Читать книгу Winterkönig - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 4
Kapitel 1 – Im Tempelbezirk
ОглавлениеDas Frühstückszimmer der königlichen Familie im ersten Stock des Palastes war ein mäßig großer, wohnlicher und an Tagen wie diesen sonniger Raum. Reik mochte die hellen Farben, die fast schon schlicht zu nennende Einrichtung, nicht so üppig und überladen wie manch anderes Zimmer. Mit großen Schritten eilte er die breite Treppe hinauf und ließ sich von dem Gardisten die Tür öffnen.
Im nächsten Moment fiel ihm seine Schwester Tessa freudestrahlend um den Hals. „Oh Reik, wie schön, ich habe gar nicht damit gerechnet … Mama sagte, du müsstest in den Tempel …“
„Musste ich auch“, unterbrach er ihren Wortschwall und drückte sie kurz an sich, bevor er sich höflich und mit einem schelmischen Lächeln vor seiner Mutter verbeugte, grinste. „Aber hier bin ich in angenehmerer Gesellschaft.“
Die Königin, Alina Sadurnim, unterdrückte ein Lachen und nickte ihm zur Begrüßung zu. „Du bist also der kleinen … unserem Gast nicht begegnet?“
„Nein, nur Réa.“ Er nahm neben Tessa Platz und griff sich eines dieser köstlichen, noch warmen kleinen hellen Brötchen. „Die Hohe Frau war nicht sonderlich guter Laune.“
„Ach nein?“ fragte seine Mutter mit emporgezogenen Augenbrauen.
„Na ja, gleich morgens ein Gespräch mit mir ...“ Wie schon oft fragte sich Reik, ob sein Verhältnis zu Lorana besser, einfacher, wäre, gäbe es seinen Bruder Leif – Loranas Sohn – nicht. Oder hätte der ältere nicht bei der Probe versagt. Warum auch mussten sie Konkurrenten sein? Doch die Frage war müßig; die Dinge waren, wie sie waren, sie beide die Söhne ihres Vaters. Des Königs von Mandura.
Und Mandura brauchte einen Winterkönig. In diesem Punkt war er sich mit der Hohen Frau, Lorana, ausnahmsweise einig gewesen.
„Außerdem ist sie, wie soll ich sagen, unzufrieden. Ihre Zauberin entspricht nicht so ganz ihren Erwartungen und sagt ihr wohl nicht all das, was sie zu wissen wünscht.“
„Ist das Mädchen etwa wirklich so dumm, Lorana gegen sich aufzubringen? Sie ist noch nicht einmal einen Tag hier.“
„Wenn du mich fragst, nein.“ Er verzog das Gesicht. „Aber ich halte Gènaija für eine recht eigensinnige Person, die mitunter nicht weiß, was das Beste für sie ist. Oder es nicht wissen will.“
Alina tunkte ein Stück Kuchen in ihren Tee und musterte ihn dabei aufmerksam. „Klingt für mich nach einer ziemlich kindischen Person.“
„Nein, das wirklich nicht.“ Er schüttelte abwehrend mit dem Kopf. „Aber sie kann furchtbar stur sein. Du solltest sie kennenlernen. Vielleicht habe ich mich unklar ausgedrückt. Gènaija ist …“ Er hob die Hand, ließ sie dann aber mit einem Seufzer wieder sinken.
„Du meinst, nicht kindischer als andere in ihrem Alter?“ beendete seine Mutter den Satz. „Und zudem ein ungewöhnlich hübsches Mädchen, das dir nicht mehr aus dem Kopf geht.“
Er lachte, sprang auf und umarmte seine Mutter innig. „Ich danke dir, dass du es so und nicht anders formuliert hast. So leid es mir tut, ich muss mich verabschieden.“
„Aber du hast noch gar nicht gegessen“, wandte Tessa ein.
Eilig trank er seinen Tee aus und stibitzte noch ein zweites Brötchen, lächelte seiner Mutter entschuldigend zu. „Das muss fürs Erste reichen. Wir sehen uns beim Abendessen.“
Auf dem Weg vom Palast zu den Gebäuden der Garde bemerkte Reik eine Gruppe Gardisten, die auf dem Übungsplatz Stockkampf trainierte. Kurz erwog er, sich ihnen anzuschließen, doch womöglich erwartete Sandar, Hauptmann Sandar Sadurnim, ihn bereits.
Sein Vetter, ein wuchtiger, großer Mann und einige Jahre älter als er, fläzte sich entspannt auf dem Sofa im Vorzimmer seines Arbeitszimmers, erhob sich bei Reiks Eintreten aber sofort.
„Reik, wie schön, dich heil und gesund wieder hier zu haben!“, begrüßte Sandar ihn herzlich.
