Читать книгу Winterkönig - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 11
Kapitel 8 – Ein Wiedersehen
ОглавлениеVerwirrt schaute Gènaija ihn an, fast verwundert. Als nähme sie ihn erst jetzt richtig wahr. Doch sie schwieg gleich ihm, weinte lautlos.
Irgendwann hob Reik die Hand, wischte ihr sorgsam die Tränen vom Gesicht und nahm sie fest in seine Arme. Und das fühlte sich nicht nur gut, das fühlte sich richtig an, vertraut. Seine Irritation über diese allzu unvermittelte, überraschende Begegnung war wie weggeweht von dem Sturm, der draußen tobte.
Es hatte ihn getroffen, seinen Vater im vertrauten Gespräch mit Gènaija zu erleben, wie es ihm jedes Mal einen Stich versetzte, von ihren Treffen mit Jula zu hören. Sie sollten das klären, möglichst bald, doch jetzt …
Er spürte ihren Körper warm und lebendig unter seinen Händen, ganz nah, liebkoste mit den Fingern zärtlich ihren Nacken und drückte sein Gesicht in ihr wirres Haar; er liebte dessen Duft. Wollte nichts anderes, hätte die ganze Nacht so stehen können. „Du hast gar nichts gegessen, Gènaija.“
„Du ja auch nicht“, gab sie zurück.
Er brummte zustimmend. „Hunger?“
„Und wie!“
„Gut, geht mir genauso.“
Aber keiner rührte sich, keiner machte Anstalten, den anderen loszulassen.
„Gènaija?“
„Ja?“
„Mein Vater …“, begann Reik, wollte ihr zumindest den üblen Streit erklären. „Er will es nicht wahr haben. Nicht, dass es Krieg geben wird, das kann auch er nicht länger ignorieren, aber dass die Ostländer uns dermaßen überlegen sind. Sie haben dreimal, womöglich viermal mehr Männer unter Waffen als wir heute, sie … Und ich habe dich da mit reingezogen. Es tut mir Leid, Kleines.“
„Warum dir?“, murmelte sie, den Kopf noch immer an seine Brust gedrückt.
„Weil ich dafür verantwortlich bin, dass du hier bist.“
„Aber du hast zu mir gesagt …“, wandte sie ein.
„Loranas Worte, nicht meine. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was du tun könntest, was du ändern könntest.“
„Immerhin habe ich hier die Wahl, ich habe zumindest eine Chance. Die hatte ich auf Ogarcha nicht.“
„Eine Chance?“, wiederholte er heftig. „Kleines, ich rede vom Krieg, nicht von irgendeiner verschlossenen Tür oder zwei Frauen, denen du Befehle erteilst.“
„Das hat nichts damit zu tun, dass sie Frauen sind, bei Männern geht es genauso leicht“, betonte Gènaija.
„Das wollte ich damit auch nicht sagen.“
„Es war eine sehr schwere, sehr hohe Tür, aus Stein. Und ich kann noch mehr, ich … Ich könnte den ganzen Tempel zum Einsturz bringen. Vielleicht wäre ich hinterher zwei Tage krank, aber ich könnte es. Ich habe eben noch viel zu lernen!“
Reik hob sanft ihr Kinn und sah sie traurig lächelnd an. „So viel kannst du gar nicht lernen, Kleines. Und ich glaube auch nicht, dass du noch die Zeit dazu hast.“
„Aber …“, begehrte sie auf.
„Kein aber.“ Sein Gesicht war sehr nah an ihrem Gesicht, seine Lippen streiften ihre Schläfen, ihre Wangen, doch er küsste sie nicht, nicht wirklich. „Deine Haut ist so weich, so zart, und du riechst so gut.“
Gènaija lachte leise. „Ich habe eher das Gefühl, ich brauche ein Bad. Milla hat mich direkt aus dem Unterricht geholt, ich bin nicht einmal dazu gekommen, mir Stiefel anzuziehen, geschweige denn mich umzuziehen.“
„Das ist mir aufgefallen. Mach dir nichts draus, ich brauche auch ein Bad. Und ich bin wirklich ausgesprochen hungrig“, fügte Reik hinzu.
