Читать книгу Sektion 3|Hanseapolis / Sektion 3|Hanseapolis - Schattenspiele - Miriam Pharo - Страница 15
9
Оглавление„Schauen wir doch mal, was wir da haben.“ Angespannt beäugte Elias seinen Screen und überflog, was die Sektion zu den Pharmadiebstählen zusammengetragen hatte:
„In der Nacht vom 5. auf den 6. Januar 2064 traten die unbekannten Täter zum ersten Mal in Aktion. Sie brachen im Tempel der Heiligen Frische ein, einem Sanatorium für über Hundertjährige zwischen Feenteich und Mühlenkamp-Tower, und entwendeten 3.550 Liter Universalblut. Die rosa bekittelten Erlöser – ausgebildete Fachkräfte zur Beseitigung von Alterungsmerkmalen – wurden mit Hand- und Fußfixierungen in hautstraffenden Photon-Kapseln eingesperrt aufgefunden. Die Opfer überlebten unverletzt, da die Kapseln glücklicherweise nicht aktiviert worden waren. Der Schaden wird auf eine Viertel Million Eurodollar geschätzt. Von den Verbrechern fehlt bislang jede Spur.“ Nur zwei Monate später schlug die Bande erneut zu und räumte ein unterirdisches Medikamentenlager im Nördlichen Distrikt aus. Der Schaden belief sich auf über 750.000 Eurodollar. Auch diesmal hinterließen die Täter keine Spur. Laut Polizeibericht ging es im Zwei-Monats-Rhythmus so weiter, wobei die Diebe immer dreister vorgingen. Irgendwann begannen sie, Frachter zu überfallen, danach verschwanden ganze Container vom Zollhafen des Transkontinental-Airport. Inzwischen kamen die Lieferungen bereits unvollständig in Hanseapolis an. „Die unbekannten Täter scheinen perfekt organisiert zu sein, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen“, las Elias weiter. „Der Gesamtschaden beläuft sich mittlerweile auf einen zweistelligen Millionenbetrag.“ Das hatte schließlich die Pharmalobby auf den Plan gerufen, die ihren Druck auf Senat und Polizeipräfektur massiv verstärkte. Mit der Begründung, die unsachgemäße Verbreitung von Medikamenten sei gefährlich für Leib und Seele der Bevölkerung, war der Case schon vor Wochen als Kapitalverbrechen eingestuft und an das Morddezernat übergeben worden. Elias schnaubte bei dem Gedanken, denn er wusste es besser: Die Hanseapolen waren ausgesprochene Neurotiker und das Geschäft mit den Medikamenten blühte. Durch die Diebstähle gingen der Stadt schlichtweg Einnahmen in Millionenhöhe verloren.
Seit Elias’ Gespräch mit Sternheim waren bereits zwei Wochen vergangen. Bisher hatte er seinen Boss hinhalten können, doch langsam wurde der ungeduldig. Auch in der Sahil-Sache war er kein bisschen weitergekommen und Nes hatte sich bisher nicht gerührt. Verstimmt trommelte Elias mit den Fingern auf die Konsole. Er musste Sternheim irgendeinen Brocken hinwerfen und hoffen, dass er ihn schluckte. Sonst hat er mich schneller am Sack, als ich „Moin!“ sagen kann.
Die Männer und Frauen warteten schon seit Stunden. Der Treffpunkt war am Vortag über GCS verbreitet worden, auf gigantischen Screens, die zwischen den dunklen Towern gespannt waren – für die Bewohner der Null-Ebene, die sich keine eigene Communication Sphere leisten konnten, buchstäblich ein Geschenk des Himmels. Die verschlüsselte Botschaft war in einem halbstündlich wiederkehrenden Werbebanner erschienen. Dekodiert lautete sie: Erntezeit Dienstag, zwischen 20 Uhr und Mitternacht, Schienenabschnitt 35/E auf der stillgelegten Trasse der U1, zwischen Straßburger Straße und Wandsbek Markt.