„Tut gut, wieder hier zu sein. Du hast hoffentlich nicht lange auf mich warten müssen?“
„Bin gerade erst gekommen“, beschwichtigte ihn Sandar.
Sie begaben sich nach nebenan, in das Arbeitszimmer des Hauptmanns der Garde. Der große, lichte Raum wurde dominiert von einem schweren Schreibtisch aus dunklem Holz, vor dem drei bequeme Sessel standen. An den Wänden wechselten sich breite Schränke mit hohen Regalen ab, rechter Hand führte eine unauffällige Tür ins noch größere Sitzungszimmer, in dem die regelmäßigen Treffen der Gardehauptleute stattfanden.
Reik ließ sich hinter den Schreibtisch nieder, die Fenster im Rücken, während Sandar in einem der Sessel Platz nahm und seufzend die langen Beine ausstreckte.
„Und, erzähl. Wie war’s da unten im Süden?“, erkundigte Sandar sich neugierig. „Dein Mädchen habe ich ja gestern schon erlebt.“
„Sie ist nicht mein Mädchen“, gab Reik gelassen zurück. „Hat Bro die ganze Geschichte nicht schon ein Dutzend Mal erzählt?“
„Pah, Bro. Du weißt, dein Onkel und ich haben’s nicht so miteinander. Leckt der Hohen Frau die Füße …“
Reik unterdrückte ein Grinsen. „Deine Verbindung zum Haus Sekassne wird demnächst sogar noch enger sein, wenn du erst Lucinda geheiratet hast.“
Sandar verzog das Gesicht. „Eine Entscheidung der Familie, weniger meine. Du lenkst ab.“
„War nicht meine Absicht. Und so viel gibt es gar nicht zu erzählen, da unten … Jenseits der Tameran-Kette ist vor allem Wald, dichter, nahezu unberührter Wald, Bäume, Bäume und nochmals Bäume. Versteckt und sehr vereinzelt findest du kleine Dörfer, winzige Weiler mit verängstigten, verdreckten Bewohnern, es ist …“ Abwehrend schüttelte er den Kopf. „Nicht schön, wirklich nicht schön, wie die Leute leben, sehr ärmlich. Selbst an einem Ort wie dieser ‚Burg‘ Ogarcha leben höchstens hundertfünfzig Menschen.“
Reik bemühte sich, seinen Unwillen zu verbergen. „Sie selbst nennen es Burg, dabei ist es eine Ansammlung heruntergekommener, verrotteter Gebäude, in der ein paar Familien leben, oder eher hausen, direkt neben dem Dorf, das die Burgbewohner versorgt und bedient. Ein dummer Zufall, dass wir geradezu über diese Kerle gestolpert sind, die sich sofort bedroht fühlten und angriffen. Tja, und mein Onkel hat seine Leute nicht sonderlich gut unter Kontrolle, also haben wir Ogarcha … erobert.“
„Ihr habt also nur durch Zufall, durch eine Verkettung unglücklicher Umstände dieses Mädchen, Loranas Zauberin, gefunden?“, wollte Sandar wissen.
„Na ja …“ Er zuckte die Achseln. „Nennen wir es eine glückliche Fügung.“
Sandar musterte ihn eindringlich. „Du klingst nicht sehr überzeugt.“
„Von ihr? Oh, Gènaija ist überzeugend, sie ist großartig, fantastisch, alles. Ich habe nur meine Zweifel, wie sie auf einen Krieg Einfluss nehmen soll. Dafür braucht es ganz andere Fähigkeiten.“
„Entschuldige die dreiste Frage, aber was genau kann die Kleine denn?“, beharrte Sandar.
Reik zuckte einmal mehr die Achseln. „Träumen.“ Sie hatte vom Krieg geträumt. In ihrer ersten Nacht im Tempelbezirk in Manduras Hauptstadt Samala Elis. Und er hatte ihr nicht davon erzählt, mochte Lorana glauben, was sie wollte. Gènaija kannte diesen Traum, diese Vision nicht von ihm. Aus seinen Gedanken? Aber das konnte nicht sein, dann hätte sie ihm doch etwas gesagt.
Er hätte vielleicht im Bezirk bleiben und sie darauf ansprechen sollen. Aber dazu war später noch Zeit. Sollte sie erst einmal in Ruhe ankommen und sich in dieser völlig neuen Umgebung eingewöhnen.
