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Kapitel 4 – Besuch im Palast

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Feiner Dunst und das milde Licht der Nachmittagssonne hüllten die Stadt in einen goldenen Schleier.

Eigentlich ein wundervoller Anblick, doch Mara fühlte sich unruhig und nicht sehr wohl. Gemeinsam mit Réa weilte sie in ihrem Schlafzimmer; die Priesterin half ihr, sich für den Besuch bei der Königin anzukleiden.

„Wieso kommst du nicht einfach mit?“, schlug Mara vor.

„Weil die Einladung der Königin dir allein galt, deswegen“, erklärte Réa ruhig.

Mara seufzte, Rea hatte ja Recht. Trotzdem wäre ihr lieber gewesen, die junge Priesterin, mittlerweile eine gute Freundin, würde sie in den Palast begleiten.

„Mara, die Königin ist eine kluge und herzensgute Frau, kein Grund also, so aufgeregt zu sein“, versuchte Réa sie zu beruhigen.

„Ja, wahrscheinlich.“

„Nicht wahrscheinlich, sondern ganz sicher. So, fertig.“ Réa betrachtete sie lächelnd. „Du siehst außerordentlich hübsch aus in diesem Kleid, wie…“

„Wie eine Fee, ich weiß“, fiel Mara ihr ins Wort. „Glaubst du, ich treffe Ondra?“

„Gut möglich.“ Réa musterte sie ernst. „Mara?“

„Ja?“

„Was ist los mit dir?“

„Was soll sein?“, fragte sie zurück.

„Das frage ich dich. Du hast seit Tagen schlechte Laune, rennst mit einem grimmigen Gesichtsausdruck durch die Gegend, dass niemand es wagt, dich auch nur anzusprechen, weil du sofort aus der Haut fährst, bist furchtbar ungeduldig und unruhig. Hast du Kummer?“

„Nein, ich … vielleicht würde ich einfach gern einmal wieder eine Nacht durchschlafen, ich bin müde“, gestand sie.

„Du hast Alpträume?“, erkundigte sich Réa.

„Fast jede Nacht. Erst glaubte ich, ich würde mich daran gewöhnen. Ich wache auch nicht mehr schreiend auf, aber …“ Mara seufzte. „Das macht es nicht besser.“

„Und wenn jemand bei dir schliefe?“, versuchte es Réa.

„Ich weiß nicht. Eigentlich möchte ich gar nicht, dass jemand bei mir schläft. Ich mag es, allein zu schlafen, diese Zimmer hier ganz für mich zu haben“, erklärte Mara. „Ich kannte das vorher nicht und genieße es nun sehr.“

„Wie du möchtest. Aber du sollst wissen, dass du immer zu mir kommen kannst. Natürlich nur, wenn du willst, ich meine …“ Réa geriet ins Stocken und errötete.

„Ich verstehe schon“, sprang Mara ihr bei. Dann fügte sie hinzu. „Kann ich dich etwas fragen, Réa?“

„Du willst wissen, ob ich Reik liebe, stimmt's? Ja, ich liebe ihn, nur leider liebt er mich nicht, jedenfalls nicht … so.“

Verblüfft sah sie Réa an. „Woher wusstest du, dass ich gerade das fragen wollte?“

„Weil du das schon am ersten Abend wissen wolltest. Und dann der ganze Tratsch .... Ich habe mich gewundert, warum du nie nachgefragt hast. Du bist doch sonst nicht so rücksichtsvoll.“

Den Vorwurf kannte Mara zur Genüge. Warum hatte sie gerade jetzt das Gefühl, dass Réa ihr genau das Gegenteil vorhielt?

„Dafür aber jetzt, wo ich mir nichts sehnlicher wünsche“, fuhr Réa hastig fort. „Mara, ich würde gern mit dir über ihn reden, über meine … Empfindungen. Die anderen Frauen hier … Sie verstehen es nicht!“

Mara schüttelte den Kopf und sah sie fragend an: „Was verstehen sie nicht?“

„Sie haben geradezu schwärmerische Vorstellungen von ihm, dabei haben die wenigsten auch nur mit ihm geredet. Außer Sina vielleicht, und natürlich Malin. Sie gehen wie selbstverständlich davon aus, dass ich mit ihm … Weil ich häufig im Palast bin, vermuten sie …“ Réa brach mitten im Satz ab, biss sich auf die Lippen und blickte betreten auf ihre Hände.

„Was aber nicht stimmt“, erklärte Mara für sie.