Die Menschen verharrten lautlos. Nur ein verwaistes Räuspern verriet, dass ein fünfzigköpfiges Schattenwesen im Halbdunkel lauerte. Der schwache Verwesungsgeruch aus dem nahe gelegenen Mausoleum, der durch den Lüftungsfilter hinüberwehte, vermochte nicht den Gestank zu übertünchen, den die ungewaschenen Körper ausströmten. Badewasser war hier unten ein seltenes Gut. Waren sie bis jetzt still gewesen, so wurden sie geradezu unsichtbar, als der Tunnel plötzlich ein leises Zischen vorausschickte. Wäre nicht der stechende Geruch gewesen, man hätte die Menschen nicht bemerkt. Der aber war es, der den drei vermummten Gestalten, die sich auf einem Sleeder blitzschnell näherten, klar machte, dass ihre Botschaft verstanden worden war.
Als die Menschen erkannten, wer die Besucher waren, kam Bewegung in die Gruppe. Ohne zu murren stellten sie sich in Zweierreihen auf und starrten dem Fahrzeug mit erwartungsvollem Blick entgegen. Der Sleeder blieb direkt auf ihrer Höhe stehen. Einige Sekunden vergingen, dann erklang das leise Knacken der Leuchtstäbe. Menschen und Schlitten wurden in grelles, blaues Licht getaucht. Einer der Vermummten meldete sich zu Wort:
„Ok, Leute. Heute haben wir Vitamin-D-Injektionen an Bord, außerdem noch Wasserreinigungsmodule, Antibiotika, Desinfektionsbots, Herzimpulsatoren, Malaria-Antigene … Wir haben nur fünfzehn Minuten, um alles zu verteilen. Bleibt ruhig, dann bekommt ihr alle was. Sonst sind wir schneller weg, als wir hier waren!“
Während die vermummten Gestalten in fast gespenstischer Stille die heiß ersehnte Ware vom Schlitten hinunterreichte, vernahm eine von ihnen ein unangenehmes Summen im Ohr. Irritiert schüttelte die Gestalt den Kopf, dann wandte sie sich an ihren Nebenmann. „Du, hör mal, ich glaub’, jemand versucht mich zu erreichen.
Ich muss weiter nach vorne, ich bekomm hier keinen guten Empfang. Bin gleich wieder da!“
Der andere signalisierte durch kurzes Nicken, dass er verstanden hatte.
Nach ein paar Schritten begann die Gestalt zu flüstern. „Ja? … Ach, Sie sind es … Wir sollen was?! Aber wir sind gerade dabei, die Medis zu verteilen … Ja, in Ordnung … Geben Sie uns zehn Minuten … Ja, ich hab verstanden, wir beseitigen alle Spuren, abgesehen von ein paar heruntergefallenen Injektionen … Was immer Sie wünschen … Keine Sorge, mit dem Skin-Coating sind wir wie immer DNA-rückstandsfrei. Alles klar. Ich sag den anderen Bescheid. Die Location hier ist ab sofort gestorben. Bis dann!“
„Bis dann.“ Seufzend unterbrach Elias die Kommunikation und stierte auf die Onyx-Schlange auf seinem Arm, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Er steckte wahrlich in der Klemme. Die Sache mit den Pharmazeutika war nicht die erste Aktion dieser Art. Heute waren es Medikamente, vor ein paar Jahren waren es Atemmasken gewesen und einmal sogar sauberes Wasser. Er tat es nicht aus Selbstlosigkeit, sondern um ruhiger schlafen zu können. Während er sich zweimal in der Woche Naturfleisch schmecken ließ, wurden nur ein paar hundert Meter unter ihm die Menschen in den Armenküchen mit synthetischem Dreck abgespeist, hauptsächlich Appetitzügler und Dickmacher. Vitaminmangelerscheinung war auf der Null-Ebene eine Volkskrankheit; angeblich hatte es sogar vereinzelt Fälle von Kannibalismus gegeben. Bei dem Gedanken war ihm mehr als einmal das sündhaft teure Filet Mignon im Hals stecken geblieben. Gesundheit war in der Europäischen Föderation ein Privileg, was keine wirkliche Überraschung war, zumal sich diese Entwicklung bereits vor der Großen Flut abgezeichnet hatte. Elias brachte lediglich die Stadt dazu, einige ihrer Versäumnisse nachzuholen.
