswand. Ihre Pelze streifen sich. „Da, auf der anderen Seite der Felswand liegt ein kleiner Tunnel, von dem ich eben gesprochen habe. Um dorthin zu gelangen, musst du allerdings zweimal sehr weit und sehr genau springen…“
„Ähm…“, stammelt Felix unsicher, während er überlegt, wie er das bestmöglich fertigbringen soll.
Als hätte Nachtpfote seine Gedanken gelesen, erklärt sie entspannt: „Kein Grund zur Besorgnis. Ich werde zuerst springen, damit du weißt, was du zu tun hast. Wichtig ist, dass du auf keinen Fall nach dem ersten Sprung stehenbleibst, sonst wäre das Risiko ziemlich hoch, dass deine Sprungkraft bis zum zweiten Felsvorsprung nicht ausreicht. Pass auf, ich zeige es dir!“
Bevor der junge Kater ihr Fragen stellen kann, drückt sich die nachtschwarze Kätzin auch schon kraft- und schwungvoll von dem Felsvorsprung, auf dem die beiden Katzen stehen, ab und springt auf einen noch kleineren Vorsprung. Sobald ihre Pfoten den Fels berühren, springt sie sofort weiter und gleitet wie ein Vogel auf den nächsten Vorsteher des Felsens zu. Anschließend tappt sie tiefenentspannt um die Ecke des Felsens herum und verschwindet dahinter, während Felix ihr beeindruckt nachsieht.
„Du wirst es schaffen. Mach dir da mal keine Sorgen!“, ruft ihm Nachtpfote von der anderen Seite des Felsens ermutigend zu.
Na los! Sei kein Feigling!, denkt der junge Kater nervös. Ich will Ader und Ginsterpfote auf keinen Fall Recht geben! Dafür bin ich zu schlau. Außerdem möchte ich hier bleiben dürfen, was bedeutet, dass ich mich anstrengen muss.
„Felix? Wo bleibst du denn…?“, fragt Nachtpfote, weil er noch nicht bei ihr ist. „Ich warte hier auf dich.“
Felix sammelt sich, um sich zu konzentrieren. Er legt seine Energie in die Hinterpfoten, um sich gezielt abzudrücken. Der junge Kater visiert den kleinen Felsvorsprung an und gleitet mit einer überraschenden Leichtigkeit darauf zu.
Geschafft!, denkt Felix freudig. Doch aufgrund seiner Begeisterung vergisst er sofort, was Nachtpfote ihm geraten hat. Der junge Kater bleibt auf dem kleineren Vorsteher des Felsens stehen. Ihre Worte fallen ihm erst wieder ein, als die Unterseite des Felsvorsprungs, auf dem er sich befindet, zu bröckeln beginnt. Ein Stück Fels bricht unter seiner linken Vorderpfote weg und beinahe stürzt Felix mit dem Stück Fels nach unten. Erschrocken weicht er ein Stück nach hinten, doch seine rechte Hinterpfote ertastet nur Leere.
Was war das?, fragt sich Nachtpfote, die das Geräusch im selben Moment wahrgenommen hat. Hoffentlich ist er nicht auf dem kleineren Felsvorsprung stehengeblieben!
In Windeseile kehrt die nachtschwarze Kätzin um. Sie eilt auf die andere Seite des Felsens zurück, wo sie Felix vermutet. Augenblicklich befindet sie sich dort und erblickt den jungen Kater, der ängstlich nach unten sieht.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht stehenbleiben darfst!“, ruft Nachtpfote besorgt.
„Tut mir leid!“, erwidert Felix und sieht zu ihr auf. „Was soll ich denn jetzt machen?“
„Umkehren kannst du nicht, also wirst du springen müssen! Andererseits wirst du mit dem Felsstück nach unten stürzen! Das könnte dich zerquetschen!“, ruft sie ihm unruhig zu.
„Hast du nicht behauptet, dass meine Sprungweite dafür nicht ausreichen würde?“, meint der junge Kater verwirrt. „Wie soll ich also den nächsten Felsvorsprung erreichen?“
„Dir wird wohl kaum eine andere Option übrigbleiben…“, erwidert die nachtschwarze Kätzin nervös. „Hör zu, du musst-!“
Nachtpfote hält abrupt inne, als ein weiterer Teil des Felsvorsprungs abbröckelt und die Fläche, auf der Felix steht, nun noch dünner ist als zuvor.
