Читать книгу Winterkönig - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 10
Kapitel 7 – Sturm
ОглавлениеDie Hohe Frau hatte Mara wegen der zerstörten Tür heftige Vorwürfe gemacht, obwohl ihre Vorhaltungen Mara aufgesetzt erschienen, nicht wirklich ernst gemeint. Über die Vorfälle im eigentlichen Tempel hatte die Hohepriesterin kaum ein Wort verloren, sich nur kurz nach ihrem Befinden erkundigt, allerdings Réa und Sina, wie sie hörte, eingehend befragt.
Nun, Mara konnte Lorana beruhigen: es ging ihr, abgesehen von leichten Kopfschmerzen und einem rauen Hals, ausgezeichnet. Sie bekam in der Nacht nicht einmal Alpträume und schlief tief und fest. Die Alpträume hatten wohl andere.
Zudem hatte Lorana dafür gesorgt, dass die Geschichte bekannt wurde. Natürlich hatte sie keine Ansprache gehalten, trotzdem wusste schon bald jede im Tempelbezirk Bescheid. Und was der ganze Tempelbezirk wusste, wusste nach kurzer Zeit die gesamte Stadt.
Das Verhalten der Frauen im Tempel allerdings, ihr Verhalten Mara gegenüber hatte sich nach den Ereignissen im Gewölbe verändert. Keine gewaltige Veränderung, aber doch eine spürbare: Die Frauen, ob Priesterin oder Tempelwächterin, begegneten ihr nicht mehr so unbefangen, waren im Umgang mit ihr respektvoller. Vielleicht aber auch bloß vorsichtiger.
Gegen Ende der abendlichen Unterrichtsstunde im Schwertkampf – bei den Tempelwächterinnen, Malin hatte Mara endlich die Teilnahme erlaubt – stürzte plötzlich Milla mit hochrotem Kopf und nach Atem ringend in den Übungsraum. „Mara, du sollst sofort in die Häuser kom…“
„Ich hoffe doch, Mädchen, du hast einen triftigen Grund dafür, den Unterricht auf derart rüde Weise zu stören“, unterbrach Malin Milla mit eisiger Stimme. „Hat dir Sina denn gar nichts beigebracht?“
„Entschuldigt, Malin, ich … Aber ... die Dame Ondra ist da, sie liegt in den Wehen ... und sie will unbedingt mit Mara reden, jetzt sofort. Es ist wirklich dringend.“
„Das ist wohl ein triftiger Grund“, befand Malin. „Du kannst gehen, Mara.“
„Danke.“ Mara verbeugte sich vor ihrer verdutzten Partnerin, drückte dieser ihr Schwert in die Hände und rannte los.
Milla hatte Mühe, ihr zu folgen. „Warte doch, Mara, ich kann nicht so schnell!“
„Sagtest du nicht, es sei dringend, und jetzt soll ich warten?“
„Ja! Aber du weißt doch gar nicht, in welchem Zimmer sich Ondra befindet. Und außerdem, so dringend, dass du wie von Teufeln verfolgt rennen musst, ist es auch nicht. Hier entlang.“
„Aber du hast gesagt …“
„Ich habe nur Ondras Worte wiederholt. Nadka sagt, es kann noch eine ganze Weile dauern.“
„Trotzdem. Sind wir bald da?“
Milla seufzte theatralisch und verdrehte die Augen. Dann klopfte sie an eine der nächsten Türen und trat ein. Mara folgte ihr ungeduldig.
Ondra ging, gestützt von Nadka, im Zimmer auf und ab. Sie war nassgeschwitzt und etwas blass, wirkte ansonsten aber recht munter. „Da bist du ja, Mara, das ging schnell. Lasst uns bitte einen Moment allein.“
„Selbstverständlich, königliche Hoheit, wie Ihr wünscht. Komm mit, Milla.“ Nadka schloss die Tür hinter sich und Milla.
Ondra legte den Arm um Maras Schultern und nahm ihre Wanderung wieder auf. „Sicher wunderst du dich, warum ich dich rufen ließ.“
„Ein bisschen. Geht es dir nicht gut?“
„Doch, doch, es ist auszuhalten. Mara, würdest du mir einen Gefallen tun?“
„Ja.“
„Einfach ja?“ Ondra lachte, klang ein wenig atemlos. „Könntest du Leif herholen, Mara, jetzt gleich? Weißt du, sie halten hier im Tempel nicht besonders viel davon, Männer bei einer Geburt dabei zu haben, und … Natürlich könnte ich nach ihm schicken lassen, aber ich möchte, dass er noch vor seinem Sohn hier ist, verstehst du?“
„Er ist im Palast?“ versicherte sich Mara.
„Ja.“
„Gut, ich beeile mich. Er wird rechtzeitig hier sein.“
„Manchmal bist du wirklich ein Schatz, Mara.“ Ondra drückte sie kurz an sich, dann rief sie Nadka wieder herein, die bestimmt jedes Wort mitbekommen hatte, sich aber nichts anmerken ließ.
Mara rannte quer über den Tempelvorplatz zum Pferdestall. Sie machte sich nicht erst die Mühe, ihr Pferd zu satteln, das Zaumzeug reichte ihr. Die Sonne war bereits untergegangen. Es regnete in Strömen, und so waren die Straßen nahezu leer. Sie trieb den Wallach zum Galopp an und erreichte nach kurzer Zeit die Festung. Die Wachen an den Toren machten keine Anstalten, sie aufzuhalten, und winkten sie einfach durch.
