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ОглавлениеAspirin: Stoff für einen Krimi
3. April 1986
Ich sitze wieder in der Sprechstunde von Dr. Brockmann und berichte von meinem Erstickungsanfall.
„Lassen Sie uns mal den Tag rekonstruieren“, sagt Dr. Brockmann, „haben Sie noch zusätzliche Medikamente eingenommen?“
„Ja, eine Aspirintablette“, erzähle ich arglos.
Dr. Brockmann schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Das dürfen Sie nie wieder tun. Aspirin und andere Schmerztabletten enthalten den Wirkstoff Acetyl-Salicyl, der für Asthmatiker tödlich sein kann.“ Tatsächlich: Als ich später den Beipackzettel zu Aspirin lese, taucht dort das Wort „Asthma“ auf. Auch in der Nahrung sind Salicylate enthalten, erfahre ich. Eine Allergologin gibt mir eine Liste mit Nahrungsmitteln und entsprechenden Mengenangaben, und wir kleben die Liste an die Kühlschranktür, damit Djamschid, mein Mann, danach einkaufen kann.
Einige Jahre später, als ich mich durch das Asthma entstellt und als Belastung für meinen Partner und die orientalische Familie empfinde, bringe ich Aspirin wieder ins Spiel.
„Du brauchst mir nur eine Tablette Aspirin ins Wasser zu tun“, sage ich zu meinem Mann, „dann bist du mich endgültig los.“
Zeitweise empfinde ich mich hoffnungslos unattraktiv: die rasselnden und pfeifenden Bronchialgeräusche in den intimsten Stunden der Liebe, der Schleim, den ich beim Inhalieren in ein Gefäß spucke, das aufgedunsene Cortison-Gesicht. Aber dann wende ich die Bemerkung auch wieder ins Scherzhafte: „Also, ehrlich, Djammi, das ist Stoff für einen Fernsehkrimi. Ich habe die Dramaturgie schon im Kopf ...“
Dr. Brockmann schlägt mir vor, eine Kur in der Asthma-Klinik Bad Lippspringe zu machen, die veränderte Luft würde mir guttun. Was, schon wieder in ein Krankenhaus? Seit Anfang des Jahres haben wir einen neuen Chefredakteur, und dieser Mann hat mich bisher nur krank kennengelernt. Was, wenn ich nun für immer krank bliebe? Ich könnte meine Stellung verlieren, und außerdem ärgert es mich, dass der Chefredakteur nie wissen wird, wie ich eigentlich bin: aktiv, sanguinisch, genießerisch, manchmal originell und in seltenen Stunden sogar eine „Powerfrau“. Er hat nicht miterlebt, wie ich aus dem Urlaub zurückkam, spanische Musikkassetten mitbrachte und in weißer Kleidung in der Redaktion tanzte. Wie ich, zugegeben nach ein paar Gläsern Wein, losflirtete oder wie ich auf der Möbelmesse immer so „auf Empfang“ gestellt war, dass die Visitenkarten für Abendeinladungen nur so purzelten. Und nun hatte ich mir in der Redaktion geradezu einen schlechten Ruf als Alkohol-Abstinenzlerin erworben. Da Alkohol meine Atmung erschwerte, hatte ich es mir angewöhnt, keinen Tropfen Wein oder Sekt mehr zu trinken.
Ich fahre nach Bad Lippspringe. Dort ergreift mich wieder der unaufhörliche Husten. Elf Nächte lässt man mich durchhusten, dann kulminiert mein schlafloser Zustand in einem Nervenzusammenbruch, und man gibt mir Cortison-Tabletten. Eine unglaubliche Euphorie belebt mich: Ich eile die Treppen hoch, gehe schwimmen – dieses trügerische, nebenwirkungsreiche Mittel lässt mich wieder normal atmen. Meine Bettnachbarin, eine Frau um die fünfzig, wirkt ruhig und scheint sich in ihr Asthma-Schicksal ergeben zu haben. Die Krankheit habe zu einem Herzstillstand geführt, erzählt sie mir, sie sei klinisch bereits tot gewesen, und ihren Beruf als Buchbinderin habe sie vor längerer Zeit aufgeben müssen. Ihr Rücken ist schon verformt, die Schultern sind in Dauerstellung hochgezogen. Sie bittet die Ärztin, an das Infusionsgerät angeschlossen und mit Theophyllin „durchgespült“ zu werden, allein mit Tabletten kann sie nicht mehr atmen.