„Beeil dich! Dir rennt wortwörtlich die Zeit davon!“, fährt Nachtpfote umso besorgter fort.
Der junge Kater weiß vor Schreck nicht, was er tun soll. Auf einmal hört er die leise Stimme einer Kätzin, die er weder kennt noch sehen kann.
„Hey, hab keine Angst. Dir wird nichts passieren. Auf mein Zeichen springst du, okay?“, miaut sie ihm leise zu. „Mach dich bereit!“
Felix ist total verblüfft, weil er nicht weiß, woher diese Stimme kommt, gehorcht ihr aber aus Angst, dass er mit der Felsmasse nach unten fallen könnte. Er sammelt seine Kraft und seinen Mut zusammen. Der junge Kater hat das merkwürdige Gefühl, dass er ihr blind vertrauen kann. Vorsichtig geht er in Position und spannt seine Muskeln an, denn der Sprung, den er vor sich hat, führt ein ordentliches Stück nach oben.
„Jetzt!“, haucht ihm die Stimme in seine Ohren.
Felix reagiert sofort und rückt sich kraftvoll ab. Seine Pfoten verlassen den kleinen Felsvorsprung. Kaum dass sie sich in der Luft befinden, bricht der Felsvorsprung ab und zersplittert in mehrere Stücke, sobald er auf dem Boden aufprallt. Der junge Kater gleitet zu seiner eigenen Überraschung problemlos auf Nachtpfote zu. Sie huscht schnell beiseite, als sie Felix auf sich zu gleiten sieht. Ohne Schwierigkeiten landet er ein paar Momente später vor ihr. Die beiden Katzen stehen nur ein kleines Stück voneinander getrennt voreinander.
„Wie bitte hast du das denn gemacht?! Es hat den Eindruck vermittelt, als hätte dir jemand gesagt, was du tun sollst…“ Jetzt ist es Nachtpfote, die Verwirrung zeigt.
„So komisch sich das auch anhören mag“, beginnt der junge Kater leise, „aber so ist es tatsächlich gewesen…“
„Soll das ein schlechter Witz sein?“, fragt die nachtschwarze Kätzin und zieht ungläubig eine Augenbraue hoch.
„Nein, ganz im Gegenteil. Ich würde dich nicht anlügen“, flüstert Felix und sieht ihr in die hellblauen Augen, damit sie erkennt, dass er die Wahrheit spricht.
„Das klingt sehr seltsam… Und woher hast du diese unglaubliche Sprungkraft genommen?“
„Das weiß ich selbst nicht. Es kam einfach über mich.“
Nachtpfotes Blick beruhigt sich wieder, als sie erkennt, dass der junge Kater ehrlich zu ihr ist.
„Zeigst du mir nun den Tunnel?“, wechselt Felix das Thema.
„Ja, natürlich. Entschuldige bitte“, antwortet die nachtschwarze Kätzin und ihre Blicke trennen sich. Sie vergrößert den Abstand zwischen sich und ihm. Der junge Kater schaut bereits suchend um sich, kann aber nichts entdecken, was auch nur ansatzweise einem Tunnel gleich kommen könnte.
„Komm! Hier beginnt der Tunnel!“, ruft ihm Nachtpfote zu, die schon etwas vorgegangen ist.
Vorsichtig, damit Felix nicht versehentlich abrutscht, läuft er zu ihr herüber. Als er kurz darauf neben ihr anhält, deutet die nachtschwarze Kätzin mit ihren Ohren auf die Felsmasse vor sich.
„Hö…? Hier ist doch aber gar nichts…“, murmelt der junge Kater verwundert.
Nachtpfote schmunzelt leise und erwidert dann: „Es wirkt nur so, als wäre hier nichts. Deswegen wissen nur einige von diesem verborgenen Tunnel. Ich war hier vor ein paar Tagen unterwegs und habe diesen Tunnel nur zufällig entdeckt, als ich an der Felswand entlanggeklettert bin. Ich bin gedankenverloren einen Schritt nach vorn getreten. Natürlich habe ich mich gefragt, weshalb ich mir den Kopf nicht gestoßen habe. So habe ich diesen Tunnel gefunden…“
Felix‘ Augen verharren noch immer auf der Felswand vor ihm. Er kann sich nur schlecht vorstellen, dass vor ihm ein Tunneleingang liegen soll. Unsicher streckt der junge Kater seine Nase nach vorn und stellt überrascht fest, dass sich vor ihm tatsächlich nur ein leerer Raum befindet. Neugierig geht er ein paar Schritte nach vorn.