Vor dem Eingang des Palastes sprang sie vom Pferd, stürmte die Treppe hinauf und traf im langen Gang auf Guy, der sie überrascht anblickte. „Was treibt Euch in dieser stürmischen Regennacht in den Palast?“
„Gut, dass ich Euch treffe, Guy. Ich muss augenblicklich zu seiner königlichen Hoheit, dem Statthalter von Dalgena. Wisst Ihr, wo er sich aufhält?“
„Ich glaube schon. Und ich nehme an, es ist dringend und Ihr habt es sehr eilig, aber keine … Einladung?“
„Ihr sagt es.“
„Dann begleite ich Euch wohl besser.“ Zielstrebig schritt Guy die Gänge entlang, durch einige menschenleere Räume. Mara war froh, dass er nicht allzu schnell lief, denn sie war immer noch ziemlich außer Atem. Schließlich gelangten sie zu einer Tür, an der Gardisten Wache standen, keine einfachen Soldaten, wie an den vorherigen Türen. Offensichtlich näherten sie sich den Räumen, in denen sich der König aufhielt.
Im angrenzenden Raum standen mehrere wichtig aussehende Männer herum, die sich angeregt unterhielten. Sie schauten jedoch auf, als Guy und sie näher kamen.
„Da wären wir: der Vorraum zum Arbeitszimmer seiner Majestät, wo sich seine Königliche Hoheit, soviel ich weiß, zurzeit tatsächlich aufhält“, erklärte Guy. „Jetzt müsst Ihr nur noch Turam dazu bringen, dass er Euch zu ihm vorlässt. Der Mann mit der Schärpe.“
Mara verbeugte sich nach Art des Tempels vor dem kleinen, spitzbauchigen Mann. „Turam, ich muss umgehend mit seiner Königlichen Hoheit, dem Statthalter von Dalgena sprechen. Es ist sehr dringend.“
„Ach, tatsächlich?“ fragte Turam mit hochgezogenen Augenbrauen und musterte Mara herablassend.
„Ja, und jede Sekunde zählt! Wenn Ihr mich also bitte melden würdet. Das ist doch Eure Aufgabe, oder nicht?“
„Es ist vor allem meine Aufgabe, seine Majestät vor lästigem Gesindel zu schützen. Gardist, schafft mir dies Mädchen aus den Augen, bevor …“
„Bevor Ihr noch einen größeren Fehler begeht, Turam? Dieses Mädchen ist Mara I’Gènaija, und ich vermute, selbst Ihr kennt die Befehle des Hauptmanns.“
Turam rang sichtlich um seine Fassung, gab sich aber nicht so leicht geschlagen. „Das ist ein Scherz, nicht wahr? Ein Scherz von ganz übler Sorte! Ich werde das melden und …“
„Nein, ich scherze nie, wenn ich Dienst habe. Und jetzt lasst uns durch.“ Guy berührte Maras Ellenbogen und führte sie durch die Tür, welche die Gardisten bereitwillig öffneten.
Turam hielt sie nicht zurück.
Der Raum, ein Arbeitszimmer mit großem Schreibtisch und mehreren Sesseln davor, vielleicht für Besucher, war leer.
Mara seufzte. „Und jetzt?“
„Keine Sorge, sie sind im Nebenzimmer, sonst hätte sich Turam nicht so aufgespielt.“
„Aha. Ich habe nicht gewusst … Jedenfalls möchte ich Euch danken, Guy.“
„Nichts zu danken, es war mir ein überaus großes Vergnügen.“ Er lächelte ihr kameradschaftlich zu, klopfte an die Tür des nächsten Zimmers und öffnete sie für Mara.
Sie trat ein und verbeugte sich einmal mehr, diesmal jedoch vor dem König, der bei ihrem Eintreten aufgestanden war und ihr verblüfft entgegen blickte, und in gebührender Form auch vor Leif.
„Mara, was … bei allen Göttern, Ihr seid ja nass bis auf die Haut, was ist denn passiert?“
„Nichts weiter, bloß … Majestät, es tut mir leid, wenn ich hier so plötzlich und unaufgefordert hereinplatze, es ist nur … Leif, Ondra möchte, dass Ihr bei ihr seid, ich meine, jetzt sofort, und Ihr solltet Euch beeilen.“ Die Worte sprudelten geradezu aus ihr hervor.
Konsterniert schaute Leif sie an, schüttelte verwirrt den Kopf. „Wie bitte?“
„Ondra möchte, dass Ihr bei der Geburt dabei seid, darum solltet Ihr Euch auch beeilen, es dauert nämlich nicht mehr allzu lange. Nehmt mein Pferd, es steht vor der Tür, natürlich der Tür zum Palast, es wird Euch sehr schnell hinbringen. Ihr könnt es dann …“ Mara lächelte ihn zuversichtlich an, offenbar hatte er nicht viel von dem, was sie gesagt hatte, verstanden. „Geht einfach, Eure Frau braucht Euch jetzt.“
„Oh Himmel, Mara, warum sagt Ihr das nicht gleich? Vor der Tür?“
„Ja, fallt nicht darüber.“
Mit einem Lächeln blickte sie ihm nach, wie er überstürzt zur Tür rannte, noch einmal umkehrte, um seine Jacke zu holen und ihr hastig einen Kuss auf die Wange zu drücken. Dann verließ er endgültig das Zimmer.