„Offenbar sieht sie in ihren Träumen, Alpträumen, die Zukunft. Sie wusste, dass wir kommen. Und sie sah den Überfall … Hinterhalt der Ostländer bei den Dunklen Höhen voraus. Andere Dinge. Sie kann verdammt gut mit Tieren umgehen, sie … lenken, beeinflussen. Und … angeblich kann sie Gedanken lesen, deine, meine ...“ Er unterdrückte ein Grinsen. „Nur braucht sie dazu keine Hilfsmittel, keine Drogen. Wohingegen Bro nicht in ihre Gedanken kam, dabei hat er es mit aller Kraft versucht.“
Sandar stieß die Luft aus. „Ein wirklich interessantes Mädchen, und so überaus … Ich liebe ihre roten Locken, und ihr Akzent ist hinreißend.“
„In der Tat.“
„Erzähl mir nicht, sie wäre nicht dein Mädchen, Reik“, lachte Sandar schelmisch. „Ich habe gesehen, wie du sie angesehen hast. Und sie dich. Also nimm sie dir.“
„Wie?“ Reik stutzte, schüttelte irritiert den Kopf.
„Ernsthaft, die Kleine ist entzückend, bildschön. Heirate sie, bevor es ein anderer tut, Reik. Ich würd‘ keine Sekunde zögern.“
„Sandar …“
„Deinem Vater gefällt sie auch.“ Wieder lachte Sandar, ein Lachen, dessen Unterton Reik nicht gefiel. „Ich hab‘ mich gestern ernsthaft gefragt, wer verführt hier eigentlich wen.“
„Wovon redest du?“
„Ich rede zu viel, fürchte ich.“ Sein Vetter, ein erfahrener Mann, jemand, mit dem er gut auskam, den er als Freund bezeichnen würde, biss sich auf die Lippen. „Entschuldige bitte, manchmal ...“
Das Klopfen an der Tür unterbrach Sandar.
„Ja?“, rief Reik ungeduldig, aber zugleich erleichtert über die Unterbrechung.
„Hauptmann Domallen“, begrüßte Hauptmann Davian ihn förmlich, nickte Sandar flüchtig zu. „Komme ich zu spät?“
„Ihr kommt gerade recht, würde ich sagen“, erklärte Sandar etwas zu hastig.
„Hauptmann Davian, setzt Euch“, forderte Reik den wie üblich grimmig dreinblickenden, nur wenige Jahre älteren Mann auf. „Kann ich Euch etwas zu trinken anbieten?“
„Danke, ich hatte bereits …“, Davian grinste kühl, „Euren Onkel beim Frühstück getroffen. Der Mann wird ziemlich redselig, wenn er zu viel getrunken hat.“
„Dann … gehe ich davon aus, Ihr wisst bereits alles Wichtige, und ich muss Euch nichts mehr erzählen?“
„Hängt davon ab, was Ihr mir erzählen wollt, Hoheit.“
Reik unterdrückte ein Grinsen. „Jedenfalls nicht alles. Im Augenblick interessiert mich die Stimmungslage in Kalimatan viel mehr.“ Hauptmann Berit Remasseys Bericht über die Geschehnisse im Grenzgebiet, die gehäuften Überfälle war besorgniserregend.
„Angespannt und unruhig. Ich hatte Dessum ja schon verlassen, bevor ihr Euer Ziel erreicht hattet, kann also nicht von direkten Reaktionen berichten. Allerdings habe ich auch zuvor keine Gerüchte über eine Magierin, eine Zauberin oder eine Hexe gehört. Dieses Mädchen war bislang kein Thema.“
„Und das beunruhigt Euch?“, wollte Reik wissen.
„Nein. Aber ich wundere mich darüber … ein bisschen. Die Kleine ist ja nicht gerade unauffällig. Anderes Thema: Sind Euch auf dem Ritt ein paar Kandidaten für die Garde ins Auge gefallen?“
„Ihr braucht mehr Männer, Davian?“
„Meine Einheit könnte drei, vier fähige Männer durchaus gebrauchen, ich gebe mich aber auch mit einem oder zwei zufrieden“, lenkte Davian ein. „Torn und dieser Jula.“
„Jula?“ Sandar schüttelte den Kopf. „Was willst du mit diesem Weiberheld?“
„Hast du den Jungen mal mit dem Stock gesehen? Er ist verdammt gut“, urteilte Davian knapp.
„Jula wollte ich für meine Einheit, aber Torn kann ich Euch versprechen“, entschied Reik.
„Einverstanden.“ Der Hauptmann streckte sich und ließ den Blick zwischen ihm und Sandar hin- und herwandern. „Wollt Ihr den gesamten Vormittag verplaudern oder noch ein bisschen trainieren?“
„Vielleicht solltet Ihr erst einmal Euren Rausch ausschlafen, Hauptmann?“, stichelte Reik.