„Hoffentlich kannst du ihm Dunkeln sehr gut sehen! Da drinnen ist es stockfinster!“, bemerkt die nachtschwarze Kätzin warnend. „Und das war keine Übertreibung!“
„Mach dir keine Sorgen“, meint Felix zuversichtlich und weiß nicht, dass er die Situation doch etwas unterschätzt hat.
„Auf geht’s!“, miaut Nachtpfote begeistert und begibt sich in den tief dunklen Tunnel.
Erst zögert der junge Kater noch, geht dann aber doch hinein. Sobald er sich komplett innerhalb des Tunnels befindet, wird das Licht fast vollständig von der Finsternis verschluckt. Diese ungewohnte, nahezu absolute Dunkelheit blendet ihn stark. Er braucht eine Weile, um sich daran zu gewöhnen und bleibt solange stehen. Die dunkle Atmosphäre dringt bis zu seinen Knochen durch. Während Nachtpfote lautlos ein kleines Stück weiter geht, gewöhnen sich Felix‘ Augen an diese extreme Dunkelheit. Er will sich gerade wieder in Bewegung setzen, doch irgendetwas hindert ihn daran. Felix kann sich nicht mal eine Schnurrhaareslänge bewegen. Es kommt ihm so vor, als wären seine Pfoten am Boden festgewachsen!
Plötzlich bekommt der junge Kater das Gefühl, als würden seine Pfoten, ja sogar sein gesamter Körper anfangen zu schmelzen. Er sieht nach unten. Entsetzt muss er feststellen, dass er sich das nicht nur einbildet. Angefangen bei seinen Pfoten beginnt sein Körper zu schmelzen und sickert in den Felsboden hinein. Voller Angst reißt Felix seine Augen ganz weit auf. Er versucht zu schreien, aber nicht der feinste Ton entweicht seiner Kehle. Aus dem heiteren Nichts kriegt der junge Kater keine Luft mehr. Er spürt, wie sich seine Lungen immer enger zusammenziehen und nach frischem Sauerstoff brüllen.
„Was verdammt ist das?! Es soll auf der Stelle aufhören!“, schreit Felix, ohne dass etwas zu hören ist. „Ich brauche Hilfe, bitte!! Ich bekomme keine Luft!! Was passiert hier gerade mit mir?! Hilfe!!!“
Als hätte sie seine verzweifelten Hilferufe gehört, nimmt der junge Kater auf einmal wieder die Stimme der Kätzin wahr, die ihm eben schon geholfen hat, der Gefahr an der Felswand zu entkommen. Leise und entspannt spricht sie ihm folgende Worte zu: „Fürchte dich nicht, es besteht kein Grund dazu.“
„Bitte, hilf mir…!“, wimmert Felix mit brechender Stimme. „Ich kann… nicht mehr…atmen…!“
Seine Stimme bricht ab, doch er kann die Kätzin weiterhin hören, obwohl er sie nicht sehen kann.
„Vertrau mir. Du kannst atmen, du bildest dir das nur ein. Es ist nicht real. Du siehst mich zwar nicht, zumindest noch nicht, aber ich möchte dir helfen. Darauf kannst du dich verlassen“, flüstert sie zu ihm, während der junge Kater zusammenbricht und auf seiner linken Flanke landet. „Du musst weiter atmen! Hör auf meine Stimme! Du kannst einwandfrei Luft holen. Atme, junger Kater, Atme!“
Felix droht, bewusstlos zu werden, aber konzentriert sich auf ihre Stimme. Er lenkt seinen Fokus vollständig auf sie. Der junge Kater blendet alles andere aus und versucht, Luft in seine Lungen einzuhauchen. Sein Kopf schreckt hoch, als er endlich wieder Sauerstoff bekommt. Keuchend nimmt er mehrere Atemzüge Luft. Das Gefühl, nicht mehr ersticken zu müssen, ist unglaublich befreiend. Er sieht um sich. Sein Körper liegt auf dem Felsboden des Tunnels, ohne dass er schmilzt. Er hat sich das alles nur eingebildet, so wie die Stimme es ihm erzählt hat. Verwirrt steht Felix langsam und verunsichert wieder auf. Inzwischen ist seine Atmung wieder normal und gleichmäßig.