Sie kicherte, als sie sich dem König zuwandte. „Er kann hoffentlich ohne Sattel reiten?“
„Ich nehme an, dass er das kann. Außerdem würde es mich sehr wundern, wenn Euer Pferd ihn herunterfallen ließe, unbjita ’leki. Es regnet also?“
„Äh … ja, Majestät.“ Verlegen blickte sie zu Boden, auf ihre nackten, nicht besonders sauberen Füße, und war sich mit einem Mal ihres vollkommen unpassenden Aufzuges bewusst.
„Wollt Ihr Euch nicht setzen, Mara? Guy, holt uns doch bitte heißen Tee und seht zu, ob Ihr nicht irgendwo eine Decke auftreibt.“
„Sofort, Majestät.“ Guy verschwand.
Mara setzte sich zögernd auf die Kante eines Sessels vorm Kamin und sah den König unsicher an.
Er musterte sie durchdringend und ziemlich unverhohlen. Bei jedem anderen als dem König hätte sie sogar gesagt unverschämt.
Er zog sich einen Sessel heran und ließ sich gleichfalls nieder. „Und was fange ich jetzt mit Euch an?“
„Majestät?“
„Nun, Ihr habt mich soeben meines Gesprächspartners beraubt“, gab der König zu bedenken.
Mara war sich nicht sicher, wie er diese Bemerkung meinte, und wartete schweigend ab.
„Und so nass, wie Ihr seid, kann ich Euch wohl kaum zum Tempel zurückschicken, das wäre unverantwortlich. Ihr müsst also wohl oder übel die Nacht im Palast verbringen.“
Sie nickte. „Wie Ihr wünscht, Majestät.“
„Habt Ihr schon zu Abend gegessen?“, wollte der König wissen.
„Nein, dazu war keine Zeit.“
„Würdet Ihr mir dann die Freude machen, mit mir zu speisen? Auf Leifs Gesellschaft muss ich heute ja wohl verzichten, und ob und wann mein zweiter Sohn zum Essen erscheint, wissen wahrscheinlich nicht einmal die Götter.“
„Sehr gern, Majestät“, stimmte sie eilig zu.
„Schön. Und übrigens: Es geht ihr doch gut?“
„Ondra? Vorhin ging es ihr noch recht gut. Ich glaube nicht, dass Ihr Euch Sorgen machen müsst, Majestät.“
„Das freut mich zu hören, zumal Ihr das sagt.“ Der König strich sich sinnend über den Bart, blickte sie freundlich an.
Guy kam zurück, sah fragend zum König, der auf Mara deutete, und gab ihr eine Decke. „Ich hoffe, die genügt fürs erste? Ach ja, ich habe Euch auch noch ein Tuch mitgebracht, damit Ihr Euch die Haare trocknen könnt.“
„Sehr aufmerksam von Euch, Guy, danke. Ihr habt nicht zufällig einen Kamm?“
Schuldbewusst schüttelte er den Kopf. „Nein, tut mir Leid, daran habe ich nicht gedacht.“
„Macht nichts, es wird auch so gehen.“
„Ganz sicher sogar. Nur meine bescheidene Meinung.“
Mara lächelte verschmitzt und verlegen zugleich zu ihm hoch. Guy grinste, beinahe verschwörerisch, zurück.
„Der Tee wird sofort gebracht, Majestät.“
„Danke, Guy, Ihr könnt gehen und Euch wieder Euren eigentlichen Pflichten widmen.“
„Sehr wohl, Majestät. Mara.“ Er verbeugte sich respektvoll vor dem König, nickte Mara noch einmal kurz zu und verließ das Zimmer.
Der König blickte ihm nachdenklich nach, wandte sich dann wieder Mara zu. „Mir scheint, Ihr habt Euch gut eingelebt. Wie man hört …“
„Ja. Was hört man denn so?“, fragte sie nach.
„Dieses und jenes, viel Gutes“, erklärte der König etwas vage.