„Nein, weder mit ihm noch mit irgendeinem anderen Mann. Oder einer Frau. Er hat mich nie gefragt, nicht einmal versucht, mich zu küssen!“, Réa Stimme klang klagend.

„Und möchtest du, dass er dich küsst?“

„Ich weiß es nicht, Mara! Ich wüsste nicht mal, wie ich reagieren sollte. Vermutlich würde ich vor Angst davonlaufen.“

Sie musterte Réa. Die junge Priesterin wirkte verzweifelt, und Mara hatte keine Ahnung, wie sie ihr helfen sollte. „Bist du denn gar nicht neugierig? Du sagtest, weder mit ihm noch mit einem oder einer anderen … Natürlich ist das deine Sache, jeder muss das für sich entscheiden, nur machst du nicht geraden einen glücklichen Eindruck auf mich.

„Nein, glücklich bin ich wirklich nicht“, gab Réa zu.

„Warum unternimmst du dann nichts dagegen?“

Konsterniert blickte Réa sie an. „Wie bitte?“

„Wenn du mit deiner Situation unzufrieden bist, warum änderst du sie dann nicht? Du hast doch alle Möglichkeiten dazu. Das wird niemand für dich tun, Réa, und schon gar nicht so, wie du dir das wünschst. Willst du den Rest deines Lebens damit verbringen, auf Reik zu warten, auf irgendein Wort von ihm? Was ist, wenn er nie zu dir kommt? Oder du irgendwann feststellst, dass das Warten sich nicht gelohnt hat? Was dann?“ Mara war überrascht von der Grobheit ihrer eigenen Worte.

„Du bist grausam“, warf Réa ihr vor. „Hast Du überhaupt kein Mitgefühl?“

„Doch, natürlich. Aber die Situation kommt mir gerade sehr bekannt vor.“ Wütend stand Mara auf und sah Réa verbittert an, die wie ein Häuflein Elend auf dem Bett saß. „Weißt du, genau das … Ach, vergiss es!“

Ärgerlich stürmte sie aus dem Zimmer und ließ die Tür laut ins Schloss fallen. Manchmal verstand sie die Menschen nicht, begriff nicht, was sie von ihr erwarteten.

Und sie sehnte sich nach Jula. Dabei hatte sie ihn erst am Vortag getroffen, wenn auch nur kurz. Er hatte kaum freie Zeit, höchstens einmal ein, zwei Stunden am Abend. Viel zu wenig also. Jula war leicht zu verstehen, er machte die Dinge nicht immer so kompliziert, sagte gerade heraus, was er dachte und wollte. Sie konnten offen miteinander reden, ohne Andeutungen, Vermutungen und halben Wahrheiten. Das Leben war einfach mit Jula.


Das Kopfsteinpflaster auf dem Platz vor den Pferdeställen glänzte vor Nässe, aber wenigstens regnete es nicht mehr. Suchend schaute Mara sich nach Sina um, die sie zum Palast begleiten sollte. Ihr war nicht ganz klar, warum, der Weg war kaum zu verfehlen, aber Lorana hatte darauf bestanden, dass Mara in Begleitung ritt. Angeblich gehörte es sich so für eine wichtige Person wie sie.

Mara hatte keine Lust, sich deswegen auch noch mit Lorana zu streiten. Die Frau war ohnehin nicht gut auf sie zu sprechen, aus welchen Gründen auch immer.

„Hallo Süße, da bist du ja“, begrüßte Sina sie. „Hat dir heute schon jemand gesagt, wie hinreißend du aussiehst?“

„Nein, heute noch nicht“, sie lächelte knapp.

„Also, dann tue ich das hiermit. Dein Wallach ist gesattelt, du musst nur noch aufsitzen. Falls dieses schreckliche Tier es zulässt. Noch nie habe ich einen derart nervösen und launischen Gaul gesehen“, plauderte Sina weiter. „Soll ich dir helfen?“

„Geht schon, danke“, lehnte Mara ab.

Schweigend ritt sie neben Sina her. Sie genoss den Sonnenschein, denn in den letzten Tagen hatte es nur geregnet. Sie war nicht einmal trockenen Fußes von ihrem Zimmer ins Tempelarchiv gelangt.

