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In den Fängen der Schulmedizin

11. Dezember 1987

Mein Arzt-Schwager empfiehlt mir eine hervorragende Internistin, die er persönlich kennt. „Internistisch“ klingt gut, denke ich, mögen sie doch bitte endlich herausfinden, wo da „innen“ die Ursachen liegen! Die U-Bahn-Fahrt in den Industrievorort ist ewig lang, und ich überlege, warum sich die Spezialistin gerade dort niedergelassen hat. Bereits keuchend irre ich durch eine monotone Einkaufspassage, finde schließlich die Hausnummer. Schnell hinein – „Ein Glas Wasser, bitte!“ – und die Notfalltropfen nehmen. Es ist eng und bedrängend im Warteraum – wie lange muss ich das noch aushalten?

Die Ärztin bittet mich hinein, macht ein EKG während des beginnenden Anfalls und stellt fest, dass mein Herz nicht in Ordnung sei. Ja, zum Teufel auch, welches Herz kann denn bei einem solchen Anfall ruhig bleiben? Mit einem Haufen Broschüren, die mir bestätigen werden, dass mein Zustand unheilbar ist, entlässt mich die „hervorragende Internistin“. Die wievielte Adresse war das inzwischen? Egal, vergessen wir dieses Desaster.

Da ich ohne chemische Medikamente nicht existieren kann, muss ich notgedrungen wieder einen Schulmediziner suchen. Ich höre von Herrn Dr. Thiele, der in der Uni-Klinik über Asthma geforscht und gerade in der Nähe meiner Redaktion eine Praxis als Lungenfacharzt eröffnet hat. Eine Bushaltestelle von meinem Verlag entfernt, das ist praktisch. Ich schreibe Dr. Thiele einen Brief, schildere mal wieder meinen Fall und drücke die Hoffnung aus, dass er mir dank seiner speziellen Forschungen helfen könne.

Mein erstes Gespräch mit ihm verläuft ermutigend. Dr. Thiele ist ein semmelblonder Spät-Yuppie und fühlt sich offensichtlich durch meinen Brief, in dem er als „Kapazität“ bezeichnet wird, geehrt. „Ich bau Sie wieder auf“, sagt er forsch, lenkt aber geschickt ab, als ich das Stichwort „Heilung“ in die Debatte werfe. Die Liaison mit Dr. Thiele wird drei Jahre dauern!

Natürlich kann auch er mich nicht gesund machen, er ist ja „nur“ Lungenfacharzt. Diese Formulierung wird zum Standardausdruck bei mir. Da erfahre ich zum Beispiel von einem berühmten Arzt in Schleswig. Patienten aus ganz Deutschland reisen zu ihm, nehmen sich am Ort ein Hotelzimmer und fahren mit guten Therapievorschlägen wieder ab. Er habe sie wunderbar „eingestellt“, berichtet man mir, ich müsse ihn unbedingt aufsuchen. „Aber er ist doch nur Lungenfacharzt“, sage ich skeptisch. Schließlich will ich nicht eingestellt, sondern geheilt werden.

Ein Bademoden-Vertreter äußert sich begeistert über die Lungenklinik Groß-Hansdorf. „Ich kann wieder arbeiten, es geht mir blendend“, erzählt er mir. Als ich nach seiner Behandlung frage, stellt sich heraus, dass er täglich fünf chemische Medikamente nimmt. Besonders wütend bin ich deshalb immer über jene ganzseitige Anzeige der Pharma-Industrie, in der eine schicke junge Frau mit folgendem Text abgebildet ist: „Christa Rössner, 42, Stylistin, leidet an Asthma. Aber sie lebt ohne Angst vor den Atemnotanfällen. Dank ärztlicher Hilfe. Mit Unterstützung von Medikamenten.“ Und weiter heißt es: „Wie Christa Rössner sind die meisten Asthmatiker auf Medikamente angewiesen – Tag und Nacht. Denn endgültige Heilung ist bis jetzt nicht möglich.“ Vollgepumpt mit Chemie, kann man also problemlos seinen Beruf ausüben, und wer ihn wegen dieser Krankheit aufgibt, steht als Versager und Dümmling da.