„Was zur Hölle war das eben?! Was ist mit mir passiert?!“, ruft der junge Kater entgeistert. „Wie konntest du dafür sorgen, dass es plötzlich aufhört?“
„Es ist alles wieder gut. Das, was du gerade für die Wirklichkeit gehalten hast, war lediglich eine Illusion. Ich habe die Zeit verlangsamt, damit ich dir zu Hilfe eilen konnte. Du musst wirklich keine Angst mehr haben“, antwortet die Stimme mit einer beruhigenden Wirkung auf ihn.
„Das… war nur eine Illusion…?“, fragt Felix verwirrt und schaut um sich, in der Hoffnung eine Gestalt der Kätzin zu erkennen. „Wie ist das möglich gewesen…?“
„Einst lebten hier Katzen mit einzigartigen Fähigkeiten. Sie erschufen diese Illusionen, um Eindringlinge aus dem Lager fernzuhalten, weil es noch einen weiteren Eingang zu diesem Tunnel gibt. Diese Katzen haben ebenfalls dafür gesorgt, dass sämtliche Ein- und Ausgänge innerhalb dieses Lagers verborgen bleiben“, erklärt sie ihm geduldig. „Diese Illusion, die dich gerade in ihren Bann gezogen hat, hat sich aktiviert, weil sie dich für eine Bedrohung gehalten hat.“
„Aber das bin ich doch nicht! Sie haben mir erlaubt, bei ihnen bleiben zu dürfen, damit ich eine Chance habe, mich ihnen zu beweisen. Wieso hat sich diese Illusion dann trotzdem aktiviert?“
„Es ist mir leider nicht gestattet, mit dir darüber zu reden. Eins kann ich dir jedoch verraten. Dieser Wald verbirgt mehr Geheimnisse, als du auch nur erahnen kannst. Höre mir gut zu, denn das, was ich dir jetzt sage, ist sehr wichtig für dich.“
Sofort spitzt Felix seine Ohren, um jedes Wort von ihr zu erhaschen, denn ihre Stimme wird langsam etwas leiser.
„Damit du dich in diesem Tunnel nicht verletzen wirst, gebe ich dir die Fähigkeit, im Dunkeln sehen zu können. Zum Glück sind Illusionen der Verborgenheit nicht gefährlich und die Illusion von gerade eben, die einem das Gefühl vermittelt, dass man stirbt, ist die einzige ihrer Art, die überhaupt existiert“, fährt die angenehme Stimme der Kätzin fort, die er nicht sehen kann. „Ich verlange im Gegenzug von dir nur eine einzige Sache. Verrate es niemandem.“
Fragen über Fragen häufen sich im Kopf des jungen Katers auf und er erwidert darauf nur: „Gar keinem…?“
„Du darfst es absolut niemandem erzählen“, antwortet die Stimme streng. „Ohne Ausnahme. Ich möchte nicht, dass du meinetwegen in Gefahr oder Schwierigkeiten gerätst. Wenn du es jemandem erzählen solltest, könnte das möglicherweise ein anderer ausnutzen. Und noch etwas. Beeil dich besser, wenn du zu Nachtpfote gehst, sonst fällt ihr noch auf, dass etwas nicht stimmt. Ich kann die Zeit nicht mehr länger aufhalten.“
Nachdem sie diese Worte ausgesprochen hat, verschwindet ihre Stimme auch sofort wieder, doch ihre Warnung hallt in Felix‘ Kopf nach.
Wie seltsam…, denkt er sich. Anscheinend kann nur ich sie hören, wer auch immer sie sein mag. Ach Mist! Ich habe völlig vergessen, mich für ihre Hilfe zu bedanken! Und dass obwohl sie mir schon zweimal den Arsch gerettet hat…
Nach dem nächsten Blinzeln durchflutet Tageslicht den unheimlichen Tunnel. Der junge Kater muss ein paar Mal blinzeln, bis sich seine Pupillen an das helle Licht anpassen. Er hat sich so auf diese fast völlige Finsternis fokussiert, dass es ihm jetzt ungewohnt vorkommt, plötzlich wieder sehen zu können. Vor ihm liegt ein langer Gang, der langsam, aber stetig nach oben führt. Froh, seinem Unheil entkommen zu sein, setzt Felix seinen Weg fort und huscht zu Nachtpfote, damit sie möglichst keinen Verdacht schöpft. Tatsächlich ist sie keine zehn Pfotenschritte von ihm entfernt.
