Читать книгу Winterkönig - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 8

Kapitel 5 – Nächtens

Оглавление

Sina und Mara gelangten noch rechtzeitig in den Tempel, der Speisesaal hatte sich allerdings schon merklich geleert. Nur noch einige ältere Priesterinnen, die Mara nicht näher kannte, saßen in einer entfernten Ecke des großen Raumes.

Sina machte sich mit Heißhunger über ihren Fisch her, während Mara lustlos auf ihrem Teller herumstocherte, ihn schließlich weit von sich schob.

„Was dagegen, wenn ich deinen Fisch aufesse, Süße?“, fragte Sina prompt.

„Nein, nimm dir ruhig.“

„Danke. Weißt du, ich werde nicht recht schlau aus dir, warum bist du so unzufrieden?“

„Müssen wir wirklich hier darüber reden?“, wich Mara aus.

Verdutzt schaute Sina sie an. „Nein, natürlich nicht … aber wo dann?“

„Egal, wo, Hauptsache allein“, erwiderte Mara. „Ich war noch nie in deinem Zimmer.“

„Schön, gehen wir in mein Zimmer“, stimmte Sina verblüfft zu. „Was ist jetzt eigentlich mit deinem Kleid?“

„Wieso?“, fragte Mara irritiert. „Ich habe es an, was soll damit sein?“

„Das Kleid meine ich nicht“, erklärte Sina, als spräche sie mit einem Kleinkind. „Das andere, das du zum Fest tragen willst.“

„Ach das. Réa kümmert sich darum. Morgen Nachmittag kommt eine Schneiderin mit einigen Vorschlägen und Stoffen zu ihr. Ich verstehe immer noch nicht, wozu dieser ganze Aufwand gut sein soll. Ich habe ein Kleid, es ist wunderschön und jeder sagt mir, dass ich darin wie eine Fee aussehe. Reicht das nicht?“

„Nein. Natürlich siehst du in dem Kleid wunderschön aus, nur hattest du es im Palast schon zwei Mal an.“

„Was spricht dagegen, es ein drittes Mal anzuziehen?“, wollte Mara wissen, und man hörte deutlich den Groll in ihrer Stimme.

„Jeder erwartet von dir, dass du ein neues Kleid trägst“, machte Sina ihr klar. „Außerdem ist dies hier kein Sommerkleid.“

„Was ihr in Mandura als Sommer bezeichnet, ist ja auch kein richtiger Sommer. Mein Kleid ist durchaus angemessen für das derzeitige Wetter.“

Sina schüttelte amüsiert den Kopf. „Es wird noch wärmer, Süße.“

„Ach ja?“, erwiderte Mara ironisch. „Und es ist wohl sowieso egal, was ich sage, nicht wahr?“

„Absolut. Und da du nicht bezahlen musst, kann es dir auch egal sein.“

„Und wer bezahlt?“, wollte Mara wissen.

„Keine Ahnung, womöglich der König selbst?“ Sina zuckte die Achseln.

„Warum der König?“ Mara wurde neugierig. „Es war Lorana, die mich hier haben wollte. Da ist es doch angemessen, wenn sie oder der Tempel für meine Garderobe aufkommt, oder? Hat sie bei den Schuhen doch auch gemacht.“

„Äh, ja, richtig“, erwiderte Sina stockend und biss sich auf die Lippen. Sie blickte Mara betont offen an. „Nehmen wir den Nachtisch doch bei mir ein, oder? Geh schon mal vor, den Weg kennst du ja.“

„Ja“, bestätigte Mara. „Über den Hof, dann in die obere Etage, das südwestliche Eckzimmer zum Innenhof.“

„Ich hätte es kaum besser erklären können. Sieh dich ruhig um.“


Mara ging am Brunnenhaus vorbei über den gepflasterten Hof und gleich wieder ins nächste Gebäude, ins obere Stockwerk.

Also der König würde bezahlen, gut zu wissen. Oder zumindest jemand aus der Umgebung des Königs? Jedenfalls der Palast, nicht jedoch der Tempel.

Auf dem Gang nahm sie eine Kerze von der Ablage und entzündete sie an einer der Fackeln, die in regelmäßigen Abständen in Haltern an der Wand brannten. Dann betrat sie Sinas Zimmer.