„Ich bin wirklich gern im Tempel, und die Stadt gefällt mir auch, nur das Wetter nicht, so nass und kalt. Aber es soll ja angeblich wärmer werden. Bald.“
„Der Sommer fängt gerade erst an, Mara. In einem Monat stöhnt Ihr dann unter der Hitze.“
„Ja, vielleicht“, stimmte sie zu. „Die Einteilung der Monate finde ich … seltsam. Zuerst habe ich überhaupt nicht verstanden, warum einige Monate dreißig Tage haben müssen und andere einunddreißig. Auf Ogarcha hat man sich nach dem Mond gerichtet, da hatte jeder Monat achtundzwanzig Tage, fertig. Keine Rechnerei.“
„Der zusätzliche Tag ergibt sich daraus, dass an den Tagen der Sonnenwende beziehungsweise der Tag- und Nachtgleiche wichtige religiöse Feiern stattfinden“, erläuterte der König. „Es sind, sozusagen, Feiertage, und hier in Mandura wird recht ausgiebig gefeiert.“
„Ja. Und heute ist der erste Tag im Monat der Sommersonnenwende, nicht wahr?“
„Offenbar habt Ihr es doch verstanden, das stimmt.“
„Gut. Eigentlich ist es ja nicht so wichtig; ich hatte nur eine recht kompliziert aussehende Zeichnung in einer der Schriften aus dem Tempelarchiv gesehen“, erklärte Mara, „mit Symbolen von Sonne und Mond und vielen Pfeilen, und diese Zeichnung sollte wohl das ganze verdeutlichen. Sah sehr interessant aus.“
Bestätigend nickte der König. „Ich kenne die Zeichnung, oder zumindest eine ähnliche. Und Ihr habt die Sache mit den Monaten einfach so verstanden, ohne weitere Erklärung, nur anhand der Zeichnung?“
„Na ja, nicht gleich, es hat schon ein bisschen gedauert“, gestand Mara. „Es werden ja nicht nur die Monate erklärt, sondern noch ganz andere Dinge, zum Beispiel Himmelserscheinungen.“
„Jetzt verstehe ich, warum Lorana neulich so zufrieden schien... Ah, der Tee.“
Ein Palastdiener brachte ein Tablett mit Tee und dem hier wohl unverzichtbaren Gebäck. Er stellte alles auf einen kleinen Tisch, den er zwischen die beiden Sessel rückte, und reichte erst dem König, dann ihr eine Tasse. Sie nickte dankend.
„Ihr macht so ein ernstes Gesicht, Mara, habt Ihr Sorgen?“
„Im Moment nicht, jedenfalls nichts … Eher Sorgen allgemeiner Art. Ich denke nicht ständig über das nach, was mir Sorgen bereitet, nur wenn es sinnvoll erscheint, angebracht.“
Mara trank einen Schluck Tee, beobachtete den König über den Tassenrand hinweg aufmerksam. Der Palastdiener hatte diskret den Raum verlassen.
„Wieso …“ Der König stockte kurz. „Wann erschiene es Euch denn sinnvoll?“
„Dann, wenn ich nicht gezwungen wäre, immer den gleichen Gedankengängen zu folgen, auf immer die gleichen Fragen zu stoßen. Doch das hängt wohl in erster Linie von Eurer Bereitschaft ab, Majestät, meine Fragen zu beantworten.“
Abrupt stand der König auf, trat ans Fenster und sah in den Regen hinaus. Der Wind war stärker und böiger geworden. „Nur um jedes Missverständnis auszuschließen, unbjita, wir sprechen vom Krieg?“
„Bisher nicht, Majestät, allerdings erscheint es mir zwangsläufig, dass im Laufe dieses Gesprächs auch der Krieg ein Thema sein wird.“
Er drehte sich zu ihr um, beobachtete Mara nicht weniger genau als sie ihn. „Einverstanden. Dann wird hoffentlich auch mein Sohn hier sein, denn als Winterkönig wird er diesen Krieg anführen.“
„Vermutlich“, kommentierte sie.
„Ihr lasst Euch nicht so einfach überlisten, nicht wahr?“
Maras Mundwinkel verzogen sich zu einem winzigen Lächeln. „Wozu sonst hätte ich Unterricht bei Lorana? Ich habe die Frage in der einen oder anderen Form erwartet.“
„Und Ihr werdet es mir nicht sagen?“
„Nein, werde ich nicht, Majestät“, verneinte Mara höflich.
„Was wisst Ihr über die Ostländer?“, wechselte der König das Thema.
„Sehr wenig. Das Kitainagebirge bildet die Grenze zwischen Mandura und den Ostländern, die Ostländer kommen, meist im Sommer, über die niedrigeren Pässe und plündern Dörfer, … es gibt dort vermutlich Zauberer, zumindest zwei oder drei, und … Ach ja, im Süden hat man schon immer recht gute Geschäfte mit den Ostländern gemacht.“
„Ihr habt das nicht gewusst, oder?“, vermutete der König.
„Nein, natürlich nicht. Auf Ogarcha waren Geschäfte, und sind es vermutlich immer noch, ausschließlich Angelegenheit der Männer. Vielleicht waren ja sogar einmal Ostländer auf Ogarcha, ich weiß es nicht.“
„Nun, möglich ist das, die Burg gehört zum Grenzland. Würdet Ihr mich nach nebenan begleiten?“, forderte der große, kräftige Mann sie auf. „Ich möchte Euch etwas zeigen.“
Die Decke um sich raffend und an einem Gebäckstück knabbernd folgte Mara dem König neugierig in ein weiteres Arbeitszimmer, in dem dieser einige zusätzliche Kerzen entzündete und in die Wandhalter steckte. „Mein Sohn erwähnte, dass Ihr Euch für Karten, Landkarten, interessiert?“
„Oh ja, ich liebe Landkarten“, erwiderte Mara voller Eifer. „Zeigt Ihr mir eine Karte von den Ostländern?“.