Da konnte ich bei Dr. Thiele bleiben, es gab ja sowieso nichts Anderes. Und so sitze ich regelmäßig in seiner knackvollen Mammut-Praxis, reihe mich ein in die Schlange vor dem halogenbeleuchteten Empfangsschalter und warte, bis eine der fünf Assistentinnen mir Blut abnehmen kann. Aus den beiden Wartezimmern tönt schmusiger Gesang von Julio Iglesias, überbellt von Husten und Gekrächz. Wenigstens scheint Dr. Thiele mit seinen Medikamenten auf dem neuesten Stand zu sein. Die Wirkstoffe sind zwar immer gleich, dafür wechseln die Namen umso öfter. Und Dr. Thiele geizt nicht damit. Mit Schwung rollt er sich an seinen Arzneischrank und wirft mir, eine Packung nach der anderen, seine Schätze über den Tisch. „Ich muss jetzt weiter“, beendet er das Gespräch.

Man brauchte also nicht zu ersticken. Das sage ich nicht mit Ironie, sondern in vollem Ernst. Ich habe zum Glück nur Ärzte erlebt, die großzügig verschrieben und sogar auf spezielle Anregungen von mir eingingen. Mit schlechtem Gewissen gegenüber der Kasse kam ich oft in die Praxis. Würde ich die Bronchialflöte bekommen? Immerhin kostete sie 129 Mark. „Aber natürlich, wenn es Ihnen Erleichterung bringt ...“ In der Apotheke erhielt ich manchmal das Dosier-Aerosol, bevor noch das Rezept vorlag. Wer wollte schon einen Asthmatiker ungesichert ins Wochenende schicken? Aus all dem wurde mir deutlich, dass ich wohl wirklich ein „armes Schwein“ war. Da diese Fälle sowieso aussichtslos sind, so schienen die Ärzte in geheimer Abstimmung zu denken, könne man doch wenigstens solche vergleichsweise bescheidenen Wünsche erfüllen. So wie man einem Verurteilten einen letzten Wunsch erfüllt.

„Versuch’s doch mal mit einer Selbsthilfe-Gruppe“, rät mir meine Bekannte Tina. „Das gibt’s bestimmt auch für Asthma.“ Selbsthilfe? Sind das nicht die Vereine, in denen man sich gegenseitig seine Krankheiten erzählt? Mit Überwindung gehe ich nach Dienstschluss zu einer Gruppe ins AOK-Gesundheitszentrum und höre reihum die schlimmsten Schauergeschichten. Eine 18-jährige möchte ihr Elternhaus verlassen, kann aber wegen der Anfälle nicht allein leben, ein 48-jähriger hat einen solchen Zwangshusten, dass er sich eine Rippe brach ...

Statt Tipps zu bekommen, merke ich, wie ich selbst welche gebe. Nur eine einzige Dame ist interessant. Sie berichtet von einer homöopathischen Therapie, die mit einer Darmsanierung beginne, wird aber vom Gruppenleiter gleich unterbrochen. Dieser, selbst asthmakrank, weist sich mit seiner Visitenkarte als Vertreter des „Allergiker- und Asthmatikerbundes“ aus und verteilt kostenlos Mundstücke als Inhalierhilfen. Ich packe das Teil ein und füge es meiner häuslichen Sammlung bei: Vernebler-Apparat, Peakflow für Lungenwerte, Flöte, Inhaliergerät. Wahrlich, es lebe die Pharma-Industrie! Mit immer raffinierteren Hilfskrücken überdeckt sie die Unfähigkeit der Mediziner, die Krankheit zu heilen – Triumph der Technik und des Profits!

Darf ich überhaupt so kritisch denken? Schließlich bin ich total abhängig, kann noch nicht mal allein eine Reise machen. Es gibt spezielle Asthmatiker-Reisen, informiert uns der Gruppenleiter. Ich will aber keine Behindertenreisen, und ich will auch keine Behindertenkarte für die U-Bahn ... Ich rufe bei der Lufthansa an und unterhalte mich mit einem Lufthansa-Arzt. Was passiert eigentlich, wenn ich im Flugzeug einen Anfall kriege? „Wir haben sowohl Theophyllin- als auch Cortisonspritzen an Bord, allerdings niemanden, der sie Ihnen geben kann“, lautet die Auskunft. Da müsse schon zufällig ein Arzt unter den Fluggästen sein ...

Dem „Allergiker- und Asthmatikerbund“ trete ich nicht bei, auch später nicht. Stattdessen gehen meine nebenärztlichen Versuche weiter.