Der Raum war nicht besonders groß und zweckmäßig eingerichtet: ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Sessel vor dem Kamin an der rechten Wand, an der linken Wand ein Waschtisch mit einem Schemel davor, daneben eine Truhe. Rechts neben der Zimmertür standen ein großer Schrank sowie eine zweite Truhe. Über Eck war eine Ablage angebracht. Schräg gegenüber der Tür befand sich das Fenster. Mara zog den Vorhang zur Seite und schaute in den Innenhof hinab.

Mehr als die Hälfte der Fensterwand wurde von einem weiteren Vorhang verdeckt, Mara linste neugierig an ihm vorbei. Ein Bett, ein Bett in der Wand! Es gab sogar ein kleines Fenster an seinem Ende, sie war begeistert. Unterhalb des Bettes, verdeckt vom Vorhang, gab es Türchen wie zu einem Schrank.

Das Zimmer gefiel ihr, und ihr fiel auf, wie aufgeräumt es war. Keine Gegenstände lagen auf dem Boden, über den Stuhllehnen hingen keine Kleidungsstücke, das Bett war ordentlich gemacht. Ein Handtuch lag gefaltet neben der Waschschüssel, ein Hemd oder eine Tunika sorgsam zusammengelegt auf einem der Stühle. Sogar die Papiere auf dem Tisch waren übereinander gestapelt, nicht überall verteilt, wie bei ihr. Mara grinste, als sie ihre achtlos von den Füßen gestreiften Schuhe sah, die mitten auf dem ansonsten leeren, sauber gefegten Boden lagen, und entzündete noch einige Kerzen auf dem Kaminsims.

Sina trat ein und stellte zwei Schalen auf dem Tisch ab. „Ist ja richtig hell hier, warum so viele Kerzen?“

„Ich mag nicht, wenn es so dunkel ist. Wie ordentlich es hier ist“, lobte Mara. „Ich bin wirklich überrascht.

„Kann ja nicht jeder so unordentlich sein wie du, Süße“, lachte Sina.

„Pah. Bestimmt bist du in Wirklichkeit gar nicht ordentlich, sondern tust nur so. In den Truhen und Schränken und unter dem Bett herrscht hingegen das größte Durcheinander.“

„Hast du nicht nachgesehen?“, fragte die Tempelwächterin.

„Nein. Ich war mir nicht sicher, ob ‚sich umsehen’ auch ‚in den Schränken stöbern’ beinhaltet.“

Sina lachte. „Ich finde es wundervoll, wenn du so redest, ich könnte dir den ganzen Tag zuhören. Und dich dabei ansehen.“

„Wirklich?“, erwiderte sie. „Ist das nicht etwas langweilig?“

„Aber nein. Es ist sehr … lebendig, du sprichst mit dem ganzen Körper. Jedenfalls, wenn du nicht gerade mit Lorana redest oder aus irgendwelchen Gründen meinst, du müsstest dich kontrollieren. Das wäre tatsächlich langweilig.“

Mara nickte, setzte sich in den Sessel und probierte den Nachtisch. „Schmeckt gut, was ist in der anderen Schale?“

„Kirschen, Bes hat sie extra für dich aufgehoben. Weil du doch Kirschen so liebst.“

Sie stimmte begeistert zu. „Die am Baum vor meinem Fenster sind leider noch nicht reif, aber die Vögel mögen sie jetzt schon.“

„Sag der Katze, sie soll sie jagen“, schlug Sina vor.

„Wozu, damit sie mir auch noch halbtote Vögel als Geschenk anschleppt?“, wehrte Mara ab. „Mäuse reichen mir.“

„Was machst du mit ihnen?“

„Kommt darauf an. Wenn sie nur leicht verletzt sind, trage ich sie hinaus und lasse sie laufen“, erklärte sie knapp.

„Und sonst?“

Wortlos lächelte sie Sina an und leckte genießerisch den Rest Nachspeise vom Löffel.

„Du bist grausam, Süße, das machst du doch absichtlich!“, hielt Sina ihr vor.