„Ich bin keineswegs betrunken, falls Ihr das andeuten wollt, Hoheit“, gab Davian, dessen unsteter Blick etwas anderes sagte, kühl zurück. „Ich vertrag‘ einiges mehr als Bro, also … paar Runden im Stockkampf zum Warmwerden und anschließend weiter mit dem Schwert?“
„Wenn das keine Herausforderung ist …“, heiser lachend erhob sich Reik, nickte Sandar zu. „Du zählst? Und springst ein, wenn Hauptmann Davian eine kleine Pause braucht?“
* * *
Benommen hob Mara den Kopf und lauschte dem Regen, der ans Fenster prasselte. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren.
Hier, das war der Tempelbezirk von Samala Elis, genauer gesagt die Unterkünfte von Malin, der Hauptfrau der Tempelwache. In deren Bett hatte sie den dringend benötigten Schlaf nachgeholt.
Sie hatte wahrlich einen weiten Weg hinter sich. Von Ogarcha, der Burg im südlichen Wildewald, fast schon im Grenzland zu Kalimatan liegend, wo sie fast ihr gesamtes Leben verbracht hatte, bis in die Hauptstadt des Landes Mandura. Samala Elis.
Eine anstrengende und aufregende Reise – allein bis zum Erreichen der Tameran-Kette hatten sie und ihre Begleiter, ein großer Trupp Soldaten, rund einen Monat benötigt. Mara hatte einiges erlebt und erfahren, über sich und ihre verwirrenden, sie selbst erschreckenden Fähigkeiten.
… und heute: ihr erster Morgen im Tempelbezirk, dann dieser unselige Zwist. Mara war nicht auf Streit aus gewesen, und sie hatte auch nichts gegen die Tempelwächterin, diese Sina, im Gegenteil. Eigentlich fand sie die Frau und ihre direkte Art interessant. Aber sie war nicht länger bereit, Provokationen und Beleidigungen einfach hinzunehmen. Und so hatte sie sich gewehrt, war Sina ihrerseits angegangen, indem sie in deren Geist eingedrungen war. Malins Auftauchen im Speisesaal hatte die Situation vorläufig geklärt, aber natürlich würde sie sich nun bei Sina entschuldigen müssen.
Zu Maras Verwunderung war es recht dunkel im Zimmer, lediglich eine Kerze brannte. „Wieso ist es so dämmrig?“
„Die Sonne ist gerade untergegangen, du hast den ganzen Tag geschlafen“, klärte Malin sie auf.
„Wirklich? Habe ich etwa das Abendessen verpasst?“, wollte Mara wissen.
„Wenn du dich sofort anziehst, kommen wir noch rechtzeitig.“
„Gut.“ Mara stand auf und zog sich rasch an, es war kalt im Raum. „Hoffentlich ist Milla mir nicht böse, sie wollte mir den Tempelbezirk zeigen.“
„Das glaube ich nicht. Ich habe ihr gesagt, dass du schläfst. Außerdem hat es eh den ganzen Tag geregnet, und Milla hat noch genug anderes zu tun. Du wirst auch allein herausfinden, wo hier alles ist.“
„Sicher, aber sie schien sich darauf gefreut zu haben“, meinte Mara.
„Ja. Auf einen freien Tag und spannende Geschichten“, gab Malin trocken zurück. „Fertig?“
„Gehen die Zimmer nach Süden und Osten hinaus?“, erkundigte sich Mara, als sie den Raum verließen. „Dann weiß ich nämlich, wo wir sind.“
„Direkt neben dem Nordeingang vom Tempelbezirk“, bestätigte Malin. „Hat den Vorteil, dass ich von hier aus jeden sehe, der in den Bezirk oder den Tempel will. Natürlich gibt es noch den Eingang bei den Häusern, von Süden her, den kann ich leider nicht überblicken.“
Sie folgten einem Flur und überquerten den großen, gepflasterten Hof, von dem aus man zu den Pferdeställen gelangte, und gingen danach wieder durch lange Gänge.
„Wie viele Frauen leben hier?“, wollte Mara wissen. „Das alles ist ja riesengroß.“
„Rund zweihundert Priesterinnen und mehr als doppelt so viele Tempelwächterinnen“, gab Malin ihr Auskunft.
„Warum so viele Wächterinnen? Sind die Priesterinnen derart unbeliebt, dass man sie so gut beschützen muss?“
„Nein, sie genießen hohes Ansehen“, erklärte Malin. „Aber es ist ein Zeichen von Macht und Stärke, viele Bewaffnete unter seinem Kommando zu haben.“
„Ja? Dann seid Ihr als Hauptfrau der Tempelwache also eine mächtige Frau?“
„Ich unterstehe Loranas Befehl“, unterstrich Malin.