„Tatsächlich! Sie hat die Zeit angehalten!“, haucht der junge Kater ganz leise.
„Hast du etwas gesagt?“, fragt Nachtpfote unangekündigt, weil sie glaubt, ihn sprechen gehört zu haben.
„Nein, nichts dergleichen“, antwortet Felix mit normaler Stimme, damit ihr nichts auffällt.
„Gut, dann lass uns weiter gehen. Ich kann es kaum erwarten, dir alles zu zeigen, wenn wir erst einmal oben sind!“, miaut die nachtschwarze Kätzin aufgeregt und geht etwas schneller.
Anscheinend hat sie nichts bemerkt, denkt der junge Kater erleichtert. Gerade will er sie vor einigen Felssteinen warnen, die nur ein kleines Stück vor ihr liegen, weil ihr Blick nach oben gerichtet ist, doch er hält sich absichtlich zurück. Sie darf nicht wissen, dass ich einwandfrei sehen kann. Tut mir leid, Nachtpfote, aber das wird gleich etwas wehtun…
Einige Augenblicke später hört er sie bereits laut schimpfen: „Aua, dämliches Geröll! Pass du lieber auf, dass du nicht auch stolperst.“
„Danke für die Vorwarnung!“, sagt Felix zu ihr und umrundet die Felssteine.
Immer weiter führt der Tunnel die beiden Katzen nach oben. Als sie ihr Ziel fast erreicht haben, rutscht Nachpfote plötzlich auf einem glatten Stein aus und fällt nach vorn. Weil der Felsboden hier etwas steiler ist, gleitet die nachtschwarze Kätzin, nun schreiend, auf ihrem Bauch herunter, direkt auf Felix zu. Dieser sieht sie auf sich zukommen. Aus seinem Instinkt heraus krallt sich der junge Kater so gut wie es geht auf dem Felsboden fest und packt Nachtpfote an ihrem Genick, als sie an ihm vorbeizurutschen droht. Mit überraschender, eigener Kraft hebt er sie hoch und stellt sie wieder auf ihre Pfoten. Dann lässt er ihr Genick wieder los, doch der warme Duft aus ihrem Fell von Blattsaft, der im Sonnenlicht langsam verdunstet, bleibt in seiner Nase zurück.
„Danke“, maunzt die nachtschwarze Kätzin ein wenig kleinlaut.
„Kein Problem. Aber nur weil ich vorsichtig sein und aufpassen soll, heißt das nicht, dass das nicht auch für dich gilt“, erwidert Felix neckend.
„Haha, wirklich witzig“, meint Nachtpfote mit vorgetäuschtem Schmollmund. „Außerdem weiß ich das sehr wohl, du vorlautes Fellknäuel!“
Anschließend müssen beide leise lachen. Gemeinsam laufen sie das letzte Stück bis zum Tunnelausgang nebeneinander. Ihre Pelze streifen einander hin und wieder. Endlich sehen die beiden die ersten Lichtstrahlen und erreichen kurz darauf das Ende des Tunnels.
„War das Sonnenlicht schon immer so hell?“, beschwert sich Nachtpfote, als sie aus dem Tunnel heraustreten und ihre Augen sich erst wieder an das helle Licht gewöhnen müssen. Felix muss daraufhin leise schmunzeln.
„Wie kommt es eigentlich, dass du innerhalb des Tunnels so gut sehen konntest? Verrätst du mir dein Geheimnis?“, fragt er neugierig.
„Ach so, das… Das liegt daran, dass ich sehr oft geübt habe, damit sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen“, meint die nachtschwarze Kätzin und weicht seinem Blick erneut aus. „Aber komm und sieh dir das an! Lass mich dir alles zeigen und erklären!“
Der junge Kater weiß genau, dass sie ihn eben wieder angeflunkert hat. Aber er nimmt es sich nicht zu Herzen. Das alles wird sicher seine Gründe haben. Deshalb lässt sich Felix von Nachtpfote zu der Felskante führen, die zum Lager zeigt. Entspannt setzen sich die beiden Katzen nebeneinander kurz vor dem Rand des riesigen Felsens hin.