Seine „Mitarbeiter“ waren allerdings nicht ganz so edelmütig, und es kostete ihn eine Stange Geld, sie von der Richtigkeit ihres Tuns zu überzeugen. Ein Segen, dass ihm sein Erzeuger nach einem Shuttleabsturz ein Vermögen hinterlassen hatte!
Eine kleine Wiedergutmachung für mein gutes Aussehen.
Schwerfällig stand Elias vom antiken Sofa auf, um sein wöchentliches Kendo-Training zu absolvieren, als eine Meldung über GCS seine Aufmerksamkeit erregte.
„Die Skandale um Mari Kirsipuu, die Vorsitzende des Europäischen Verwaltungsrats, reißen nicht ab. Nachdem ihr verstorbener Mitarbeiter Dion Davos des tausendfachen Mordes und der Korruption überfuhrt wurde, ist offenbar ein weiterer Angehöriger aus ihrem Stab in kriminelle Machenschaften verwickelt. Wie aus hohen Militärkreisen verlautet, hat Mauve Lupio, Dritte Vorsitzende, während des Transkontinentalen Krieges geheime Regierungspläne der Europäischen Föderation an den Feind verkauft. In einem Interview, das wir vor fünf Minuten aufgezeichnet haben, beteuert Lupio zwar vehement ihre Unschuld, doch der politische Schaden ist bereits angerichtet. Die Rücktrittsforderungen an Mari Kirsipuu werden zunehmend lauter. Ich bin gespannt, wie lange die Erste Vorsitzende dem Druck standhalten wird. Im Falle eines Rücktritts würde Sir Brandy Piper die Nachfolge antreten. So weit wir wissen …“
Elias hörte nicht mehr zu. Sir Brandy Piper? Hatte der Name nicht auf der Gästeliste dieses reichen Politikers gestanden – Paul van Laak –, den Louann und er wegen eines gestohlenen White Hunter Messers aufgesucht hatten? Elias, der den Verdacht nicht ganz losgeworden war, dass man Davos in die Pfanne gehauen hatte, kam ins Grübeln. Was wäre, wenn der Diebstahl des White Hunter nur inszeniert worden war, um Davos zu belasten? Aber zu welchem Zweck? Sicher, ein solcher Skandal konnte Mari Kirsipuu zum Rücktritt zwingen. Van Laaks Kumpel Sir Piper, in der Rangliste des Verwaltungsrats am Nächsten dran, würde nachrücken … Aber wie hing Sahil da mit drin und was hatte er mit dem toten Mädchen im Sumpf zu tun? Nachdenklich starrte Elias ins Leere. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und einem Impuls folgend sprach er laut: „Menüsuche. Sir Brandy Piper plus Asimov. Dreifach-Vergrößerung. Neunzig Prozent Opacy.“ Fast zeitgleich prangte auf dem riesigen GCS-Screen in überdimensionalen Lettern: Not found. Elias fluchte laut. Das wäre auch zu einfach gewesen!
8.900 Kilometer entfernt reagierte man ebenso verstimmt auf die rot leuchtende Negativmeldung. Wenn auch aus einem anderen Grund.
„Paul, wir haben ein ernstes Problem! Kosloff rückt uns zu sehr auf die Pelle. Kümmern Sie sich darum. Und zwar schleunigst!“
Matthias Hoven wartete die Antwort nicht mehr ab. Übellaunig wischte er den erstbesten Gegenstand vom weißen Sekretär und donnerte ihn gegen die imposante Panoramafront. Mit einem lauten, aber harmlosen Plumpsen fiel die goldene Statuette zu Boden: ein Drache mit senkrechtem Kamm auf dem Rücken und scharfen Krallen. Nun lag er im weißen Dickicht des Kunstflaums, der den Raum aus Stahl und Glas bedeckte, alle Viere in der Luft. Natürlich waren die fünf Zentimeter dicken Thermotrop-Fenster mit Meerblick bruchfest, was Hoven dazu anregte, sich einen weiteren
Gegenstand zu greifen, diesmal einen Delfin aus glänzendem Opal, und dem ersten mit wilden Flüchen folgen zu lassen. Sein faltiges Gesicht war purpurrot angelaufen. Hätte Sahil jetzt neben ihm gestanden, er hätte ihn mit bloßen Fäusten totgeprügelt!