Ich halte mich anschließend in Gesellschaft von ein paar forschen Mittvierzigerinnen auf.
„Und wenn dann die Wechseljahre kommen, nehme ich ein Hormonpflaster“, äußert die eine fröhlich.
Diese Zeit rückt auch für mich näher – im Krankenhaus werde ich 47 Jahre alt. Ich ziehe ein schickes, „feminines“ Kleid an, merke aber zu spät, dass ich kurz darauf ein Urin-Fläschchen durch die Gegend trage. Wie peinlich! Ein alter Mann schenkt mir einen Kristall-Anhänger. Sollte dieser ein Glücksbringer sein? Immerhin hatte Dr. Brockmann bei der Abreise gesagt: „Aus Bad Lippspringe ist noch jeder gesund zurückgekommen.“
Das war eine mitleidige Lüge. Dennoch bringe ich auch von diesem Klinik-Aufenthalt etwas mit. Unangenehmen Situationen etwas Positives abzugewinnen, war damals noch meine dominierende Lebenssicht. In der Klinik hatte man durch Tests ein verträgliches Kopfschmerzmittel für mich gefunden. Ich würde also beruhigt auf etwas zurückgreifen können. Während meiner beiden Schwangerschaften hatte ich mich strikt auf „Tiger-Balsam“ beschränkt, aber in den letzten Jahren hatten sich meine Kopfschmerzen zeitweise zur Migräne gesteigert und pflegten von allein nicht aufzuhören. Das alles und ein paar spärliche allergische Reaktionen, die man festgestellt hatte, wurden in einem „Allergiepass“ vermerkt, den ich nun immer bei mir tragen sollte.
Mit Dr. Brockmann bespreche ich nach meiner Rückkehr meine Urlaubspläne. Inzwischen bin ich durch meine Atmungsprobleme schon so unsicher geworden, dass ich mich kaum noch reisefähig fühle.
„Aber natürlich fahren Sie nach Italien“, meint Dr. Brockmann, „ich gebe Ihnen Cortison-Tabletten mit.“
Ja, Italien – da müssten Körper und Seele wiederaufleben. Wieder einmal nach der Devise „Morgens Fango – abends Tango“ Erholung und Amüsement miteinander verbinden. Und wieder würde meine Reisepartnerin Ursel sein, wie damals im Sommer 1985 in Marokko, als ich noch kein Asthma hatte. „Vor dem Asthma, nach dem Asthma“ – das sollte bald die neue Zeitrechnung in meinem Leben werden.
Meinen Mann kann ich wie gewöhnlich nicht zu einer Reise überreden. Er findet, dass mit dem Kerosin der Himmel verpestet wird, und außerdem könne er nicht ohne Unruhe sein Teppichlager zurücklassen. So sind wir in unserem 14-jährigen Zusammensein mal gerade eine Woche auf Ischia gewesen. Jedes Jahr spult sich das gleiche Kompromiss-Muster ab: vier Urlaubswochen mit „Ihm“ zu Hause, zwei Wochen verreisen mit einer Freundin.
Nun also zum zweiten Mal nach Montegrotto-Abano. Mein Gesicht hat sich zwar durch das Cortison etwas gerundet, aber das steht mir eigentlich ganz gut. Ursel und ich besuchen ein Tanzlokal und werden unablässig aufgefordert. Nicht schlecht, mit siebenundvierzig so gefragt zu sein. Lästig ist nur, dass ich immer wieder auf die Toilette verschwinden muss, weil mir der Schweiß in Strömen den Rücken herunterläuft und meinen seidenen Overall schon völlig durchnässt hat. Die Haare sind zur Duschfrisur geworden. „Abbagnato“, sagen die Italiener, und es stört sie nicht im mindesten. Auch in den nächsten Jahren werde ich beim Tanzen „abbagnato“ sein.
Der Schweiß zeigt die Schwäche meines Körpers an. Ich bin ernsthaft krank. Oder sollten das die Vorboten der Wechseljahre sein? Nein, dann müssten es mehr „Wallungen“ sein, und die lerne ich erst zwei Jahre später kennen. Trotzdem lasse ich einen Hormontest machen – er ist völlig in Ordnung. Mich beschäftigt die Frage, ob eine noch nicht feststellbare Hormonveränderung mein Asthma verursacht haben könnte. Ich schreibe einen Brief an einen renommierten Hormonforscher an der Uniklinik Hamburg und erhalte als Antwort einen Anruf seiner Assistentin.