„Was meinst du?“

„Du sitzt ganz unschuldig in deinem verführerischen Kleid, erzählst Scheußlichkeiten und schleckst dir dabei auch noch die Finger ab!“

„Den Löffel“, korrigierte Mara ruhig.

„Dann eben den Löffel, ist doch egal. Es ist wie mit dieser Geschichte, die du im Badehaus erzählt hast. Du wusstest genau, wie ich darauf reagieren würde, und hast dich auch noch gerekelt, nur um mich verrückt zu machen!“, ereiferte sich Sina.

„Ich habe mich nicht gerekelt“, widersprach Mara.

„Aber du hast gelächelt, hast mich angesehen und gelächelt, das ist fast das gleiche. Und du bist dir genau über deine Wirkung im Klaren, die du auf mich ausübst.“

„Weil du es mir gesagt hast.“

Resigniert verzog Sina das Gesicht, dann lächelte sie schelmisch. Also war sie wohl nicht ernsthaft wütend auf sie. „War wohl etwas unvorsichtig von mir, ich unterschätze dich. Du bist alles andere als ungefährlich, Süße, und du weißt viel zu viel. Hast du die Geschichte schon Jula erzählt?“

„Die vom Faun? Nein, natürlich nicht. Das ist keine Geschichte für Männer.“

„Und was wäre eine Geschichte für Männer?“, hakte Sina nach.

„Keine Ahnung, ich kenne mich mit Männern nicht aus. Was sind das für Papiere?“ Mara deutete auf den Stapel am anderen Ende des Tisches.

„Beurteilungen der Priesterschülerinnen. Willst du sie lesen?“

„Nein, das geht mich nichts an“, wehrte Mara ab. „Und wie ich ihr Verhalten sehe, weiß ich ja.“

„Überaus kritisch“, befand Sina.

„Hat Milla sich bei dir beklagt? Ihr gefällt nicht, was ich gesagt habe. Sie meint, weil ich mit ihr befreundet bin, müsste ich alles, was sie tut, in einem milderen Licht sehen. Aber das wäre unehrlich.“

„Ich weiß.“ Sina setzte sich zu ihr. „Allerdings ist ‚überängstlich, zaghaft und viel zu vorsichtig’ wirklich ein recht hartes Urteil, auch wenn ich dir im Kern zustimme. ‚Vorsichtig und nicht bereit, ein unnötiges Risiko einzugehen’ klingt viel netter, diplomatischer.“

„Das ist aber nicht das gleiche“, begehrte Mara auf. „Und wenn ihr meine Meinung nicht gefällt, warum fragt sie dann überhaupt? Sie kennt mich doch, ich bin nicht diplomatisch und meistens nicht einmal nett.“

„Ach Mara, nimm dir das doch nicht so zu Herzen. Wollte Milla Tempelwächterin werden, würde ich ihr ebenfalls nahelegen, sich das noch einmal sehr gründlich zu überlegen, weil es meiner Meinung nach völlig falsch wäre. Aber sie wird zur Priesterin geweiht und muss nicht mit einem Schwert umgehen können. Dafür kann sie mit Menschen umgehen, wenn sie auch mitunter noch etwas schüchtern ist, und sie kann singen.“ Sina kam um den Tisch herum, ging vor Mara in die Hocke und ergriff ihre Hände. „Mara, meine Süße, es geht nicht nur um Milla, stimmt's nicht? Oder um Réa, mit der du dich ja wohl heute Nachmittag gestritten hast, oder worum auch immer. Was ist wirklich los, Süße, willst du nicht darüber reden?“

Mara senkte den Kopf, biss sich auf die Lippen und vermied es, Sina anzusehen. Sie hätte Sina nur zu gern ihr Herz ausgeschüttet, doch wenn sie jetzt anfing, würde sie anfangen zu weinen, und das wollte sie auf keinen Fall. „Sina?“

„Ja?“

„Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“, fragte sie leise.

„Ja, klar, kannst du.“

„Danke.“ Verzagt lächelte Mara sie an.

Sina blickte ihr ernst ins Gesicht. „Du musst dich nicht bedanken. Hast du geglaubt, ich würde nein sagen, da du hier schlafen willst, weil du dich einsam fühlst, und nicht, weil du vor lauter Verlangen nicht mehr still sitzen kannst?“

„Eigentlich nicht, nein“, überlegte sie.