„Genau das hatte ich vor.“
Seine Majestät entrollte eine große Karte auf dem Schreibtisch und beschwerte sie an den Ecken. „Also, hier haben wir Mandura, das Kitainagebirge, und von hier bis zu diesem Gebirge im Osten reicht Kalimatan, wie die Ostländer ihr Land bezeichnen. Im Norden ist der Grenzverlauf nicht so klar. Diese beiden Ausläufer der Berge von Angarask umschließen eine Hochebene, auf der ein bis vor wenigen Jahren noch unabhängiges Reitervolk lebt, welches jedoch von den Ostländern erobert wurde. Sagen die Berichte von Seiten des Reitervolks“, berichtete der König. „In der Lesart der Ostländer heißt es, man habe ein Bündnis geschlossen. Hier im Südosten, im Mündungsgebiet des Jamburs, der im südlichen Kitainagebirge entspringt und ostwärts durch Kalimatan bis zum Meer fließt, liegt Dessum, Hauptstadt des Königreiches.“
„Noch ein Meer oder Teil des Meeres im Westen?“, fragte Mara nach.
„Noch ein Meer. Wahrscheinlich käme man vom Meer im Westen zu dem im Osten, wenn das Nordmeer schiffbar wäre. Aber es ist nur kurze Zeit im Jahr nicht völlig von Eis bedeckt. Im Süden sind die Meere jedoch durch die Landmasse getrennt. Die Südgrenze von Kalimatan verläuft in etwa hier, von den Marsch- und Sumpfgebieten an der Küste südlich von Dessum über diesen Höhenzug bis zum Saum des Großen Waldes, von dort wieder nordwärts, östlich an den Dunklen Höhen vorbei bis fast zur Tameran-Kette.“
Mara hatte schweigend zugehört, fuhr mit dem Finger an der Küste des Meeres entlang, bis sie Ténégre gefunden hatte, und staunte. „Das ist ja noch viel weiter südlich als Ténégre!“
„Ihr kennt die Stadt?“, wunderte sich der König.
„Na ja, kennen nicht gerade. Mein Vater stammt aus Ténégre, und ich wurde ebenfalls dort geboren. Hat Reik Euch das nicht erzählt?“
„Nein, das hat er nicht.“
„Hat er wohl vergessen. Also, Kalimatan ist eindeutig größer als Mandura, ungefähr doppelt so groß“, stellte Mara fest. „Aber das heißt noch nicht besonders viel.“
„Nein. Seht Ihr diesen Bereich?“ Der König deutete auf eine nahezu leere Fläche, die fast den gesamten Nordwesten Kalimatans einnahm.
Die Symbole sagten Mara nichts, wenige Hügel auf gelblich grauem Grund. „Sieht recht leer aus, was ist das?“
„Nichts … oder eines der Probleme des Landes, eine riesige, lebensfeindliche Wüste, tot. Kalimatan ist ein sehr großes, aber auch sehr unwirtliches Land. Nur die Küstenregion im Norden, der Landesteil südwestlich des Jambur und die Gebiete entlang der übrigen Flüsse sind relativ fruchtbar und können bewirtschaftet werden.“
„Ah. Und die Bewohner von Kalimatan sind womöglich bedeutend fruchtbarer als ihr Land?“
„Genau das, sie brauchen mehr Land“, erklärte seine Majestät.
„Aber …“, grübelnd sah Mara auf die Karte und schüttelte den Kopf, „das ist unsinnig. Wenn ich mehr Land brauche, dann suche ich mir doch kein so schwer zu erreichendes wie Mandura, überall sind hohe Gebirgsketten. Und außerdem leben da bereits Menschen. Wäre es nicht naheliegender, sie gingen in den Süden? Das Land ist fruchtbar, sie müssten zwar einen Teil des Waldes roden, und besonders viele Menschen leben dort auch nicht. Und mit denen treiben sie sogar schon Handel. Sie müssten es womöglich gar nicht erobern, und wenn doch, dann wahrscheinlich ohne große Mühe!“ Grimmig biss sie die Zähne zusammen, als sie an die Eroberung von Ogarcha dachte, sah dem König aufgebracht ins Gesicht. „Warum unbedingt Mandura, das ist dumm.“
„Sie sind überzeugt, sie hätten ein Anrecht darauf.“
Überrascht blickte Mara zur Tür und hatte plötzlich einen trockenen Hals, als sie Reik an den Türrahmen gelehnt stehen sah. Wasser lief ihm aus den Haaren und über das Gesicht, tropfte von seinem Mantel auf den Boden, wo es sich in einer Pfütze um seine dreckigen Stiefel sammelte. Er wirkte müde und hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte er in letzter Zeit zu wenig Schlaf und nur wenig Ruhe bekommen.
Gebannt beobachtete Mara, wie er lächelnd ins Zimmer und um den Schreibtisch herum trat, nach ihrer Hand griff und leicht mit den Lippen ihre Fingerspitzen berührte. „Ich bin erfreut, Euch hier zu sehen, Gènaija. Darf ich?“
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach, nickte aber. „Ja … natürlich, Hoheit.“
Sacht zog Reik das Tuch, das Mara sich um den Nacken gelegt hatte, von ihren Schultern; sie bekam eine Gänsehaut. „Danke. Was für ein Wetter! Wahrscheinlich bekommen wir heute Nacht Sturm. Habt ihr schon zu Abend gegessen, Vater?“
„Nein, du erscheinst ausnahmsweise pünktlich.“
Reik ging nicht auf diese Spitze ein, sondern blickte Mara aufmerksam an. Er reichte ihr seinen Arm. „Bei solch angenehmer Gesellschaft. Kommt Ihr?“
Zustimmend legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. „Und wieso?“
„Wieso? Weil ich Hunger habe, Ihr nicht?“
„Doch, sicher. Aber wieso sind sie überzeugt, ein Anrecht auf Mandura zu haben?“, kam Mara auf ihre Frage zurück.