„Alles innerhalb der vielen, dichten Dornenbüsche und -sträucher gehört zu unserem Lager“, beginnt Nachtpfote mit entspannender und fröhlicher Stimme. „Der kleine Fels, der von hier zwar nicht ganz so gut zu erkennen ist, ist für uns alle etwas sehr Heiliges…“
„Darf ich dessen Bedeutung erfahren?“, fragt Felix vorsichtig.
„Dadurch dass du hier vermutlich eh bald aufgenommen wirst, sollte das nicht allzu dramatisch sein…“, murmelt die nachtschwarze Kätzin mehr zu sich selbst, bevor sie wieder etwas lauter spricht. „Ich werde dir sehr gerne davon erzählen. Also… Du hast es vielleicht vorhin schon gesehen, aber in den Wänden des Felsens wurden viele kleine Kratzer hineingeritzt. Jeder Kratzer steht für einen Krieger, einen Schüler, ein Junges, einen Anführer oder einen Heiler, die in den vergangenen Schlachten oder durch Krankheiten gefallen sind. Sie dienen dazu, uns an ihre Taten, ihren Mut und ihre Opfer zu erinnern, damit wir sie niemals vergessen.“
Der junge Kater hört ihr interessiert und aufmerksam zu.
„Einmal innerhalb eines Mondes versammeln wir uns um Mitternacht um diesen Felsen herum, um uns für ihre Loyalität und ihren Kampfgeist zu bedanken. Vor einer ewig langen Zeit wurde daraus eine Art Ritual entwickelt. Es besagt, bis zum nächsten Tag zu schweigen, um unsere gefallenen Gefährten nicht zu verärgern und damit sie weiterhin in Frieden ruhen können. Auch nach ihrem Tod verdienen sie noch immer unseren Respekt und Dank. Für dich ist das Ganze wohl nicht so einfach vorzustellen, oder?“
„Nein, ganz im Gegenteil“, entgegnet Felix sanft. „Ich kann es mir sehr gut vorstellen, weil ich mich auch oft bei meiner Familie bedanke. Sie haben mir immer so viel Zuneigung und Liebe geschenkt. Ich habe sie seit drei Monden nicht mehr gesehen… Ich gehe davon aus, dass sie von einem Menschen ermordet wurden… Wenn ich sie doch nur in meinen Träumen sehen könnte…“
Seine Stimme wird etwas leiser und eine tiefe Traurigkeit spricht aus seiner Seele.
„Es tut mir so unglaublich leid, dass du das erleben musstest…“, flüstert Nachtpfote voller Mitgefühl, als hätte sie ebenfalls einen großen Verlust erlitten und legt tröstend ihren flauschigen Schwanz von hinten um seinen Körper. Dann versucht sie ihn mit einem anderen Thema abzulenken. „Schau. Dort drüben, wo wir uns vorhin versammelt haben, besprechen wir immer unsere Aufgaben und Pflichten, die uns Reißzahn aufgibt oder über wichtige und kürzlich geschehene Ereignisse. Außerdem werden bei solchen Versammlungen auch über neue Kampftechniken diskutiert und Zeremonien, wie beispielsweise zum Schüler, Krieger oder Heiler, durchgeführt. Wobei die Zeremonien zu einer Heilerkatze eher selten sind…“
„Warum das denn?“, wundert sich der junge Kater und vergisst seine Traurigkeit wieder.
„Nur sehr wenige von uns sind dazu fähig, Nachrichten oder Prophezeiungen von der Natur zu empfangen“, erklärt die nachtschwarze Kätzin und bemerkt erst danach, dass sie bereits zu viel gesagt hat.
„Klingt überhaupt nicht unheimlich oder so…“, murmelt Felix. „Dennoch finde ich es äußerst beeindruckend und interessant. Aber würdest du mir erklären, weshalb einige von euch so etwas können…?“
„Die Baue, die du dort unten sehen kannst, sind unsere Schlafhöhlen. Allerdings bin ich mir sicher, dass du das schon mitbekommen hast!“, meint Nachtpfote schmunzelnd und ignoriert seine Frage. „So! Jetzt weißt du alles über unser Lager, da du den Heilerbau inmitten des Felsens schon gesehen hast.
Lass uns nun auf die gegenüber liegende Felskante gehen! Dann kann ich dir unser gesamtes Territorium zeigen!“