„Dann ist es ja gut“, meinte Sina nur.

„Musst du auch über mich eine Beurteilung schreiben?“, wollte Mara wissen.

„Nein, wieso? Oder willst du Priesterin werden?“

Mara lachte und nahm sich eine Handvoll Kirschen. „Nein, ich dachte nur, es wäre interessant zu erfahren, wie dein Urteil über mich ausfällt.“

„Das würde ich dir wohl kaum verraten, wenn ich Lorana Bericht erstatten sollte“, wehrte Sina lachend ab. „Muss ich aber nicht, und wenn überhaupt, ist das Malins Aufgabe. Ich glaube im Übrigen nicht, dass sich Lorana dafür interessiert, wie du dich im Schwertkampf anstellst. Außerdem habe ich dir gesagt, was ich darüber denke.“

„Hast du.“ Mara blieb hartnäckig. „Aber vielleicht schreibst du etwas anderes als das, was du mir gegenüber zugibst?“

„Ich drücke mich vielleicht gewählter aus, das ist aber auch schon der einzige Unterschied.“

Mara wechselte das Thema. „Wie wird man eigentlich Priesterin?“

„Wieso interessiert dich das auf einmal? Du hättest Réa längst fragen können, die kann dir sicherlich mehr erzählen als ich.“ Sina streifte die Stiefel von den Füßen, stellte sie ordentlich neben den Stuhl, auf dem bereits die frische, gefaltete Tunika lag, und hängte, ebenso ordentlich, Schwertgürtel und Kettenhemd über die Stuhllehne.

„Hast du morgen Wachdienst?“, erkundigte sich Mara.

„Ja, noch vor Sonnenaufgang, am Eingang zum Tempel.“ Dann kam sie auf Maras Frage zurück: „Also sag schon, warum?“

„Lorana deutete vorgestern an, sie würde mich zur Priesterin weihen, wenn ich den Wunsch danach hätte“, berichtete Mara. „Ich halte es aber für wahrscheinlicher, dass sie unbedingt will, dass ich Priesterin werde. Jedenfalls bekam sie ziemlich schlechte Laune, als ich ablehnte.“

Verblüfft musterte Sina sie. „Das kann ich mir vorstellen. Und jetzt möchtest du gern wissen, was du da so leichtfertig abgelehnt hast?“

„Nicht leichtfertig. Sina, ich bin Magierin und kann nicht zugleich Priesterin sein. Ich wäre Lorana, dem Tempel verpflichtet und … das geht nicht“, erklärte sie schlicht.

„Oh je, ein ziemlicher Gewissenskonflikt, stimmt's? Ehrlich gesagt habe ich nie besonders intensiv darüber nachgegrübelt, was es bedeutet, Zauberin oder Magierin zu sein.“

Maras Lachen klang fast ein wenig hilflos. „Was es bedeutet? Das kann ich dir auch nicht sagen. Ich weiß nicht einmal, was ich überhaupt kann, wo meine Grenzen sind.“

„Probiere es doch einfach aus“, meinte Sina.

„Wenn du dich für Versuche zur Verfügung stellen willst. Manche Dinge …“, sie verstummte, konnte Sina nicht erklären, wofür sie selbst kaum Worte fand. Sie ahnte nur, dass sehr viel möglich und die Grenzen erschreckend fern waren. Dann fuhr sie fort: „Du sagtest vorhin, ich wüsste viel zu viel. Dabei ist das Gegenteil ist der Fall: ich weiß viel zu wenig. Ich weiß nicht einmal, worüber ich nichts weiß.“

„Armer Schatz“, bedauerte Sina sie aufrichtig. „Und aus diesem Grund musst du in all diesen alten Papieren und Schriften wühlen, anstatt anständige Dinge zu tun?“

„Ich muss eben lernen. Würdest du bitte mein Kleid aufmachen, allein ist das etwas schwierig.“

„Nichts lieber als das, Süße.“

„Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich…“, wollte sich Mara entschuldigen.