„Ich reiß dich nur ungern aus deinen Gedanken, süße Mara, und ich habe auch ganz bestimmt nichts gegen den Anblick deiner Beine. Aber könntest du den Rocksaum vielleicht ein wenig nach unten ziehen?“

Irritiert blickte Mara erst zu Sina und dann auf ihre Beine. Sie errötete tief und schob schnell den Rock über ihre Knie. „Warum hast du das nicht früher gesagt?“

„Weil mir deine Beine ausgesprochen gut gefallen“, antwortete Sina. „Außerdem waren wir bisher nur in eher unbelebten Straßen.“

„Sehr witzig!“

„Vielleicht ist das der Grund, warum Lorana darauf besteht, dass dich jemand begleitet“ fuhr Sina unbeirrt fort. „Du würdest einen Aufruhr verursachen, ohne es auch nur zu merken.“

„Wie kommst du darauf, dass ich …“, versuchte Mara zu widersprechen. „Ich habe lediglich … Nun hör schon auf zu grinsen!“

Sina zeigte sich von ihrer schlechten Laune wenig beeindruckt und grinste nur noch breiter. „Was wolltest du gerade sagen?“

„Ich … ich verstehe das nicht!“, erklärte sie kopfschüttelnd.

„Was denn?“, fragte Sina nach.

„Alles!“

„Nun, alles verstehe ich auch nicht. Was genau meinst du denn?“

„Ach lass, es ist nicht wichtig.“

Mara hätte es ihr auch nicht erklären können. Die Kopfschmerzen vielleicht und die Müdigkeit wegen der ständigen Alpträume, nicht aber ihre Unzufriedenheit, die Unruhe. Ja, sie lernte viel im Tempel, alle möglichen und unmöglichen Dinge. Doch sie wurde einfach das Gefühl nicht los, dass es nicht das Richtige war. Oder nur ein winziger Teil davon. Und Lorana verheimlichte ihr etwas. Die Papiere und Schriften aus dem Tempelarchiv waren unvollständig, es musste mehr geben. Mara hatte niemals etwas über Abstammungen, königliche Familien oder eine zeitliche Abfolge der einzelnen Könige gelesen, nichts über die Geschichte des Tempels. Sie hatte Lorana bereits mehrfach darauf angesprochen, doch diese hatte immer ausweichend geantwortet, als wisse sie nicht, wovon Mara sprach.

„Sina, wer außer Lorana besitzt einen Schlüssel zu den Gewölben unter dem Tempel?“

„Welche …“, irritiert musterte Sina sie. „Ach, die Gewölbe. Nur Lorana, soviel ich weiß.“

Nur würde die Hohepriesterin den wohl nicht freiwillig herausrücken.

„Kennst du das Gefühl, dass irgendetwas passieren wird?“

Mit einem Mal wirkte Sina beunruhigt und schaute sie misstrauisch an. „Ja … jetzt zum Beispiel. Was hast du vor, Mara?“

„Was muss ich tun, damit mich der König empfängt?“

„Was willst du denn beim König?“ Sina klang alarmiert.

„Das, was ich immer will. Aber nicht heute. Erst einmal bin ich bei der Königin eingeladen, und es wäre ausgesprochen unhöflich, zu spät zu kommen, findest du nicht auch?“ Ungeduldig trieb sie den Wallach an, ließ ihn die Steigung zur Festung hinauf galoppieren. Eine Gruppe Soldaten musste ihr hastig ausweichen. Mara musste lachen, als sie hinter sich ihre empörten Rufe und Sinas Beschwichtigungsversuche vernahm. Dann sprang sie vom Pferd.

„Was soll das, Mara?“, rief Sina. „Jetzt renn doch nicht so!“

„Ich habe es eilig“, entgegnete Mara.

„Aber du kennst den Weg doch gar nicht.“

„Stimmt.“ Abrupt blieb sie stehen, so dass Sina beinah in sie hineinrannte. Dann wandte sich an den nächsten Gardisten, der sich sichtlich bemühte, ernst zu bleiben. „Könntet Ihr mir freundlicherweise den Weg zur Königin zeigen?“

„Seid Ihr Mara I’Gènaija?“, fragte der Mann.

„Ja, die bin ich“ erwiderte Mara. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich? Ich bin nur ein Soldat der Garde seiner Majestät, der die Ehre hat, Euch zur Königin zu geleiten.“

Sie folgte dem hochgewachsenen Gardisten durch mehrere Korridore hindurch. Dann wartete sie, bis er sie bei der Königin gemeldet hatte, und trat schließlich ins Zimmer, das sich als ein kleiner, ummauerter Garten im Schutz einer der vier mächtigen, dicken runden Wehrtürme des Palastes herausstellte.