Sicher, den Mord an der Nutte abartig aussehen zu lassen und auf Davos zu schieben, war ein cleverer Schachzug gewesen. Die Korruptionssache hätte nicht ausgereicht, um diesen perversen Sack so schnell zu Fall zu bringen. Doch warum hatte Sahil darauf bestanden, einen sturen Hund wie Kosloff auf den Fall anzusetzen? Sein Kalkül, eine neue Partnerin würde den bärbeißigen Cop so sehr aus dem Konzept bringen, dass er es vermasseln würde, war nicht aufgegangen. Und dann der Schuss auf Marino … Jetzt ist Kosloff erst recht angefixt! Er selbst hatte wegen Sahil immer wieder Bedenken geäußert, doch die anderen hatten es als Trumpf angesehen, den Sektionschef des Morddezernats auf ihre Seite zu ziehen. Sei’s drum, dachte Matthias Hoven und ballte die Fäuste. Sahils Tage waren ohnehin gezählt.
Lange stierte er aus dem Fenster, bevor er Drache und Delfin aufhob und nun behutsam auf den Schreibtisch zurückstellte. Dann tasteten seine Fingerspitzen über das weiße Ulmenholz, bis sie eine bestimmte Stelle fanden. Ein kurzes Doppeltippen bewirkte, dass das prächtige Panorama vor ihm aufflackerte. Da, wo noch vor einer Sekunde der wolkenlose Himmel den tiefblauen Pazifik geküsst hatte, herrschte nun traurige Leere.
„Bild und Ton!“, befahl der hagere alte Mann mit rauer Stimme und fixierte den gigantischen Screen, der sich mit Leben füllte: Die Gefangene hockte mit entrücktem Blick und strähnigen grauen Haaren auf ihrem Bett. Ihr ausgemergelter Körper steckte in einem viel zu weiten Overall. Ihre Hände zitterten. Die spärliche, wenn auch exquisite Einrichtung samt Perserteppich und sie selbst waren in helles Licht gebadet. Hinter den Wänden aus transparentem Leichtbeton herrschte hingegen vollkommene Finsternis. Leise Klavierklänge schwebten durch den Raum. Das rote Licht am Eingang zeigte an, dass das Kraftfeld vor der Zelle aktiviert war.
In den ersten fünf Jahren ihrer Gefangenschaft hatte die Frau vierzehn Ausbruchversuche unternommen. Zu Beginn war ihr Kampfwille stark gewesen, doch irgendwann hatte sie aufgegeben. Vor zwanzig Jahren hatte sie aufgehört zu essen. Sie hatte sterben wollen, doch man hatte sie nicht gelassen. Seitdem wurde sie künstlich ernährt. Die meiste Zeit befand sich die Gefangene in einem Zustand der Schockstarre; diverse Pharmaka hatten dafür gesorgt, dass ihr einst so genial funktionierendes Gehirn nur noch Mus war.
Ein schwaches Surren riss Hoven aus seiner Betrachtung; jemand näherte sich dem Studierzimmer. Die 3-D-Signatur oben links auf dem Screen zeigte an, dass es seine Tochter war. Der alte Mann drehte sich zum Schreibtisch. Eine schnelle Handbewegung: Im Nu waren Himmel und Wasser wieder da.