„Chakra“ heißt das neue Zauberwort. Meine Freundin Ursel hat von einer Heilpraktikerin gehört, die „Chakren“, so genannte Energiezentren, ins Gleichgewicht bringt. Ich setze mich in den Zug, fahre in den kleinen Ort im Umland von Hamburg und treffe auf ein ansehnliches Eigenheim, in dem mich eine Frau mittleren Alters äußerst lieb empfängt. Frau Zeuner hat ihre Hausfrauenphase abgeschlossen und möchte jetzt hauptberuflich heilend tätig sein. Sie besitzt bereits ein Gerät zur Augendiagnose, schaut mir damit in die Augen und konstatiert eine Magenerkrankung. Wenn bei mir noch etwas problemlos funktioniert, dann ist es der Magen.

Das fängt ja ziemlich falsch an, denke ich, empfinde aber dankbar Frau Zeuners sensible Zuwendung. Während unseres Gesprächs verliere ich vollkommen meine Fassung und breche in Tränen aus. „Beschreiben Sie einmal, wie Sie sich fühlen“, fordert mich Frau Zeuner auf. Total erschöpft fühle ich mich, körperlich und seelisch am Ende, erkläre ich ihr. Ich habe keine Hoffnung mehr, bin verzweifelt. Alles habe ich versucht, aber jetzt glaube ich langsam, es hat keinen Zweck mehr ... Frau Zeuner reicht mir einen Korb, aus dem ich mir ein Fläschchen mit einer Blütenessenz aussuchen soll. Es handelt sich um die so genannte „Bach-Blüten-Therapie“, die in den zwanziger Jahren von dem englischen Arzt Dr. med. Edward Bach entwickelt worden ist. Er hatte herausgefunden, dass die Blütenessenzen von 38 heimischen Pflanzen auf bestimmte negative Seelenzustände einwirken, die mit spezifischen Krankheiten gekoppelt sind. Nimmt man nun einige Tropfen dieser Essenzen – je nach individueller Situation zum Beispiel gegen „Hochmut“, „Intoleranz“ oder „Niedergeschlagenheit“ – , dann wandeln sich die negativen Zustände ins Positive, und die Krankheit verschwindet.

„Das Fläschchen, das Sie brauchen, wird auf Sie zukommen“, erläutert mir die nette Dame. Genauso wie die passenden Bücher und Menschen auf mich zukommen, wenn die Zeit dafür reif ist. Das hatte mir schon meine Kosmetikerin erklärt.

Es ist bezeichnend, dass ich heute nicht mehr weiß, welches Fläschchen ich gezogen bzw. welche Pflanze mich gesucht hatte. Und außerdem: Wie sollten so feine Dinge so schwere somatische Störungen beseitigen können?

Als nächstes bittet mich Frau Zeuner, mich auf die Lederliege zu legen. Sie arbeitet meine Chakren durch – „das Wichtigste ist das Sonnengeflecht“ – , muss aber ihre Versuche aufgeben, da mich ein Hustenanfall in die Senkrechte treibt. Der Husten zieht wie ein Sog nach innen, mich ergreift Panik, und ich kann nur noch unter Mühen die Luft herauspressen. Frau Zeuner reicht mir die „Bach-Notfall“-Tropfen, aber ich lasse mir ein Glas Wasser geben und nehme meine Theophyllin-Tropfen. Ich bin sicher, dass ich allein mit Bach nicht lebendig nach Hause gekommen wäre.

Die Jahreswende von 1987 auf 1988 erlebe ich in zunehmend schlechter Verfassung. Die Anfälle häufen sich, der Notarzt wird fast zum Dauergast, und Silvester verbringe ich im Bett vor dem Fernsehschirm. Sogar die Karten für den jährlichen Presseball haben wir zurückgegeben. Während andere Asthmatiker Zeiten haben, in denen sie ihre Krankheit kaum spüren, begleitet mich das Leiden Tag und Nacht, Stunde um Stunde – es gönnt mir im wahrsten Sinn keine Atempause. Nachts liege ich mit rasselnden Bronchien neben meinem Mann und stelle ihm immer dieselben Fragen. Verzweifelt, zornig und quengelnd wie ein Kind: Wann hört das endlich auf? Wie lange muss ich das noch ertragen? Warum bin ich so krank? Was habe ich bloß getan? Und mein Mann, obwohl Nacht für Nacht in seinem Schlaf durch mich gestört, antwortet voller Ruhe immer dasselbe: „Keine Sorge, das geht vorbei. Eines Tages wird die Krankheit verschwinden. Ich habe selbst mehrere Fälle in Persien erlebt, wo es so gewesen ist.“

Atme oder stirb!

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