Die Königin begrüßte Mara mit ausgesuchter Freundlichkeit. Sie war, wie Réa gesagt hatte, eine kluge und warmherzige Frau und ließ Mara Tee und Gebäck servieren. Eine Zeitlang unterhielten sie sich über das Wetter und andere unverbindliche Dinge. Irgendwann begann Mara sich zu fragen, ob diese Einladung lediglich einen Höflichkeitsbesuch darstellen sollte, denn ihre Unterhaltung war völlig unpersönlich.

Die Königin blickte sie aufmerksam an, dann lächelte sie verschmitzt. „Ihr wundert Euch sicher, warum ich Euch hergebeten habe. Schließlich seid Ihr sehr beschäftigt, wie ich hörte, und ich langweile Euch mit belanglosen und unwichtigen Fragen.“

„Ehrlich gesagt, ja“, rutschte es Mara heraus.

„Noch Tee?“, bot die Königin ungerührt an.

„Danke, gern.“

Die Königin schenkte Tee nach und beobachtete sie dabei lächelnd. Mara wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte.

„Mein Sohn hält sehr viel von Euch“, begann die Königin.

„Ja“, erwiderte Mara schlicht.

„Aber Ihr werdet verstehen, dass ich mir selbst ein Urteil bilden möchte?“

„Selbstverständlich“, bestätigte Mara ein wenig zu hastig.

„Dürfte ich Euch dann eine …“, sie zögerte, „persönliche Frage stellen?“

Mara nickte vorsichtig und zugleich alarmiert.

„Würdet Ihr mir ein wenig von Eurer Mutter erzählen?“, bat die Königin.

„Meine Mutter ist tot“, platzte Mara heraus, biss sich aber nicht auf die Lippen. „Schon … sehr lange. Meine Mutter … Prisca starb, als ich gerade einmal fünf Jahre alt war. Was genau möchtet Ihr denn hören, Königliche Hoheit?“

Die Königin, eine ausgesprochen elegante und schöne Frau, hob mit einer unsicheren Geste die Hand und lächelte entschuldigen. „So genau weiß ich das gar nicht. … Sagt mir einfach, an was Ihr denkt, wenn Ihr Euch an Eure Mutter erinnert? Bestimmte Ereignisse vielleicht, oder Episoden?“

„An was ich mich erinnere … Oh, natürlich: An ihr langes Haar.“ Jetzt lächelte Mara. „Fast ein bisschen wie Euer Haar … nur nicht so hell. Meist trug sie es geflochten. Bis auf die Gelegenheiten, bei denen sie mit mir in den Wald ging, auf lange Wanderungen, um Kräuter oder Beeren zu sammeln. Dann trug sie ihr Haar offen, so dass es in langen Wellen über ihre Schultern floss … Ich weiß nicht, ob ihr selbst das gefiel oder ob sie mir damit einen Gefallen tun wollte. Manchmal durfte ich ihr Haar flechten, zu lauter kleinen, dünnen Zöpfen. Sie war der Meinung, dass ein Mädchen so etwas können muss.“

Abwesend nippte Mara an ihrer Teetasse. „Einmal erzählte sie mir vom Meer, von dessen Endlosigkeit und Weite. Und vom Horizont. Aber da es den im Wald nicht gab, ist sie mit mir auf den alten Turm gestiegen. Von dort haben wir über den Wald geschaut. Doch meine Mutter schien enttäuscht und meinte, es wäre nicht das gleiche.“

„Man kann den Wald eben nicht mit dem Meer vergleichen“, wandte die Königin ein.

„Dann kennt Ihr das Meer?“

Die Königin lachte. „Ich war schon mehrfach an der Küste, ja. Doch man muss nicht am Meer sein, um eine Vorstellung vom Horizont zu bekommen. Das geht auch auf den Ebenen.“

„Stimmt“, bestätigte Mara. „Und Ihr stammt von den Ebenen?“

„Richtig.“ Freundlich blickte die Königin sie an und fuhr mit weicher Stimme fort. „Mein Sohn erzählte mir, dass Ihr von Zeit zu Zeit Dinge sagt oder tut, die auf den ersten Blick ein wenig … seltsam erscheinen.“

Mara wurde vor Verlegenheit rot. „Zum Beispiel, mich von einer Königin bedienen lassen. Es tut mir schrecklich Leid, Eure Hoheit, ich … bin so schrecklich naiv in diesen Dingen, ich weiß einfach nicht …“

„Nein, Mara, Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Ich bin es, die für Euer Vertrauen zu danken hat. Ich gebe zu, ich war neugierig und Euch gegenüber auch ein bisschen gemein. Mir hat man von klein auf beigebracht, wie ich mich in Gegenwart von hochgestellten, wichtigen Personen zu verhalten habe. Allerdings …“ Die Königin schwieg, scheinbar in die Betrachtung des Gartens versunken.