Keine Sekunde zu früh, denn schon betrat eine Frau den Raum, die der Gefangenen in der Zelle wie aus dem Gesicht geschnitten war. Immer, wenn seine Tochter auf der Bildfläche erschien, kam es Matthias Hoven so vor, als würde der Mond aufgehen. Cornelia war keine klassische Schönheit, aber ihren lachenden Augen und dem verschmitzten Lächeln konnte niemand widerstehen. Die Krähenfüße um ihre schrägen dunklen Augen trug sie stolz wie eine Trophäe. Über der hohen, intelligenten Stirn, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, thronte ein Pagenkopftransplantat aus gestriegeltem Leopardenfell, das in einem wunderschönen, braungefleckten Goldton leuchtete. Auf ihrer Schulter saß, wie meistens, ihr heiß geliebter Oscar, ein domestizierter Roter Panda.
Cornelia stürzte ihrem Vater entgegen und küsste ihn stürmisch, während ihr possierlicher Begleiter mit einem protestierenden Fauchen von ihrer Schulter sprang und sich an ihrem Rock festklammerte. Ihr rosiger Teint erfüllte Hovens gesamtes Blickfeld. Der Duft von süßem Ingwer stieg ihm in die Nase. Evelyn … Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und er zuckte leicht.
„Alles in Ordnung, Paps?“, fragte sie besorgt und legte ihm zärtlich den Arm um die Schulter.
„Keine Sorge, Conny. Ich werde halt nicht jünger. Das ist der Lauf der Welt.“
„Ach komm, du bist doch erst 82. Du hast noch mindestens fünfundzwanzig Jahre vor dir“, lachte Conny.
„Das mag schon sein, aber heute bin ich etwas erschöpft. Meine Geschäftspartner machen wieder Ärger“, grummelte er. Gleichzeitig zwinkerte er ihr zu, als wolle er sie vom Gegenteil überzeugen.
„Na gut.“ Ihr fröhliches Gemüt ließ sich leicht etwas vormachen. „Ich will dich auch nicht lange stören. Ich bin nur hier, weil Cook wissen will, ob du heute Abend bei der Gala deine Rede halten wirst oder nicht.“
„Ich weiß es noch nicht, Herzblatt.“ Sanft machte sich Hoven frei und setzte sich an seinen Schreibtisch. „Richte ihm aus, dass ich noch einiges zu erledigen habe. Ich sag ihm eine Stunde vorher Bescheid.“
„In Ordnung, Paps!“ Conny brach in Lachen aus, als ihr kleiner Panda unbeholfen an ihrem Pagenkopf zupfte. „Uuh, das kitzelt!“
Liebevoll betrachtete der alte Mann seine Tochter. Obwohl sie schon 28 Jahre alt war, dachte sie nicht daran, ein unabhängiges Leben zu führen, worüber er sehr froh war. Ohne sie hätte er sich noch einsamer gefühlt.
„Und das konntest du mir nicht per InterCom sagen?“, neckte er sie, den Druck in seiner Brust ignorierend.
„Bist du verrückt? Du arbeitest immer so viel, ich sehe dich kaum. Da bin ich froh um jede Sekunde, die ich hier sein kann.“ Zärtlich lächelte sie ihn an, dann winkte sie ihm ein letztes Mal zu, bevor sie mit ihrem Panda auf der Schulter hinausging.
Kaum hatte sich die Tür des weitläufigen Studierzimmers geschlossen, sackte Hoven in seinem Sessel zusammen. Sein langes Gesicht trieb nach unten, seine Augen blickten ins Leere. Als wäre sein Arm zentnerschwer, griff er unter den Tisch und holte einen MiniCube hervor. Per Knopfdruck verriegelte er den Raum, dann berührte er einen Punkt auf seiner Armlehne. Kleine Bodenplatten rutschten seitlich weg und bildeten eine kreisförmige Spalte, aus der sich innerhalb weniger Sekunden ein schalldichter Iglu aus dünnem Tantal entfaltete, der Hoven vollständig umschloss.
Der alte Mann wappnete sich einen kurzen Moment, bevor er den MiniCube in eine Vertiefung steckte, die sich in der Schreibtischplatte aufgetan hatte. Dann sprach er ein Codewort: „Wo Es war, soll Ich werden.“ Schon baute sich ein holografisches Gesicht vor ihm auf: hager, mit tief liegenden dunklen Augen, schütterem Haar, leicht abstehenden Ohren, zwei tiefen Falten, die von der prägnanten Nase hinunter zum dünnen Mund führten. Matthias Hoven blickte in sein eigenes Gesicht.