„Oh, das. Meint Ihr nicht, wir sollten uns erst einmal zu Tisch begeben? Man lässt einen König nicht warten.“
„Und das sagt Ihr, Hoheit?“
„Ich bin der nächste König.“
Mara schwieg und setzte sich auf den Stuhl, den der König ihr amüsiert schmunzelnd anbot, um sich dann selbst ans Kopfende des Tisches zu begeben. „Ich habe ernsthafte Zweifel, ob Mara dir dazu etwas sagen wird, Reik. Falls sie überhaupt etwas weiß. Mir jedenfalls wollte sie nichts verraten. Greift zu, Mara.“
„So?“ Reik, der sich inzwischen des nassen Mantels und seines Schwertgürtels entledigt, Gesicht und Haare notdürftig abgetrocknet hatte, wollte ebenfalls Platz nehmen, zögerte aber und zog auch noch die Uniformjacke aus, die er Mara hinhielt. „Zieh sie an, Gènaija, dir ist doch kalt. Die Decke dürfte beim Essen etwas unpraktisch sein.“
„Aber …“
„Aber?“
Fragend sah Mara ihm ins Gesicht. Sie wusste sein Verhalten nicht zu deuten. Erst war Reik ihr gegenüber sehr formell, dann wechselte er plötzlich von einer formellen Anrede zu einer persönlichen und bot ihr auch noch seine Jacke an, so als ob er … als müsste er für sie sorgen. Reik schaute sie nur abwartend an. Ewig konnte sie ihn ja nicht so stehen lassen, also nahm Mara die Jacke. Sie war wesentlich wärmer als die Decke und duftete nach ihm.
Reik setzte sich. Neben sie, nicht über Eck, wie der König.
„Nichts … danke. Du wolltest mir von den Überzeugungen der Ostländer erzählen.“
„Kannst du nicht …“, bat er stirnrunzelnd.
„Nein.“
Müde sah Reik zu seinem Vater. „Würdest du bitte, Vater, ich …“
Kalt schnitt der König ihm das Wort ab, seine Stimme klang scharf, schneidend. „Junge, du kannst dir nicht einfach den angenehmen Teil heraussuchen und den ganzen Rest mir überlassen. Sie hat dich gefragt.“
Wutentbrannt sprang Reik auf und warf seine Serviette auf den Tisch, die ein Glas traf, welches umfiel und klirrend zerbrach. „Den angenehmen Teil?! Immerhin bin ich es doch, der diesen verdammten Krieg führen muss! Und womit?! Wenn ich Glück habe, kommandiere ich im Winter eine Armee von dreißigtausend Soldaten, doch egal wie viele noch dazu kommen, bis die Ostländer angreifen, es werden nicht genug sein!“ Reik drehte sich zornig zum Fenster hin, die Hände zu Fäusten geballt.
Betreten sah Mara auf ihren Teller, hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht. Da das wohl schlecht möglich war, bemühte sie sich, wenigstens möglichst still zu sein und rührte sich nicht.
Der König war ebenfalls aufgestanden, beugte sich angespannt vor, die Fäuste auf den Tisch gestützt und nicht minder aufgebracht als sein Sohn. „Wirfst du mir das etwa vor? Wirfst du mir vor, dass ich niemals Winterkönig war, dass ich es nie sein musste?!“
Reik wandte sich wieder seinem Vater zu. Wie zwei wütende Hunde, die im nächsten Augenblick aufeinander losgehen, funkelten sie sich über den Tisch zornig an. Mara beobachtete sie atemlos, abgestoßen und fasziniert zugleich.
„Nein, das werfe ich dir nicht vor. Aber ich werfe dir vor, dass du zugelassen hast, dass dieses Land in eine solche Situation geraten ist. Du hast zugelassen, dass die Verteidigungsanlagen der Städte in einem miserablen Zustand sind, hast zugelassen, dass die Armee mehr und mehr zusammengeschrumpft ist! Mandura ist nicht in der Lage, sich gegen einen großangelegten Angriff der Ostländer zu verteidigen!“
„Du übertreibst, Junge, dein Bruder sagt …“, versuchte der König zu klären.
„Ach was, mein Bruder, Leif hat Angst! Sieh dir die Berichte von Remassey an, sieh dir die Berichte der Leute an, die wir in Kalimatan haben. Marok wartet nur noch auf einen Grund, uns den Krieg zu erklären!“
„Sicher, Remassey. Der Mann verdient nicht schlecht am Aufbau eines großen stehenden Heeres. Selbstverständlich sagt der dir nur, was du hören willst.“
„Auch wir verdienen nicht schlecht, Vater, das weißt du“, erwiderte Reik.
„Offensichtlich, denn mein Sohn glaubt, unsere besten Pferde einfach verschenken zu können“, spottete der große, schwere Mann herablassend.
„Er gehörte mir.“
Unsicher blickte Mara von einem zum anderen. Der Streit schien an einem gefährlichen Punkt angelangt, jedes weitere Wort konnte eines zu viel sein. Seltsam, immer dann, wenn die Stimmen leiser wurden, nachdem sich zwei Menschen angeschrien hatten, wurde es erst wirklich schlimm. Dann, wenn die Stimmen beißend, ätzend wurden, die Worte bewusst verletzend.