„Wisst Ihr denn nun, warum Ihr hier seid?“, fragte sie schließlich.

„Lorana sagt, sie brauche mich, der Tempel brauche mich.“

„Sie hat gesagt, dass sie Euch braucht?“, wunderte sich die Königin. „Ich gebe zu, dass mich das überrascht.“

Fast hätte Mara die Achseln gezuckt. „Ja. Weil es Krieg geben wird in Mandura und die Aussichten nicht gut stehen.“

„Ich verstehe. Aber sie hat nicht gesagt, wozu oder warum genau sie eine Zauberin braucht?“

„Nein, das nicht“, gab Mara zu. „Ich wüsste auch nicht, was ich daran ändern könnte.“

„Seid Ihr wirklich davon überzeugt, dass es Krieg geben wird, Mara?“, wollte die Königin wissen.

„Nun, Lorana ist nicht die einzige, die sagt, dass es Krieg geben wird“, antwortete sie vorsichtig. „Ich habe es … gesehen, in einem Traum.“

„Und?“

„Ja, ich bin sicher, dass es Krieg geben wird. Krieg in Mandura. Aber ich würde nicht so weit gehen, aus den Details meines Traumes oder dem einer anderen Person auf die tatsächlichen Einzelheiten künftiger Ereignisse zu schließen“, stellte sie klar.

„Und doch seid Ihr von einigen Dingen, die Ihr geträumt oder meinetwegen gesehen habt, absolut überzeugt, von Dingen, die Ihr gar nicht wissen könnt?“, drängte die Königin.

Mara verbarg ihr Lächeln. „Mir scheint, Euer Sohn hat einiges über mich erzählt. Ja.“

„Mara, die Geschichte von den Dunklen Höhen kennt die ganze Stadt, und ich rede nicht nur davon.“

„Nicht?“

„Nein. Im Übrigen hat er nicht viel über Euch erzählt, nichts, was nicht jeder andere auch hätte sagen können, der dabei war. Mein Sohn spricht schon lange nicht mehr mit mir über das, was ihn bewegt.“ Sie klang resigniert.

„Warum nicht?“, fragte Mara nach.

„Warum nicht?“ Überrascht schaute die Königin auf und lachte dann, wenn auch etwas gezwungen. „Das ist zwangsläufig, irgendwann kommt der Tag, an dem eine Mutter nicht mehr die Vertraute ihres Sohnes ist. Den Platz nimmt dann eine andere Frau ein, und die Mutter kann nur hoffen, dass es die richtige Frau ist.“

Musste die Königin sie bei diesen Worten so durchdringend mustern? Mara erwiderte ruhig ihren Blick und unterdrückte im letzten Moment den Impuls, sich auf die Lippen zu beißen.

Wieder lachte die Königin. „Lorana kann wirklich stolz auf ihre Schülerin sein. Als Ihr hier in Samala Elis ankamt, hattet Ihr Eure Gefühle noch nicht so unter Kontrolle. Seid Ihr immer so beherrscht?“

„Ganz bestimmt nicht, mitunter bin ich sogar ziemlich unbeherrscht“, gestand Mara. „Sonst wäre ich vorhin wohl kaum rot geworden.“

„Oh, die eine oder andere Unvollkommenheit hat durchaus ihren Reiz, glaubt mir …“ Die Königin blickte zum Himmel, an dem erneut Wolken aufgezogen waren, und legte die Stirn in Falten. „Wir sollten hineingehen, Mara, es wird … zu spät, es regnet schon. Kommt, Ihr werdet ja ganz nass!“

Mara musste lachen, als die Königin sie so eilig hinter sich her ins Gebäude zog. Sie wirkte auf einmal jung, gar nicht mehr zurückhaltend königlich. Dafür aber umso liebenswerter.