„Dass du nackt schlafen musst, weil du kein Unterkleid als Nachthemd da hast? Nein. Ich habe dich schon häufiger nackt gesehen, da werde ich ein weiteres Mal auch noch ertragen.“

Deutlich spürte Mara, dass Sina mit den Händen wie zufällig immer wieder die nackte Haut ihres Rückens berührte, während sie die Bänder ihres Kleides löste. Es überraschte Mara nicht, dass Sina zärtlich ihre Schultern küsste, ihren Nacken. Wohl aber, dass Sina sie umdrehte, nachdem sie das Kleid von ihren Schultern gestreift hatte und es zu Boden glitt, sie lange betrachtete und dann sehr zärtlich ihren Mund küsste. Ihr Blick schien zu flackern, doch vielleicht war das nur das Kerzenlicht. Ihre Stimme klang wie immer, etwas heiser, mit einem spöttischen Unterton. „Ab ins Bett, Süße. Und deck dich zu, du bist ganz kalt.“

Mara stieg ins Bett, kuschelte sich in die weichen Decken und kam sich vor wie ein Tier in seiner Höhle, sicher und geborgen. Als Sina zu ihr ins Bett kam und die Schale mit den Kirschen zwischen sie beide stellte, fühlte sie sich unendlich wohl. Sie genoss die Situation, die leichte, knisternde Spannung, die zwischen Sina und ihr herrschte.

„Dass du diese sauren Dinger so liebst, ist mir vollkommen unverständlich“, erklärte Sina.

„Aber sie sind doch köstlich.“ Dann forderte sie ihre Freundin auf: „Erzählst du mir jetzt vom Tempel und davon, wie man Priesterin wird?“

„Aber gern. Also, Priesterin wird man ... wenn man sich berufen fühlt. Den starken, unwiderstehlichen Wunsch verspürt, den Göttern zu dienen und den Menschen zu helfen. Das gilt ganz besonders für die Heilerinnen. Eine Frau muss mindestens sechzehn Jahre alt sein, um als Schülerin im Tempel aufgenommen zu werden, dasselbe Alter, das ein Bursche haben muss, um Soldat werden zu können.“

„Aber Jula war noch nicht sechzehn“, wandte Mara ein.

„Nein, er hat wohl ein bisschen mit seinem Alter gemogelt“, meinte Sina lapidar. „Im Übrigen ist er auch zu jung, um Gardist zu sein, er ist noch keine zwanzig.“

„Ich weiß.“

„Natürlich weißt du das, die Frage ist wohl eher, ob Reik das weiß“, Sina betonte jedes Wort mit Nachdruck.

„Ja, Jula hat es ihm gesagt.“

„So? Und weiß Reik auch von dir?“, wollte Sina wissen.

„Von mir?“

„Weiß er, dass Jula sich fast jeden Abend mit dir trifft?“

„Das meinst du.“ Mit einer vagen Geste hob sie die Schultern. „Keine Ahnung. Reik weiß eine ganze Menge, warum nicht auch das? Wenn er es genau wissen will, soll er mich halt fragen, schließlich weiß er, wo ich mich aufhalte.“ Ihre Stimme klang jetzt brüsk.

„Täusche ich mich, oder kann es sein, dass du ein wenig gereizt auf das Thema Reik reagierst?“, fragte Sina behutsam.

Irritiert schüttelte Mara den Kopf. „Nein, warum sollte ich?“

„Weil es sich so anhört, Süße.“

„Das hat nichts mit Reik zu tun. Aber offenbar will jeder von mir aufregende und romantische Geschichten über ihn und mich hören, sehr … persönliche Erlebnisse, und dazu bin ich nicht bereit. Ich habe Reik seit meiner Ankunft in Samala Elis nicht gesehen, geschweige denn mit ihm geredet. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

„Und du bist doch gereizt.“

Mara zuckte nur die Achseln und schwieg.

„Zurück zu den Priesterinnen“, setzte Sina das einmal begonnene Thema fort. „Es findet ein längeres Aufnahmegespräch statt, um sicher zu gehen, dass es der angehenden Priesterin ernst ist. Wie das genau abläuft, weiß ich nicht, ich war nie dabei. Die Frau, oder sagen wir lieber das Mädchen, muss bis zu ihrer Weihe Jungfrau bleiben, bis zum Ende der Schülerinnenzeit also, ungefähr zwei, drei Jahre nach Aufnahme in den Tempel. Nach der Weihe ist sie noch keine fertige Priesterin, doch sie genießt bereits den vollen Schutz und die Obhut des Tempels.“

„Warum muss sie jungfräulich sein?“, wollte Mara wissen.