Leise stand sie auf und trat ans Fenster. Jemand musste die Läden schließen, sonst würden die heftigen Böen noch die Scheiben eindrücken. Und die Palastbediensteten würden es nicht wagen, ins Zimmer zu kommen, solange Reik und sein Vater derart lautstark stritten.
Der Wind riss Mara fast den Fensterflügel aus den Händen, nachdem sie sie geöffnet hatte, um die Läden zuzuziehen. Sie spürte die Blicke der beiden Männer auf sich, auch wenn keiner sie direkt ansah, als sie an ihren Platz zurückkehrte. Immerhin hatten beide die Zeit genutzt, sich wieder zu setzen.
Und was sollte sie tun? Wenn die zwei nicht den Anfang machen wollten, sie würde es ganz bestimmt nicht tun. Ihre eigentliche Frage nach dem Warum war zwar nicht beantwortet worden, dafür wusste sie jetzt so ungefähr, wieso es schlecht aussah für Mandura. Und noch einige andere Dinge. Wer war dieser Marok, der König der Ostländer? Auf jeden Fall ein Mann in der Position, Mandura den Krieg zu erklären.
Mara schwieg weiter, zupfte am Verschluss der Ledermanschetten um ihre Handgelenke. Die Haut darunter juckte, sie brauchte dringend ein Bad, und außerdem hatte sie eiskalte Füße.
Schließlich räusperte sich der König und schaute Mara eindringlich an. „Meine Frau sagte, auch Ihr wäret der Überzeugung, es gäbe Krieg in Mandura.“
„Ja, das bin ich, Majestät.“
„Allein wegen eines Traumes?“
„Nicht nur“, entgegnete Mara. „Die Hohe Frau hat Euch also davon berichtet?“
„Das hat sie, mir und Reik. Und sie betonte, es wäre bis auf den letzten Satz exakt das gleiche gewesen, was ihr mein Sohn erzählt hättet.“
Mit einem Mal war Mara kalt, ihr Kopf schmerzte und ein Zittern überkam ihren gesamten Körper wie im Fieber. Sie senkte den Blick auf ihre Hände, sprach leise und ihre Stimme klang rau. „Ja … so drückte sie sich auch mir gegenüber aus. Oder vielmehr sagte sie, eine andere Person hätte ihr den Traum erzählt. Sie … sie deutete an … Sie hat mir nicht geglaubt!“
„Vielleicht war sie nur überrascht, Mara“, versuchte der König sie zu beschwichtigen. „Schließlich wäre das nur zu verständlich.“
Zweifelnd schaute Mara den König an. Sie konnte sich schwer vorstellen, dass Lorana damals so überrascht gewesen war. „Hat sie … hat sie anschließend auch mit Leif geredet?“
„Nein, warum sollte sie?“, verneinte der König irritiert. „Soviel ich weiß, ist sie gleich in den Tempel zurückgekehrt.“
„Aber … Sie muss es ihm doch gesagt haben! Er ist ihr Sohn, und sie kann nicht … Wenn sie mir schon nicht glaubt, er muss es wissen! Schließlich ist er verantwortlich für die Stadt!“
„Was muss mein Bruder wissen, Gènaija? Was hätte sie ihm sagen sollen?“ Reiks Stimme klang sehr ruhig, sehr beherrscht.
Mara hingegen starrte ihn verzweifelt an, krallte die Hände ineinander. „Dalgena … Dalgena wird … Reik, du musst es ihm sagen! Du musst es ihm unbedingt sagen, er muss es wissen! Ich … Es wird nichts ändern, aber er muss zumindest vorbereitet sein! Er soll in den Bergen Vorräte anlegen, er muss in die Berge gehen …“
Taumelnd stand sie auf und ging zum Kamin, wo es wenigstens warm war, legte die Unterarme auf den Kaminsims und starrte voller Verzweiflung in die lodernden Flammen. „Dalgena wird brennen … Dalgena ist die erste Stadt, die im Krieg zerstört wird. Ich weiß es. Ich habe es ihr gesagt, Réa und Bro waren dabei, sie … sie kann es doch nicht einfach vergessen haben!“
„Mara, Lorana hat mir gesagt, Ihr hättet keine Namen genannt, Ihr hättet nichts weiter gesagt“, bemerkte der König.
„Aber ich habe … Oh nein!“ Mara verstand. Sie hatte Lorana Namen genannt, den Namen der ersten Stadt, Dalgena. Und den Namen des Königs. Nur über die Konsequenzen hatte sie kein einziges Mal nachgedacht. Erst wenn ein König starb, konnte ein anderer König werden. Sie hatte Lorana offenbart, dass der alte König, Reiks Vater, in diesem Krieg umkommen und Reik König werden würde. Sie hatte den Tod des Königs prophezeit!
Die Hohepriesterin hatte sie hereingelegt, Mara hätte es ihr nicht sagen dürfen, niemals! Ein solches Wissen! Sie hatte einen Fehler gemacht, mochten die Ursachen für diesen Fehler auch noch so nachvollziehbar sein, es war ein unverzeihlicher Fehler! Stöhnend biss sie sich in den Handballen, wie hatte sie nur so dumm sein können?