„Dann muss ich dich jetzt loslassen?“
„Ich fürchte, ja.“
Seufzend zog Gènaija ihre Hände zurück.
Sie setzten sich zurück an den Tisch und ließen sich das inzwischen kalt gewordene Essen schmecken, irgendeine Wildpastete.
„Reik?“, fing sie an.
Er blickte auf und sah sie aufmerksam an. „Schon satt?“
„Ja. Reik, wer ist Marok?“, fragte sie, „Der König der Ostländer?“
„Nein, sein Bruder. Marok, Urlis Marok, ist der Heerführer der ostländischen Armee“, erklärte er.
„Ich verstehe. Aber er könnte Mandura den Krieg erklären, als Heerführer?“
„Als Heerführer nicht, nur … Wie es aussieht, ist Marok derjenige, der in Kalimatan das Sagen hat, auch wenn sein älterer Bruder die Krone trägt.“
Nachdenklich musterte Gènaija die Reste auf ihrem Teller, wartete. Der Sturm fegte donnernd um die Mauern, die Holzscheite im Kamin knisterten und knackten. Gelegentlich zischte es, wenn durch den Schornstein Regentropfen auf die glühenden Holzscheite fielen.
Schließlich fuhr Reik fort. „Es heißt, vor langer Zeit sollen Mandura und Kalimatan Teil eines Landes gewesen sein, relativ eigenständige Teile eines einzigen, riesigen Reiches. Zwar beide mit eigener Sprache und eigenem König, aber regiert von einem Großkönig. Irgendwann und irgendwie kam es jedoch zum Streit zwischen Mandura und Kalimatan, und, nach langen, heftigen und oftmals gewaltsamen Auseinandersetzungen, zum Krieg und in der Folge zum Zerfall des Reiches. Seither brechen immer wieder Kriege zwischen uns und den Ostländern aus, und immer dreht sich alles um die Frage, wer rechtmäßiger Nachfolger des Großkönigs ist: der König von Mandura oder der von Kalimatan.“
Gènaija sah ihn fragend an. „Und?“
„Das willst du von mir wissen?“, Reik lachte. „Ich will ehrlich sein, Kleines: ich weiß es nicht, und ich halte die Frage auch für unerheblich, selbst wenn sie sich klären ließe. Das Ganze ist so lange her, ich bezweifle, ob überhaupt noch jemand Anspruch auf den Titel des Großkönigs hat. Und womöglich ist die Geschichte von jenem Imperium nicht mehr als eine Legende.“
„Existieren denn keine Aufzeichnungen, alte Urkunden oder so etwas?“
„Es soll einige sehr alte Schriften in der Alten Sprache, die als die gemeinsame Sprache jenes Reiches angesehen wird, geben, aber die Verfasser waren entweder Manduraner oder Kalimatan, Ostländer, wem soll man da glauben?“
Gènaija staunte. „Die Ostländer kennen die Alte Sprache?“
„Sie ist hier wie dort bekannt, aber nur in Schriftform, und sie wird nicht mehr verwendet, schon gar nicht gesprochen.“
„Es gibt im Tempel eine Menge Aufzeichnungen in der Alten Sprache, und nicht alle sind so alt“, erklärte sie ihm.
„Nicht?“ Er lächelte sie an, und Gènaija lächelte sanft zurück. „Nein.“
Sie verstummten, doch es war kein unangenehmes, kein peinliches Schweigen, jeder hing einfach nur seinen Gedanken nach.
Schließlich stand Reik auf und sah Gènaija auffordernd an. „Komm mit.“
„Wohin?“, wollte Gènaija wissen.
„Ich zeige dir, wo du schlafen wirst. Und wolltest du nicht auch noch baden“, erinnerte er sie.
„Ja, unbedingt.“ Rasch erhob Gènaija sich und folgte ihm durch einige Räume, einen endlos langen Gang, in dem ihre Schritte widerhallten. Schließlich stiegen sie eine breite, elegant geschwungene Treppe hinauf. Oben erwarteten sie noch mehr Flure, die hier aber mit dicken Teppichen ausgelegt waren.