„Tradition. In früheren Zeiten durften Priesterinnen gar keinen körperlichen Kontakt zu Männern haben, höchstens bei besonderen religiösen Anlässen, bei Ritualen im Tempel.“. Sie blickte Mara an. „Sieh mich nicht so an, das ist wahr! Das wurde aber längst abgeschafft, vielleicht, weil es kaum noch Frauen auf sich nehmen wollen, Priesterin zu sein. Heute gilt diese Anforderung noch für die Zeit als Schülerin. Die Arbeit einer Priesterin ist nicht immer einfach und sie erfordert viel Geduld und Standhaftigkeit. Aber sie bringt auch ’ne Menge Ansehen und den Schutz des Tempels, der Götter sogar, wie manche meinen, aber das ist wohl eher eine Glaubensfrage. Du unterstehst einzig dem Tempelgesetz, auch als Tempelwächterin.“

„Was besagt das Tempelgesetz denn?“, fragte Mara sofort.

„Es regelt so gut wie alles im Tempel und im Tempelbezirk. Zum Beispiel schreibt es vor, dass Männer in Tempelangelegenheiten nicht viel zu sagen haben, die dürfen nicht einmal bewaffnet in den Tempel hinein. Hm, das gilt aber nicht für den König“, schränkte Sina ein. „Oder, heutzutage, für Gardisten im Dienst. Ich nehme an, das war auch sinnvoll. Waren ohnehin seltsame Zeiten damals, angeblich wurden sogar Menschen geopfert. Vielleicht ist das aber auch nur so eine Geschichte.“

„Menschenopfer – im Tempel?“ Mara lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

„Im Tempel unter dem Tempel. So heißt es jedenfalls.“

Ein Grund mehr für Mara, unbedingt an den Schlüssel zu den Gewölben heran zu kommen. Und wenn es dort einen weiteren Tempel gab …

„Was denkst du jetzt, Süße?“ Sina wickelte eine Strähne von Maras Haar um den Zeigefinger, sah sie aufmerksam an.

„Ich muss morgen dringend mit Lorana sprechen.“

„Du wolltest auch mit dem König reden“, erinnerte Sina sie.

„Ja, aber erst mit Lorana. Ist wohl … diplomatischer.“

„Hört sich wie eine Drohung an, Süße, wenn du vorhast, diplomatisch vorzugehen.“

Mara lachte, um gleich darauf genüsslich zu gähnen. „Keine Drohung.“

„Du bist wirklich müde, hm?“, fragte Sina.

„Ja, sehr.“

„Dann … ich lösche die Kerzen, lasse den Vorhang aber offen, in Ordnung? Auch den vorm Fenster.“

„Wie du möchtest …“, stimmte sie zu. „So schlimm ist es nicht.“

Im Halbschlaf fragte sie sich, was Sina denn noch so lange machte, wohl kaum aufräumen. Sie schlief schon fast, als Sina wieder ins Bett kam, ihr fürsorglich die Decke über den Rücken zog und Mara noch einmal übers Haar strich. „Schlaf schön, meine Süße, und lass dich von mir nicht stören.“

Mara tastete nach Sinas Hand und hielt sie fest. „Mich könnte nicht mal ein Gewitter wecken.“


Sina streichelte ihren Rücken, immer das Rückgrat entlang, hinauf und wieder hinunter. Sehr beruhigend, sehr schön. Es war dunkel, mitten in der Nacht, Regen prasselte ans Fenster.

Mara wandte den Kopf in Richtung der Tempelwächterin.

„Du hast geträumt, Schatz. Mit einem Mal wurdest du ganz unruhig, hast vor dich hin gemurmelt und gestöhnt. War der Traum … sehr schlimm?“, fragte Sina behutsam.

„Hm, auf jeden Fall sehr verstörend. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.“

„Hast du nicht, ich war ohnehin wach. … Ich habe nachgedacht, über dich.“

„Warum?“, wollte Mara wissen.