Hände legten sich auf ihre Schultern und Reik drehte Mara zu sich herum, sah ihr ernst in die Augen. „Du hast Lorana gesagt, dass Dalgena als erste Stadt im Krieg zerstört wird?“
„Ja“, bestätigte sie leise.
„Und du bist dir sicher?“
„Ja.“ Sie war sich sicher.
„Hast du ihr noch mehr gesagt?“, fragte Reik ruhig.
Mara nickte. „Aber es war falsch, ich hätte es nicht tun dürfen. Ich habe ihr seinen Namen genannt.“
Niedergeschlagen wandte sie sich von ihm ab, starrte erneut ins Feuer.
„Wessen Namen, Gènaija?“
Sehr lange schwieg Mara. Warum sollte sie ihm antworten? Sie würde den Namen weder ihm noch seinem Vater sagen, sie hätte ihn überhaupt niemandem sagen dürfen. „Den Namen des Königs.“
Reiks Hände griffen fester zu. Er stand dicht hinter ihr, sie spürte die Wärme seines Körpers.
„Sagt mir den Namen, Mara.“ Die Worte des Königs klangen fordernd, wie ein Befehl. Mara schüttelte müde den Kopf, hielt sich am Kaminsims fest und schloss die Augen. „Nein.“
„Mara, Ihr werdet mir den Namen jetzt sagen!“ Die donnernde Stimme des Königs ließ die Gläser auf dem Tisch klirren, war laut und drohend, sehr nah. Wahrscheinlich war auch er aufgestanden. Reik ließ sie los. Schritte erklangen, Mara wurde herumgerissen und der König packte sie an den Oberarmen, hielt sie sehr fest. „Seht mich an!“
Mara hob den Kopf, blickte ihm kalt in die Augen und schob herausfordernd das Kinn vor. Es war eine ganz klare und einfache Erkenntnis, die sie fast lachen ließ: er konnte sie nicht zwingen zu antworten, konnte ihr keinen solchen Befehl erteilen. Der König von Mandura hatte ebenso wenig Macht über sie wie die Hohepriesterin der Tempel von Samala Elis, es war … irgendwie war es lächerlich.
„Ihr werdet mir antworten! Ihr werdet mir …“
Mit weicher, leiser Stimme unterbrach sie ihn. „Nein.“
Verblüfft starrte der König sie an. Einen Moment sah er aus, als wolle er sie gereizt schütteln. „Aber Ihr habt den Namen Lorana genannt, sie kennt ihn!“
„Und Ihr wisst, dass ich der Hohen Frau den Namen genannt habe. Würdet Ihr mich bitte loslassen, Majestät?“
Der König ließ seine Hände sinken.
Kraftlos ließ sich Mara in einen Sessel sacken, stützte die Ellenbogen auf die Knie und verbarg den Kopf in den Händen. Vielleicht hatte Lorana ja später noch mit Leif geredet, vielleicht hatte die Hohepriesterin ihr doch geglaubt, hatte ihn wenigstens gewarnt. Aber wenn nicht?
„Du wirst es ihm doch sagen, nicht wahr?“, fragte sie Reik leise.
„Natürlich, Gènaija. Sobald er morgen wieder im Palast ist, werde ich mit ihm reden, und wenn er mir nicht glaubt, dann hole ich dich. Dir wird er ganz sicher glauben.“
Es war so ein unpassender Zeitpunkt, gerade noch war Leif so aufgeregt, so voll froher Erwartungen gewesen, und jetzt eine solche Nachricht! Es war mehr als rücksichtslos, es war grausam, es war … Mara fing erschüttert an zu weinen, schluchzte hemmungslos, und es war ihr vollkommen egal, was der König denken mochte! Oder Reik. Die beiden hatten sich in ihrer Anwesenheit gestritten wie zwei … und das war grob unhöflich. Sie hatte jedes Recht, in Tränen auszubrechen. Warum sollte sie sich beherrschen, wenn sie es nicht taten, sie war schließlich nur ein siebzehnjähriges Mädchen!
In all dem Elend erfüllte Mara plötzlich eine große, unbeschreibliche Freude. Ein Gefühl überwältigenden Glückes durchflutete sie wie eine riesige, alles mit sich reißende Woge. Erstaunt hob sie den Kopf, lächelte unter Tränen; die Kerzen schienen heller zu brennen, strahlender, die Flammen des Feuers höher zu lodern, sogar der stürmische Wind riss übermütiger an den Fensterläden.
„Mara?“ fragte der König verwundert. „Was ist mit Euch, was habt Ihr denn?“
„Ich … Majestät, ich weiß nicht, ob das hier üblich ist, aber …“
Der König sah sie fast schon besorgt an. „Ja?“
„Majestät, ich möchte Euch zur Geburt Eures Enkels beglückwünschen.“
Fassungslosigkeit machte sich auf seinem Gesicht breit, dann ein befreites Lächeln. „Was? Jetzt? Ist das wahr?“
Mara nickte heftig und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, was gänzlich nutzlos war. „Ja!“
„Oh, das … Ihr werdet hoffentlich verstehen, dass ich das so schnell wie möglich meiner Frau mitteilen möchte und … Danke, Mara, ich danke Euch. Ich wünsche Euch eine gute Nacht und angenehme Träume. Reik.“
Seine Majestät, der König, war aus dem Zimmer geeilt, bevor Mara auch nur aufstehen und etwas erwidern konnte.
(1. Tag Monat SSW)