Die Königin führte sie durch leere, düstere Räume und schließlich in ein hohes, elegant eingerichtetes Zimmer, das von einigen ölgefüllten Lampen nur sparsam erleuchtet war. An einem großen Fenster linker Hand, die Füße auf einem Schemel, eine Stickarbeit auf dem Schoß, saß Ondra und blickte Mara erfreut lächelnd entgegen. „Mara, welch schöne Überraschung! Du entschuldigst hoffentlich, dass ich sitzen bleibe. Aber ich fühle mich in den letzten Tagen ziemlich müde, um nicht zu sagen kraftlos.“

„Du musst meinetwegen doch nicht aufstehen.“ Besorgt ließ sich Mara neben Ondras Sessel nieder, griff nach ihren Händen. „Geht es dir sehr schlecht?“

„Eigentlich nicht, es ist nur … Es wird langsam Zeit, ich weiß nicht einmal mehr, wie ich sitzen soll, oder liegen oder stehen“, zählte Ondra auf, „Ich schlafe kaum noch und …“

„Und du machst dir Sorgen“, beendete Mara den Satz.

„Sieht man mir das so deutlich an? Ja, ich mache mir Sorgen, obwohl mir die Heilerinnen versichern, es sei alles in Ordnung. Jeder hier versucht mich zu beruhigen und aufzumuntern, weil es bestimmt nicht gut ist, wenn ich so niedergeschlagen und unruhig bin, aber trotzdem!“ Ondra schlug die Hände vors Gesicht und konnte ihr raues Schluchzen nicht unterdrücken.

„Nicht doch, Ondra“, versuchte Mara sie zu beschwichtigen, „weine doch nicht. Warum hast du denn Réa nichts gesagt, dann wäre ich längst gekommen?“

„Sie hat erzählt, wie furchtbar beschäftigt du seist, dass du nicht einmal genug Zeit zum Schlafen hast.“

„Unsinn, ich bin so beschäftigt, weil es mir Freude bereitet“, erklärte Mara rasch. „Wenn ich will, habe ich jede Menge Zeit.“

„Wirklich?“

„Natürlich.“ Sie lächelte Ondra aufmunternd zu und wandte sich an die Königin. „Eure Hoheit, könnte jemand Ondra einen Becher heiße Milch besorgen, nicht mit Honig, sondern mit dem Mark einer halben Vanilleschote und einer Messerspitze Zimt? Vielleicht der Soldat vor der Tür.“

„Und ob“, erwiderte die Königin, rief dann: „Guy!“

Die Tür wurde geöffnet und der Gardist trat ein, der Mara seinen Namen nicht genannt hatte, als er sie zur Königin brachte. „Königliche Hoheit?“

„Wir brauchen einen Becher heißer Milch mit dem Mark einer halben Vanilleschote und einer Messerspitze Zimt“, wiederholte die Königin. „Das war doch richtig so, Mara?“

Mara nickte bestätigend.

„Natürlich, königliche Hoheit, sofort.“ Leise schloss Guy die Tür hinter sich.

Ondra sah Mara mit vom Weinen geröteten Augen an und schniefte in ihr Taschentuch. „Du findest mich albern, stimmt's? Ich weiß auch nicht, als ich mit Mia schwanger war, habe ich mich nicht so gefühlt.“

„War vielleicht auch eine andere Situation?“, meinte Mara.

„Wie meinst du das?“, fragte Ondra nach.

„Na ja, damals gingst du nicht mit dem möglichen Thronfolger schwanger“, erklärte Mara knapp. „Das ist schon etwas anderes.“

„Wie bitte?“, fuhr Ondra auf. „Was soll das heißen?!“

Mit einer vagen Geste hob Mara die Schultern und schaute etwas verlegen zur Königin. Hatte sie etwas Falsches gesagt? „Das heißt, solange Reik keinen Sohn hat, ist dein und Leifs Sohn der ... übernächste König von Mandura.“

Fassungslos starrte Ondra sie an. „Mein Sohn? Aber … Woher weißt du das?!“

„Wieso, du etwa nicht? Ich glaubte, jede Frau … Es ist doch schließlich ein Teil von ihr und …“ Zerknirscht sah sie zu Ondra und war jetzt mehr als nur ein wenig verlegen, zudem auch ziemlich durcheinander. „Ondra, ich wollte wirklich nicht …“

„Oh Mara, du bist ein Schatz, genau das!“ Lachend zog Ondra Mara an sich, umarmte und küsste sie überschwänglich. Mara hörte zu ihrer Erleichterung die Königin in Ondras Lachen einstimmen.

Es klopfte an der Tür und Tessa, Reiks Schwester, trat ein, in der Hand ein Glas. Sie nickte Mara verhalten zu. „Ich habe Guy auf dem Flur getroffen, Mutter, er hat mir das hier mitgegeben. Für wen ist die Milch?“

„Für mich, danke“, meldete sich Ondra.