„Ziemlich weitläufig“, bemerkte sie.
„In der Tat. Unten befinden sich lediglich die offiziellen Räumlichkeiten: Die Arbeitszimmer des Königs, die Zimmer der königlichen Berater, die Räume der Königin und ihrer Hofdamen, die große Halle sowie der Festsaal“, erläuterte Reik. „Hier im ersten Stock liegen die privaten Räume des Königs und der Königin, Gästezimmer für wichtige Besucher, der Thronsaal und, ganz wichtig, die Beratungszimmer des Thronrates. Ach ja, und das Archiv und die Ahnengalerie.“
„Wo genau liegt sie denn?“, fragte Gènaija nach.
„Im Ostflügel, ich zeige sie dir später einmal.“
„Na gut. Dann bin ich wohl kein sehr wichtiger Besuch?“
Reik grinste schelmisch. „Du bist sogar ein ganz besonderer Gast, deshalb …“ Er deutete auf eine weitere Treppe.
„Noch höher?“
„Ja, oben hast du den schönsten Blick über die Stadt. Tessas Zimmer liegen nach Südosten hinaus, sie liebt die Morgensonne, meine nach Südwesten, im Eckturm. Vor einigen Jahren noch hatte auch Leif seine Zimmer hier, jetzt ist er mit Ondra und Mia in der ersten Etage untergebracht. Habe ich etwas vergessen?“
Gènaija musste nicht lange überlegen. „Was befindet sich im Keller?“
„Die Küchen, Vorratsräume, der Weinkeller, Wäschezimmer und die Waschküche“, zählte Reik auf. „Wirtschaftsräume eben.“
„Keine Kerker?“, hakte sie nach.
„Nein, nicht im eigentlichen Palast. Wenn du möchtest, führe ich dich morgen herum.“
„Hast du denn überhaupt Zeit?“
Wieder grinste er, öffnete eine Tür und schob sie zielstrebig in das Zimmer. „Ich nehme sie mir. Ist es dir warm genug, sonst lasse ich noch Holz nachlegen?“
Gènaija nickte und sah sich um. Das große Gästezimmer war sehr großzügig, beinah herrschaftlich ausgestattet. Dicke, weiche Teppiche ersetzten fast ein Bett, während das eigentliche Bett mit den vielen Decken, Unmengen an Kissen und einem Himmel mit Vorhängen sehr behaglich aussah.
„Und wo soll ich baden?“, erkundigte sie sich.
„Hinter dem Sichtschutz steht eine Sitzwanne. Wenn du noch etwas brauchst, ruf einfach. Du wirst dich schon zurechtfinden.“
Allein in seinen Räumen zerrte sich Reik widerwillig die verdreckten Stiefel von den Füßen und warf sie achtlos zu Boden. Was für ein Abend!
Er hatte nicht damit gerechnet, im Palast so völlig unvermittelt auf Gènaija zu stoßen. Mehr als einen Monat hatte er sie nicht gesehen, nur von ihr gehört. Und Réa erzählte bei ihren gelegentlichen Palastbesuchen natürlich auch von ihr. So hatte er – gerüchteweise – von ihren wiederholten Treffen mit Jula erfahren, und er wusste auch von der Einladung bei seiner Mutter. Gènaija allerdings bei einem vertraulichen, beinah intim anmutenden Gespräch mit seinem Vater zu erleben, war äußerst irritierend.
Sandars dumme Bemerkung, wer denn wen verführte, kam ihm in den Sinn. Aber das war bloßer Unsinn gewesen. Und dass sie mit so vielen Leuten, eben auch mit dem König, auf vertrautem Fuß stand, bedeutete noch lange nicht … Es hatte gar nichts zu bedeuten! Statt sich in Eifersucht zu verzehren, sollte er sich freuen, dass sie sich so gut eingelebt hatte. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, zumindest ein beklommenes Gefühl, weil sie Zeugin des heftigen Streits mit seinem Vater geworden war.
Er lachte bitter und stemmte sich aus dem Sessel hoch. Er sollte die dreckigen, feuchten Sachen ausziehen, gleichfalls baden. Das würde ihm gut tun.