„Weil du hier bist.“

„Oh.“

Sacht zeichnete Sina mit der Fingerspitze die Narben auf ihrem Rücken nach, schob dabei langsam und behutsam die Decke tiefer nach unten.

„Kora sagte, die Narben würden niemals ganz verschwinden, ich würde sie mein Leben lang behalten“, erzählte Mara.

„Was ist passiert?“ Sinas Stimme klang belegt, während ihre Hand warm und mit leichtem Druck auf Maras Rücken lag.

„Ich … wurde bestraft, mit der Peitsche, fünfzehn Schläge. Oder sagt man ‚Hiebe‘? Mein Manduranisch erscheint mir mitunter ziemlich dürftig. Nach dem siebten Hieb verlor ich das Bewusstsein, aber ich glaube, sie haben trotzdem weitergemacht. Ich konnte ewig nicht auf dem Rücken liegen. Seitdem schlafe ich auf dem Bauch, oder auf der Seite.“

„Was hattest du denn Schreckliches verbrochen?“ Sina hatte sich erstaunlich gut unter Kontrolle, auch wenn Mara die Bestürzung aus ihrer Stimme heraushörte.

Aber das machte das Erzählen seltsamerweise einfacher. Sie setzte sich auf, sie mochte nicht liegen, wenn die unangenehmen Erinnerungen ihr so nahe rückten. „Ich habe ein Schwert berührt.“

„Das … das ist doch kein Grund!“ Aus Sinas Stimme klangen Fassungslosigkeit und Entsetzen.

„Auf Ogarcha schon. Weißt du, oft beneide ich die Menschen um die Fähigkeit, vergessen zu können. Ich hingegen kann nicht vergessen, ich durchlebe alles immer wieder neu. Die gleiche Qual, den gleichen Schmerz, die Demütigung. Die Gerüche sind da, die Geräusche, die Berührungen. Ich sehe immer wieder die Verzweiflung in den Augen meines Vaters, fühle meinen Hass auf ihn. Nichts ändert sich, nichts verblasst.“ Schweigend blickte sie auf ihre Hände, lächelte, als sie daran dachte, dass sie inzwischen Unterricht im Schwertkampf erhielt. Sie rannte ständig mit einem an die Wade geschnallten Messer herum, obwohl sie es jetzt im Bett natürlich abgenommen hatte. „Danach war ich lange Zeit krank, hatte hohes Fieber, die Verletzungen heilten anfangs ziemlich schlecht. Kora meinte mal zu mir, ich sei mit Absicht so krank, um meinen Vater … um mich an meinem Vater zu rächen, weil er mich nicht in Schutz genommen hat.“

„Was war mit deiner Mutter?“, fragte Sina leise.

„Sie war zu dieser Zeit schon lange tot, sie starb, als ich fünf war.“

„Und wie alt warst du, als … als das passierte?“

„Elf, fast zwölf. Und dann, ich bin natürlich doch wieder gesund geworden, wenn auch sehr langsam, ist mein Vater auf die Jagd gegangen, Wolfsjagd. Seltsam, mein Vater war ein wirklich guter Jäger, doch an diesem Tag im Spätherbst war der Wolf schneller, er hat ihn getötet. Und … und der Wolf ist das Wappentier von Reiks Familie, und Reik hat Ludeau getötet.“

„Wer ist Ludeau?“, fragte Sina irritiert.

„Unwichtig, er hat mir einmal sehr wehgetan. Jedenfalls ist er tot. Und ich habe geträumt, auf Ogarcha. Vermutlich würde Lorana es eine Vision nennen. Jedenfalls habe ich geträumt, von einem Wolf gejagt zu werden. Nicht das erste Mal, dass ich davon träumte, aber dieses Mal hat er mich erwischt und mir die Kehle aufgerissen, ich konnte spüren, wie mein Blut an mir herabfloss, wie ich verblutete. Ich sah mein eigenes Sterben, verstehst du, und Reik hat mir dabei zugesehen!“

Sina schüttelte verwirrt den Kopf. „Wieso Reik?“

„Er war bei mir, als ich träumte, er stand vor mir, ich nahm seinen Geruch wahr und wollte weg. Aber ich konnte mich nicht rühren und plötzlich träumte ich, Reik war der Wolf, und er war es, der mich tötete. Er sagte, es hätte ausgesehen, als hätte mir ein Tier die Kehle zerfetzt. Er hat das Blut gesehen, mein Blut. Er war vollkommen durcheinander.“

„Du meinst, er hat deinen Traum gesehen, aber nicht … Er hat nicht gesagt, dass er selbst dieser Wolf in deinem Traum war, dass er es nur miterlebt hat, sozusagen als Beobachter?“, fasste Sina zusammen.