„Seit wann trinkst du Milch, Ondra?“, erkundigte sich Tessa. „Vorsichtig, sehr heiß!“

„Hat Mara mir verordnet“, gab Ondra zurück.

„Aha.“ Anmutig ließ Tessa sich Ondra und Mara gegenüber auf einem Sessel nieder. Das junge Mädchen war hübsch, strohblond und recht groß, was in der Familie zu liegen schien. Mit ihrer schlanken Figur und um einiges jünger als Reik wirkte sie zurückhaltend und distanziert. „Zur Beruhigung, nehme ich an?“

„Im Gegenteil, zur Anregung, Hoheit.“ Mara lachte und blickte Tessa offen an, die zu ihrer Überraschung rot wurde.

„Nun ja, ich bin keine Heilerin“, meinte Tessa nur.

„Ich auch nicht“, erwiderte Mara.

„Nein“, bestätigte Tessa, fast vorwurfsvoll. „Ihr seid ja eine Zauberin.“

Interessiert betrachtete Mara die junge Prinzessin, die sie herausfordernd ansah und sich bemühte, den tadelnden Blick ihrer Mutter zu ignorieren. „So lautet wohl die Bezeichnung.“

„Und das könnt Ihr auch beweisen?“, wollte Tessa wissen.

Wieder lachte Mara, dieses Mal etwas leiser. Sie hatte nicht vor, sich von dem Mädchen provozieren zu lassen. „Ja. Wollt Ihr Beweise, Tessa?“

„Nein, natürlich nicht“, erklärte diese hastig.

Das war zweifellos gelogen. Ob Tessa auch so schnell nachgegeben hätte, wären sie allein gewesen? Die Selbstsicherheit, die Reik im Übermaß besaß, fehlte ihr offenbar, was Mara merkwürdig fand. Doch vielleicht war es gar nicht so merkwürdig. Sicher war es nicht gerade leicht, Reik zum Bruder zu haben, den nächsten König von Mandura. Reik, von dem alle sprachen, um den sich alles drehte, den alle liebten und bewunderten. Wo blieb da noch Platz für sie, Tessa, wer sprach von ihr? Sie war nur die kleine Schwester.

„Träumst du?“, hörte sie Ondra sagen.

„Wie bitte?“, erwiderte Mara und zuckte zusammen. Ihr wurde klar, dass sie Tessa die ganze Zeit über angestarrt haben musste. „Nein, ich dachte nur … ich versuchte mir vorzustellen, wie es ist, Geschwister zu haben.“

In Wahrheit hatte sie überlegt, wie es wäre, wenn Reik ihr Bruder sei. Nein, nicht Reik, dann hätte sie mit ihrem Bruder geschlafen, aber jemand wie Reik. Das zuzugeben wäre Tessa gegenüber wohl doch etwas zu persönlich gewesen.

„Ihr habt keine Geschwister?“, wollte Tessa wissen.

„Nein, ich habe überhaupt keine Verwandten mehr, keine Familie, niemanden. Sie sind alle fort, tot.“ Wie konnte sie sich nur so verlassen fühlen? Der Boden schien sich unter ihr aufzutun und sie zu verschlucken, und niemand würde sie vermissen, niemand würde um sie trauern. Es war niemand da, der die Totenklage für sie singen könnte, denn sie war fremd. Ihr wurde plötzlich kalt. „Ich bin ganz allein auf der Welt.“

„Das ist doch nicht wahr, Mara“, widersprach Ondra energisch. „Du bist nicht allein!“

Mara blickte Ondra verzweifelt an, wollte schreien: ‚Doch, ich bin allein, jeder ist allein, vollkommen allein! Wir können niemals etwas anderes sein, können niemals unser Selbst mit anderen teilen! Niemals eins sein!’

Doch sie schrie nicht und fand allmählich ihre Fassung wieder. Dennoch klammerte sie sich an Ondras Hand. Sie würde sie nicht trösten können, ebenso wenig wie Jula sie getröstet hatte und es auch jetzt nicht könnte. Nicht einmal Reik wäre imstande, sie zu trösten, nur vielleicht die Einsamkeit, diese entsetzliche Leere nachfühlen. Und doch sehnte sie sich plötzlich nach ihm, doch er war nicht im Palast, nicht einmal in der Stadt.

Abrupt stand Mara auf und trat zum Fenster, um in den Regen hinaus zu starren. Sie sollte sich nicht so gehen lassen.