„Natürlich, das ist mir klar. Aber ich meine … also, Hauptmann Remassey beispielsweise, der Statthalter von Kirjat, ist als Kommandant der Grenztruppen doch auch ein mächtiger Mann, oder nicht? Trotzdem er dem Befehl des Königs untersteht.“
„Ja, er ist mächtig, aber noch aus anderen Gründen: Er kommt aus einer alten, einflussreichen Familie. Aber gut, in dem Sinne kann man mich wohl als mächtig bezeichnen“, stimmte die ältere ihr zu.
Sie betraten eine große Küche. Von den dort zubereiteten Speise stieg Dampf und ein verlockender Duft auf. Mara knurrte der Magen.
Eine beleibte Frau mit rundem, gerötetem Gesicht, die zwei anderen Frauen Anweisungen gab, drehte sich neugierig zu ihnen um. „Malin! Seid Ihr so hungrig oder warum lasst Ihr Euch in der Küche sehen?“
„Ich wollte nicht schon wieder nass werden“, erwiderte Malin. „Und außerdem möchte ich Euch Mara vorstellen. Hier ist sie also. Mara, darf ich dich mit Bes, Pola und Tane bekannt machen?“
Mara nickte den dreien höflich zu. Pola, die Suppe aus einem großen Kessel in Schüsseln füllte, und Tane, die frisches Brot auf Körbe verteilte, erwiderten ihren Gruß zurückhaltend freundlich. Bes war weniger förmlich – vielleicht hatte sie auch gerade nichts zu tun – und umarmte Mara herzlich lachend. „Ihr seid also die kleine Zauberin, von der die ganze Stadt spricht? Willkommen in meinem kleinen Reich.“
Verdutzt sah Mara Bes an. „Eurem Reich?“
„Meine Küche. Wir sind Köchinnen, keine Priesterinnen, um das gleich klarzustellen, und ich leite die Küche. Setzt Euch, Kleine, während ich Euch Eure Milch heiß mache.“
„Meine … Ich habe doch gar keine Milch verlangt“, wunderte sich Mara.
Malin verließ grinsend zusammen mit Tane die Küche, während Bes Mara zur Sitzbank am Fenster schob. „Nein, verlangt nicht. Aber Ihr seht wirklich aus, als könntet Ihr eine heiße Milch mit Honig vertragen.“
„Danke. Aber ich möchte Euch keine Umstände bereiten, ich kann das auch selbst … nicht?“ Mara zögerte.
Bes lachte schallend. „Hast du das gehört, Pola? Die Kleine will mir keine Umstände machen. Kindchen, es ist meine Aufgabe, für das leibliche Wohl anderer Menschen zu sorgen.“
„Ich wollte nur behilflich sein“, erwiderte Mara entschuldigend. „Ihr versorgt zusammen mit Tane und Pola die Frauen im Tempelbezirk. Ist das nicht furchtbar viel Arbeit?“
„Alles eine Frage der Organisation“, stellte Bes nüchtern fest. „Außerdem helfen uns ja die Priesterschülerinnen bei den einfacheren Arbeiten. Manchmal ist gerade das die Arbeit.“
„Dann sehen wir uns bestimmt bald wieder. Hoffentlich bin ich dann nicht die Arbeit“, versicherte Mara.
„Das hoffe ich auch. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass Ihr in der Küche helfen werdet. Schließlich seid Ihr nicht irgendein Mädchen, das Priesterin werden will.“
„Schon möglich“, stimmte Mara der Köchin zu. „Aber falls ich einmal nichts anderes zu tun habe, darf ich dann zu Euch kommen?“
„Natürlich dürft Ihr das, Kindchen, jederzeit, ich würde mich sehr über Euren Besuch freuen. Vielleicht erzählt Ihr mir dann ja, was man im Süden kocht?“
„Nichts lieber als das. Ich bin wirklich gerne in Küchen.“
„Ach ja? Warum?“, fragte Bes amüsiert nach.
„Es ist fast immer warm dort, und meistens duftet es ganz köstlich.“
Wieder lachte Bes. „Das ist wohl wahr. Und wenn Ihr jetzt in den Speisesaal geht, werdet Ihr eine ganz köstliche Hühnersuppe und gutes, frisches Brot essen können. Hinterher gibt es Gewürzkuchen. Vergesst Eure Milch nicht, Kindchen.“
„Nein. Vielen Dank auch, und auf bald.“
Noch immer hungrig, aber gut gelaunt verließ Mara die Küche durch die Tür, die direkt in den Speisesaal führte. Sie gesellte sich zu Malin an den Tisch, an dem auch schon Milla und Nadka saßen.
Milla lächelte sie freundlich an, sie war ihr wohl wirklich nicht böse. „Ausgeschlafen? Du warst unglaublich müde, was?“
Verlegen zuckte Mara die Schultern. Musste wohl so sein.