„Genau“, bestätigte Mara.

„Aha. Und was soll das bedeuten?“

„Ich weiß es nicht. Es war … es war so ein merkwürdiges Gefühl, ich war die Beute, sah … beobachtete mich selbst … Und der Jäger … ich hatte entsetzliche Angst, konnte mich nicht mehr bewegen, ihn nur anstarren. und doch … Alles erschien mir so einfach, als gäbe es keinerlei Zweifel mehr, nur die Gewissheit, sterben zu müssen, jetzt, es war … endgültig, und in dem Augenblick, in dem winzig kurzen Moment, bevor ich starb, erlebte ich ein Gefühl von … Ekstase.“

„Du … Mara, Schatz, du hast … oh, Ihr Götter!“ Sinas Stimme klang wie ein Stöhnen, beinahe wie ein Flehen. Plötzlich richtete sie sich abrupt auf, zog Mara ungestüm an sich und küsste sie, gierig und zugleich überaus zärtlich und sanft. Dann bedeckte sie Maras Körper mit Küssen. Mara wand und bog sich ihr entgegen, damit Sina keine Stelle ihres Körpers ausließ.

Die Sorge war unbegründet, Sina ging ausgesprochen gewissenhaft vor. Es war vollkommen anders als mit Anella. Aber Sina war eben nicht Anella. Sie war eine erwachsene Frau, eine erfahrene Frau, und sie wollte Mara, wollte ihren Körper. Und sie wusste genau, was sie tat, was sie mit ihr tat, und sie tat es so gut!

Mara lachte auf, atemlos vor geradezu wilder Freude, nur um gleich darauf vor Lust zu stöhnen und danach alles gleichzeitig. Aber vielleicht war es auch Sina, vielleicht war sie auch einer Ohnmacht nahe, weil sie wieder einmal viel zu schnell atmete, doch sie konnte und wollte nicht damit aufhören, weil es so schön war.

Nur langsam beruhigte sich Maras Atem, während sie ihren vom Schweiß feuchten Körper an Sinas drückte, träge vor gesättigtem Verlangen, schwer vor Müdigkeit. Sie spürte, wie Sinas Arme sie umschlangen, nahm den leichten Duft ihres Schweißes wahr, schmeckte ihn salzig auf ihrer Haut. Sie hörte Sinas Herzschlag, konnte ihn unter ihren Fingerspitzen auf ihrer Brust fühlen.

„Schläfst du schon, Süße?“

„Hm … fast.“

„Es geht dir doch gut?“

„Ja … sehr. Und dir?“

„Auch, wirklich“, bestätigte Sina. „Obwohl ich nicht damit gerechnet habe, dass du in meinen Armen ohnmächtig wirst.“

Mara grinste, was sollte sie dazu sagen? Dass es Reik ähnlich ergangen war?

„Du bist entzückend, Süße … meine süße, kleine Zauberin, meine Göttin.“

Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief Mara ein. Im Halbschlaf bemerkte sie wenig später, wie Sina leise aufstand, sich ankleidete und das Zimmer verließ.


Als Mara benommen den Kopf hob, stand die Sonne schon hoch am Himmel, es regnete ausnahmsweise nicht. Sie verspürte Hunger, also stand sie eilig auf und suchte ihre Sachen zusammen. Waschen und richtig anziehen konnte sie sich auf ihrem Zimmer. Das Frühstück hatte sie verpasst, doch Bes würde in der Küche sicherlich noch etwas für sie haben. Bes hatte immer etwas zu essen für Mara.


(84. Tag)

Winterkönig

Подняться наверх