„Es tut mir leid“, begann sie. „Ich … Vielleicht sollte ich besser gehen. Königliche Hoheit, ich danke für die Einladung und den Tee und alles, und kann nur hoffen, Ihr seht mir die eine oder andere Unvollkommenheit nach.“

Die Hände vor der Brust zusammengelegt, neigte sie grüßend den Kopf. So war es im Tempel üblich. Höflich war es nicht, von sich aus zu gehen. Sie hätte warten sollen, bis man ihr die Erlaubnis erteilte. Doch in dieser Situation hielt sie es für klüger.

Die Königin erhob sich, legte ihr sanft die Hand auf den Arm. „Aber natürlich, Mara“, versicherte sie ihr, „Und ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr mich wieder einmal besucht. Es ist überaus reizvoll, mit Euch zu plaudern.“

„Wirklich? Aber ja, ich komme gern wieder.“

„Das ist schön. Soll Guy Euch zum Tempel begleiten?“

„Danke, das ist nicht notwendig“, lehnte Mara ab. „Sina wartet auf mich. Sie hat mich auch hierher begleitet. Die Hohe Frau schätzt es nicht, wenn ich mich ohne Begleitung außerhalb des Tempels bewege.“

„Nun, dann möchte ich Euch nicht länger aufhalten.“ Damit entließ die Königin sie.

„Hoheit, es hat mich außerordentlich gefreut.“ Mara nickte Tessa freundlich zu, die ihren Gruß stumm erwiderte. Dann beugte sie sich zu Ondra und küsste sie auf die Wange. „Wir sehen uns ja bald.“

„Und was meinst du mit bald, Mara?“

„Spätestens in vier, fünf Tagen. Wäre ich eine richtige Heilerin, könnte ich es dir genauer sagen. Was ich dir jedoch mit Bestimmtheit sagen kann: mit deinem Kind ist wirklich alles in Ordnung. Reicht das?“

Ondra strahlte. Mara verließ das Zimmer mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.


Sina unterhielt sich auf dem Flur angeregt mit Guy, kam ihr aber ungeduldig entgegen, als sie sie erblickte. „Da bist du ja endlich. Ich fürchtete schon, du wolltest hier übernachten.“

„Nein, das wäre wohl doch zu viel des Guten. Lass uns gehen, ich bin müde.“

„Dann komm“, drängte Sina. „Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch rechtzeitig zum Abendessen“.


* * *


Hauptmann Sandar Sadurnim betrat den großen, düsteren Speisesaal der Garde; es roch nach altem Essen, abgestandenem Bier, zu vielen schwitzenden, ungewaschenen Leibern. Und doch entlockte ihm der Anblick jenes schlecht gelaunten, mürrischen Hauptmanns – in seinen Augen einer der besten Männer der Garde, und der härteste sowieso –, der in dem den Hauptleuten vorbehaltenen Bereich des Saals saß, ein Lächeln. „Ihr erlaubt, Hauptmann?“

Der angesprochene, Hauptmann Davian, antwortete mit einem knappen Nicken, ohne dabei seine nachlässige Haltung auch nur im Geringsten zu ändern „Sicher, setz dich. Was treibt dich zu mir?“

„Hunger und die Hoffnung auf anregende Gesellschaft“, meinte Sandar lapidar und ließ sich Davian gegenüber an dem groben Holztisch nieder.

„Und du glaubst, hier fündig zu werden?“

„Zumindest, was einen der beiden Punkte angeht.“ Sandar grinste breit. „Wir könnten aber auch zu mir gehen, ich habe ein paar Fläschchen wirklich guten Wein im Keller.“

„Nur Wein?“, hakte Davian nach.

„Wenn du willst, auch was Stärkeres. Und Emmi könnte uns was Gutes kochen.“

„So eine Einladung kann man wohl kaum ausschlagen“, Davian ließ ein raues Lachen hören.

„Sollst du auch nicht.“ Zufrieden lehnte Sandar sich auf seinem Stuhl zurück. „Ach, was ich fragen wollte … Irgendeine Vorstellung, wann Domallen wieder in der Stadt ist?“

„Die nächsten Tage wohl, so aufregend ist Saligart nicht. Wieso?“

„Nichts weiter. Ich hab‘ nur gerade sein Mädchen …“, Sandar verzog süffisant das Gesicht, „die Kleine aus dem Süden im Palast gesehen.“

„Antrittsbesuch bei ihrer königlichen Hoheit“, brummte Davian.

„Du weißt davon?“, wunderte sich Sandar.

„Ich hatte, ‘n bisschen außerhalb der Reihe, bei ihr Wachdienst.“


(83. Tag)

Winterkönig

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