„Konntest du denn trotz des Gewitters schlafen?“, wollte Milla wissen.
„Welches Gewitter?“
„Vorhin, es hat ganz schrecklich geblitzt und gedonnert, es …“ Milla schien verblüfft. „Du hast nichts gehört?“ Ungläubig sah sie Mara an.
Nadka fing an zu lachen und wollte gar nicht mehr aufhören. „Das nenne ich einen gesunden Schlaf.“
Milla fiel in ihr Lachen ein, und sogar Malin grinste. Dann senkte sich Schweigen über den Tisch. Jede löffelte genüsslich die köstliche Suppe.
Gerade als Mara zu Ende gegessen hatte und mit Milla den Speisesaal verlassen wollte – für einen kurzen Rundgang sei immer noch genügend Zeit, wie Milla erklärte, und den Regen würde man schon ertragen –, betraten Réa und Sina den Saal. Réa nickte Mara freundlich zu, Sina jedoch blickte betont an ihr vorbei.
Seufzend bat Mara Milla, einen Moment zu warten, und eilte hinter Sina her, griff zaghaft nach ihrem Ellenbogen. „Sina, ich …“
„Was?“, blaffte die hochgewachsene Frau.
„Ich würde gern mit Euch reden.“
„So, du möchtest mit mir reden. Das passt mir leider überhaupt nicht, ich habe bis Mitternacht Dienst am Nordeingang. Und wie ich hörte, hast Du einen tiefen …“, begann die Tempelwächterin.
„Ich werde wach sein“, versprach Mara hastig. „Ihr wisst, wo meine Zimmer sind?“
Sina nickte knapp. „Ich werde es mir überlegen.“
Mara eilte zurück zu Milla. Diese führte sie zu den wichtigsten Stätten im Tempelbezirk: die Unterrichtsräume der Heilerinnen, den großen Kräutergarten, die Unterkünfte der Priesterinnen und die Gebäude der Tempelwache mitsamt den Übungsräumen für die Ausbildung der Wächterinnen. Am besten gefiel Mara allerdings das Badehaus, ein rundes Gebäude mit gepflastertem Boden, großen Wasserbecken, hölzernen Badewannen, Ruhebänken und Liegen; es duftete würzig nach Holz. Meist gingen alle, die Unterricht im Schwertkampf hatten, anschließend gemeinsam ins Badehaus, wo es dann sehr lustig und oft auch sehr spät wurde, wie Milla berichtete.
Nach dem Rundgang führte Milla sie in einen Trakt nahe der Küche und bepackte Mara mit Kleidung und Wäsche. „In deinem Zimmer war nicht sehr viel für Dich vorbereitet, oder?“
„Bis auf ein Nachthemd und die Bettwäsche eigentlich nichts“, bestätigte Mara.
„Das dachte ich mir. Mal sehen, hier sind Handtücher, eine warme Decke, ein Nachthemd zum Wechseln, zwei Röcke, ein Unterkleid, ein Hemd, eine Bluse“, zählte Milla auf. „Noch etwas gefällig?“
„Eine Bürste oder ein Kamm?“, schlug Mara vor.
„Klar, das brauchst du ganz sicher.“ Milla lachte sie frech an. „Unbedingt. Schuhe sind allerdings ein Problem, dazu müssen wir in die Stadt.“
„Ich habe Stiefel“, wandte Mara ein.
„Du kannst nicht immer in Stiefeln herumlaufen. Wenn sonst noch etwas fehlt, sagst du es mir einfach. Die Sachen für das Kraft- und Beweglichkeitstraining bekommst du von Sina. Du nimmst doch daran teil?“, fragte Milla nach.
„Ich denke doch. Macht das nicht jede hier?“
„Nein, bestimmt nicht jede. Die meisten Priesterinnen haben keine Lust, sich neben ihren täglichen Pflichten abends auch noch anzustrengen. Wenn sie Unterricht im Schwertkampf haben, ist die Teilnahme allerdings verpflichtend.“
„Verstehe. Und du?“, wollte Mara wissen. Sie waren in ihre Räume zurückgekehrt, verstauten die Wäsche und Kleidung in den Truhen.
„Ich mache beides, Sina besteht darauf.“
Mara runzelte verwundert die Stirn. „Sie besteht darauf?“
Milla errötete und schaute verlegen zu Boden. „Ja, sie … sie sagt, es wäre gut für mich.“
„Wirklich? Versteh mich bitte nicht falsch, aber ich finde, das ist ein seltsamer Grund, etwas zu tun. Nur weil jemand darauf besteht.“
„Sie meint, ich wäre zu … ängstlich, und damit sie hat wohl Recht.“
„Dann passen wir gut zusammen, ich bin nämlich furchtbar leichtsinnig, das sagt jeder“, bemerkte Mara leichthin. „Und nun schau nicht so zerknirscht. Ist etwas?“
„Nein, nur … Ich mag dich, du bist … Jedenfalls mag ich dich, sehr sogar. Aber ich habe auch Sina gern und …“
„Und wir streiten“, setzte Mara Millas Satz fort.