„Ich habe keine Wahl“, begann er fast unwirsch.
„Was du tust, ist falsch“, antwortete sein Gegenüber ruhig.
„Ich habe keine Wahl!“, wiederholte der alte Mann mit Nachdruck.
„Der Mensch hat immer eine Wahl“, erwiderte sein Gewissen.
„Falsch!“, ereiferte sich Hoven. „Sobald die Wahrheit ans Licht kommt, versinkt alles im Chaos.“
„Du hast nur Angst, dein Imperium zu verlieren“, entgegnete sein anderes Ich.
„Ich habe Angst, Conny zu verlieren“, antwortete Hoven mit brüchiger Stimme.
„Du hast ihre Liebe nicht verdient!“
„Ich weiß.“
„Was glaubst du passiert, wenn sie von der Vergewaltigung erfährt?“
„Das wollte ich nicht. Evelyn hat es … herausgefordert!“ Die tränenverschleierten Augen des alten Mannes flehten um Absolution.
„Evelyn? Du meinst, sie hat nur darauf gewartet, dass du im Kerker über sie herfällst und sie schwängerst?“
Hoven winselte. „Sie hat versucht zu fliehen. Ich wollte sie aufhalten … und die Situation ist eskaliert!“
Hämisches Lachen erschallte im metallenen Iglu. „Erzähl mir doch nichts. Ich weiß es besser. Es hat dich einfach geil gemacht, ihren Widerstand zu brechen!“
„Das ist nicht wahr“, murmelte der alte Mann. Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Sie wollte uns alle verraten …“
„Warum hast du sie dann nicht getötet?“, entgegnete das Gewissen.
„Ich habe sie geliebt“, flüsterte Hoven.
„Liebe? Was weißt du schon von Liebe? Du bist so erbärmlich. Du krallst dich an deiner Vergangenheit fest wie ein greinendes Baby an einer prallen Titte. Lass endlich los!“
„Es ist mein Lebenswerk! Ich kann es nicht so einfach aufgeben!“, jammerte Hoven.
„Dann musst du halt mit der Schuld leben.“ Wenn das Hologramm gekonnt hätte, hätte es gleichgültig mit den Schultern gezuckt.
„Ich kann es nicht … nicht mehr.“
„Dann mach deinem Elend ein Ende!“, warf das andere Ich erbarmungslos ein.
„Das geht nicht. Ich würde die Menschen, die mit drin hängen, im Stich lassen.“
„Mir kommen gleich die Tränen!“ Hovens Gewissen lachte gehässig.
„Wir hatten immer nur gute Absichten.“
„Ja, deine Absichten kenne ich. Geld, Geld, Geld! Du hattest nie etwas anderes im Sinn!“
„Das ist nicht wahr!“, entgegnete Hoven. „Wir wollten den Menschen helfen.“
„Evelyn vielleicht, du aber nicht!“
„Ja …“ Der alte Mann schluckte schwer. „Sie war immer die Großherzige von uns beiden.“
„Du bist alt geworden. Tu uns beiden einen Gefallen, mach endlich Schluss!“
„Aber was würde aus Conny werden?“, rief Hoven und rang verzweifelt mit den Händen.
„Du meinst, mit einem geschätzten Vermögen von zwei Billionen Eurodollar? Ja, in der Tat, die Kleine kann einem schon leid tun.“
„Hör auf!“, schrie Hoven. Er war hochrot geworden, seine Augen blitzten hasserfüllt. Doch so etwas machte auf ein Hologramm wenig Eindruck.
„Übernimm endlich die Verantwortung für deine Taten! Das bist du deiner Tochter schuldig.“
„Sie bewundert mich so sehr …“
„Das tut sie! Wenn sie die Wahrheit wüsste … die ganze Wahrheit …“
Der alte Mann brüllte „Ich weiß!“, dann deaktivierte er das E-I-E. „Ich weiß“, wiederholte er leiser. „Aber ich habe keine Wahl …“