„Nein, Sie brauchen nicht zu einem Gespräch zu kommen“, sagt sie. „Der Herr Professor lässt Ihnen ausrichten, dass es damit nichts zu tun hat.“
Mehr als ein halbes Jahr ist vergangen, und ich bin noch immer krank. Wenn ich nicht gerade einen fieberhaften Infekt habe, gehe ich in die Redaktion und bringe mich mit der Medikamenten-Chemie einigermaßen über die Runden. Im Fotostudio ist es für die Kollegen schon ein gewohnter Anblick, dass ich die Medikamententasche herausnehme, mir Wasser für die Tabletten hole und mein Sprühgerät benutze. Seit meinem dreißigsten Lebensjahr war ich sehr oft krank, fast immer im Zusammenhang mit Operationen. Aber ich habe mir kaum Gedanken darüber gemacht. Für mich war es wie ein Naturgesetz: Erst bin ich krank, und dann werde ich wieder gesund. Willenskraft und Training waren dabei selbstverständliche Helfer.
Der erste tiefe „Schnitt“ in mein bis dahin ungetrübtes Leben kam mit 31 Jahren, als ich wegen eines Bandscheibenvorfalls an der Wirbelsäule operiert werden musste. Es war die schmerzhafteste Operation in meinem bisherigen Leben; ich musste ein halbes Jahr mit der Arbeit pausieren und verlor deshalb meine Stellung als Redakteurin. Von Anfang an tat ich alles, um schnell wieder auf die Beine zu kommen. Der Arzt wollte, dass ich in einer Gipsschale schlafe, aber da wäre ich mir wie eine Leiche vorgekommen. Ich ließ mir als „Alternative“ ein Stützkorsett verpassen und griff die Idee des Pflegers auf, täglich an einem Laufwagen zu üben. Ich erinnere mich noch, als ich nach dieser strapaziösen Zeit zum ersten Mal wieder in einem See badete. Es war gleichsam eine neue Geburt, ich sprang wie ein Delphin in die Höhe und ließ mich voller Freude zurück ins Wasser klatschen. Doch ich hatte einen Tribut zu entrichten: Nun waren nur noch leichte Koffer mit Reißverschluss oder auf Rollen angesagt, und der Rücken musste mit Schwimmen und Massagen ständig locker gehalten werden. Erst Jahre später dachte ich darüber nach, warum ich rückenkrank geworden war und musste mir eingestehen, dass ich diesen schmerzvollen Zustand selbst verschuldet hatte. Mein damaliger Mann und ich mussten zu der Zeit unbedingt einen VW-Porsche haben und bretterten, mehr liegend als sitzend, mit dem kaum gefederten Gefährt tagtäglich über die Straßen. Und statt nach dem Redakteursjob meinem Körper am Abend etwas Gutes zu tun, stauchte ich meine Lendenwirbel, indem ich im Bett Bücher aus dem Dänischen übersetzte.
In diesen Sommermonaten des Jahres 1986 merke ich, dass etwas Unerhörtes geschehen ist: Eine Krankheit hat sich an mich geheftet und lässt sich nicht mehr abschütteln. Ich stehe mal wieder – wer will schon ersticken? – voll unter Cortison und funktioniere entsprechend gut. Das gibt mir die Kraft, einen Test durchzuziehen. Ich möchte mal über ein ganz anderes Thema als Wohnen schreiben und sehen, ob eine Redaktion, die mich nicht kennt, den Artikel annimmt. Warum das Ganze? Weil ich ganz klar und realistisch erkenne, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis ich als Dauerkranke meinen Schreibtisch im Verlag werde räumen müssen. Danach würde mich mit bald fünfzig Jahren keiner mehr einstellen, und so müsste ich mich mit Themen verschiedenster Art freiberuflich über Wasser halten. Ich schreibe also einen amüsant-ironischen Artikel über jenes Klassentreffen, bei dem wir Schülerinnen uns nach 25 Jahren wiedergesehen haben, und das Experiment gelingt: Der Artikel erscheint in großer Aufmachung in einer Wochenzeitung. Damit sind meine „fremdgängerischen“ Ambitionen aber auch erschöpft. Einen weiteren Sicherheitsanker werfe ich aus, indem ich dem Journalisten-Verband beitrete.