„Eben. Darf ich mich zu dir aufs Bett setzen?“
Mara hatte nichts dagegen, im Gegenteil. Bereitwillig rutschte sie ein Stück zu Seite. „Gern, mach es dir bequem.“
„Danke. Jetzt fällt mir auch ein, was wir vergessen haben“, sagte Milla: „Kerzen. Na ja, das muss Zeit bis morgen haben. Im Dunklen lässt sich sowieso besser über gewisse Dinge reden.“ Sie beugte sich nah zu Mara, sprach sehr leise. „Wo würdest du jetzt gern sein?“
„Genau hier“, erklärte Mara fest.
„Wirklich? Ganz ehrlich?“
„Hm, wenn ich ganz ehrlich sein soll … ich würde gern meinen Kopf auf deinen Bauch legen.“
Milla lachte und zog Mara zu sich; ein angenehmes Gefühl machte sich in ihr breit.
„Dort wo ich herkomme, auf Ogarcha, habe ich immer mit meiner Freundin so gelegen“, erzählte Mara. „Und sie hat auch immer in meinen Haaren gewühlt, so wie du jetzt.“
„Es ist schön so“, bestätigte Milla. „Und dann habt ihr geredet?“
„Meist hat sie geredet und ich habe zugehört. Das, was ich sagte, gefiel ihr selten. Sie meinte, entweder sei es total verrückt oder es mache ihr Angst.“
„Sie wollte es nicht hören?“, fragte Milla vorsichtig.
„Nein.“ Am liebsten hätte sie mit den Achseln gezuckt. „Das ist alles schon so fern.“
„Mara, darf ich dich etwas fragen?“, bat Milla leise.
„Hm?“
„Wie ist er so?“
„Wer?“ Mara unterdrückte ein Grinsen. „Reik?“
„Ja.“
„Oh, er ist … kein einfacher Mensch, würde ich sagen, ich kenne ihn nicht so gut. Er macht sich viele Gedanken, eigentlich ständig, über alle möglichen Dinge, und er weiß viel über andere Menschen. Ich glaube, er ist schwierig.“
„Schwierig?“, wunderte sich Milla.
„Ja. Er ist klug und er weiß genau, was er will. Aber das sollte man von jemandem, der König werden will, wohl auch erwarten können.“
„Das ist eine … interessante Beschreibung.“
„Wohl nicht die, die du hören wolltest?“
„Ich weiß nicht genau, was ich hören wollte“, gestand Milla. „Ich bin ihm noch nie begegnet, habe ihn nur mal von weitem gesehen. Seltsam, aber alles, was ich von meinem nächsten König weiß, stammt aus den Erzählungen anderer. Oder aus Gerüchten.“
Mara war verblüfft. „Du hast noch nie mit ihm gesprochen?“
„Leider nicht. Wahrscheinlich würde ich ohnehin kein Wort herausbringen, oder wirres Zeug stammeln.“
„Warum?“, wollte Mara wissen.
„Weil … ach, ich weiß nicht“, wich Milla aus.
„Ich rede gern mit ihm, es ist … so herausfordernd. Du lachst? Das ist mein voller Ernst“
„Das glaube ich dir, Mara, wirklich“, beschwichtigte sie Milla. „Aber du bist schon komisch, jede andere Frau hätte mir erzählt, wie gut er aussieht, was für ein großartiger Mensch und aufregender Mann er ist und wie hervorragend er kämpfen kann.“
„Vielleicht, nur … Ich dachte, dich würde interessieren, was ich denke. Wenn du etwas anderes hören wolltest, tut es mir leid.“ Ärgerlich setzte sie sich auf.
Milla zog sie hastig wieder neben sich. „Sei mir nicht böse, Mara. Natürlich will ich wissen, was du denkst, sonst hätte ich auch … Nein, ich hätte nicht einmal irgendeine andere Frau fragen müssen, ich wüsste ihre Antwort bereits. Ich habe mich nur gewundert … und zugleich gefreut. Du warst sehr ehrlich mit deiner Antwort, sehr offen, was deine Meinung anbelangt, und das ist schön.“ Zärtlich küsste Milla ihre Nasenspitze. „Nicht wahr, du bist mir nicht böse?“
„Nein, ich bin dir nicht böse, Milla …“ Sie rollte sich auf sie, drückte Millas Hände neben ihrem Kopf in die Kissen und strich mit dem Finger ihren Halses entlang. Ihre Stimme klang heiser. „Ich bin dir sogar alles andere als böse. Ich wünschte, ich wäre ein Mann, jetzt.“
„Aber wieso?“
„Ich würde dich küssen wie ein Mann. Dich verführen wie ein Mann. Doch ich bin eine Frau, ein Mädchen, und du, du nimmst sie nicht ernst, diese Gefühle, denn ich bin eine Frau. Aber das macht nichts. Ich war auch Anella nicht böse, sie hat es ebenfalls nicht ernst genommen. Es gefiel ihr, sie fand es aufregend, vielleicht wollte sie mir auch nur einen Gefallen tun …“ Der Gedanke war neu, ein bisschen erschreckend. „Aber sie meinte es nicht ernst, nicht wirklich.“
„Aber du meinst es ernst?“, flüsterte Milla mit belegter Stimme.
„Ich meine immer alles ernst.“
„Mara, ich … Woher willst du wissen, dass ich es nicht ernst …“, fragte Milla stockend.
„Ich kann deinen Gefühlen sehr genau nachspüren, dazu muss ich nicht in dein Bewusstsein eindringen. Das solltest du als Priesterin eigentlich wissen, auch wenn du noch Schülerin bist. Ich könnte deine Gedanken lesen, wenn ich wollte, einfach so. Ich bin eine Zauberin, Milla.“ Sie bemühte sich, ihre Stimme nicht drohend klingen zu lassen.
Milla sah Mara mit großen Augen an. „Ja … eine Zauberin, und das sollte ich ernst nehmen, nicht? Würdest du mich trotzdem küssen, obwohl ich … obwohl du kein Mann bist?“
Mara küsste sie, und Milla war so weich, so anschmiegsam und … völlig wehrlos. Sie war ganz außer Atem, als Mara von ihr abließ.
Mit einem Lächeln stand Mara auf. „Begleitest du mich in den Tempel?“
„Jetzt noch? “, fragte Milla überrascht. „Es ist schon dunkel.“
„Und?“
„Da ist niemand mehr.“
„Umso besser.“
„Mara, weißt du … ich finde es nachts unheimlich im Tempel.“
„Hast du etwa Angst?“, wunderte sich Mara. „Wovor denn?“
„Lach mich bitte nicht aus! Es klingt vielleicht … verrückt, aber … Wenn ich allein im Tempel bin und niemand da ist und spricht, dann höre ich Geräusche. Ein Säuseln, das aber nicht vom Wind kommt. Manchmal hört es sich beinah wie Gesang an, nur ganz leise. Ich habe Sina danach gefragt, aber die meinte nur, ich hätte zu viel Phantasie, da wäre nichts. Und Nadka, die ihre Bemerkung gehört hat, hat mich ausgelacht“, berichtete Milla verzagt.
„Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass Sina diesen Gesang nicht hört, weil sie ihn einfach nicht hören kann?“, fragte Mara.
„Und Nadka?“
„Vielleicht hatte sie nur Angst zuzugeben, dass sie etwas hört, weil Sina sie dann auslachen würde. Oder sie hört nichts, wer weiß?“
„Dann …“ Milla zögerte, „du glaubst, da ist tatsächlich etwas?“
„Natürlich. Milla, das ist ein Tempel, nicht irgendein beliebiges Gebäude.“
„Dann hast du es auch gehört?“, rief Milla.
„Ja, aber das muss nicht viel heißen. Ich höre auch Stimmen, wenn gar keine da sind. Na ja, ich bin eben …“
Millas eben noch erleichterter Gesichtsausdruck verfinsterte sich wieder. Vielleicht war Mara doch etwas zu offen gewesen. „Aber falls es dich beruhigt: Auch Reik hat den Gesang gehört, in Dalgena.“
Und manchmal sagte sie genau das richtige. Milla strahlte sie an. „Ist das wahr?“
„Frag ihn selbst. Du möchtest mich also wirklich nicht begleiten?“
„Wenn es dir nichts ausmacht, lieber nicht.“
„Gut, dann werde ich dich jetzt in deine Kammer begleiten. Schläfst du allein?“, fragte Mara interessiert.
„Nein, mit drei anderen Mädchen zusammen. Aber die schlafen sicher schon“
Millas Kammer befand sich im selben Gebäude, im westlichen Trakt des Erdgeschosses. Mara warf einen kurzen Blick in den Raum: Er war kleiner als ihr Schlafzimmer. Sie verabschiedete sich leise von Milla und begab sich zum Tempel.
(Ende 51. Tag)