Reik hörte mit pochendem Herzen von nebenan Gènaijas Gesang. Noch kurz zuvor war er mit ihr zusammen gewesen, so vertraut … Es wurde ein recht kurzes Bad, dann stand er bereits wieder vor ihrer Tür, klopfte an.
Reik musste ein Lächeln unterdrücken, als er Gènaija sah. Mit untergeschlagenen Beinen auf dem dicken Teppich vor dem Kamin hockend, nur in ein großes Tuch gehüllt und völlig vertieft in die Betrachtung ihrer Locken; ganz und gar bei sich. „Du hast hoffentlich nicht vor, dir schon wieder die Haare kurz zu schneiden?“
Überrascht blickte Gènaija sich zu ihm um. Sie wurde rot und drückte das Handtuch fester an sich, fauchte ihn wie eine wütende kleine Waldkatze an. „Was machst du hier? Ich bin noch nicht angezogen!“
„Genau deswegen bin ich hier.“
„Wie?“
Er schmunzelte. „Du solltest deinen Blick sehen, misstrauisch ist gar kein Ausdruck. Ich habe angeklopft“, betonte er.
„Aber ich habe nicht mit dir gerechnet. Also, was willst du?“
„Ich habe dir etwas zum Anziehen gebracht, oder gedachtest du, in deinen feuchten Sachen zu schlafen?“
„Nein, eigentlich nicht. Danke.“ Würdevoll erhob sie sich, krampfhaft das Tuch festhaltend, schnappte sich die Kleider vom Bett und verschwand hinter dem Wandschirm. „Du bist ja bestens vorbereitet. Hast du häufig besondere Gäste?“
„Hier? Nein. Und den Morgenmantel habe ich von Tessa ausgeliehen. Das Hemd gehört mir.“
„Deswegen ist es so groß. Na ja, du sagtest ja, du gehst lieber zu ihnen. Und bleibst selten bis zum Morgen.“ Verschmitzt lächelnd nahm sie ihm gegenüber in dem Sessel Platz, schonte offensichtlich ihr Bein.
„So ungefähr. Ich dachte, es interessiert dich nicht?“
„Tut es auch nicht, aber offenbar andere umso mehr. Es wird viel gemunkelt.“
Das war nichts Neues für ihn. „Genau wie über dich, liebste Gènaija.“
Sie runzelte die Stirn, zuckte dann aber die Achseln. „Dein Vater deutete so etwas an. Seltsam, ich höre sehr viele Gerüchte über sehr viele Leute, die ich oftmals nicht einmal kenne, aber was über mich geredet wird, wird mir verschwiegen.“
„Du würdest dich nur aufregen“, wich er aus.
„Oh, so schlimm? Dann sollte ich vielleicht wissen, was über mich geredet wird?“, meinte sie und klang ein wenig altklug.
„Das Gerede ist eigentlich recht harmlos, und besonders überraschend ist es schon gar nicht: Dir werden eben unterschiedliche Liebhaber angedichtet. Ohne dass dabei konkrete Namen fallen. Doch, einer: Jula. Außerdem heißt es, du unterhältst … enge Beziehungen zu der einen oder anderen Tempelwächterin.“
„Und natürlich fallen auch hier keine Namen.“
Reik grinste. „Das würde niemand wagen. Sina reagiert auf Tratsch ausgesprochen empfindlich.“
„So ein Unsinn. Ich habe keine Liebhaber, und Sina …“ Bedrückt sah Gènaija ihn an, biss sich auf die Lippen. „Was habe ich ihr getan, dass sie sich mir gegenüber so seltsam verhält? Ich habe die Nacht bei ihr verbracht, eigentlich nur, weil ich mich einsam fühlte. Ich weiß natürlich, was sie von mir will, dass sie mich begehrt ... Aber ursprünglich wollte ich nur nicht allein sein. Doch dann haben wir … Wir redeten und redeten, und dann muss ich wohl irgendwas gesagt haben ...“ Sie lächelte zärtlich. Offensichtlich war die Erinnerung sehr schön.
„Am nächsten Tag gab Réa mir in Loranas Auftrag die Schlüssel zum Gewölbe, wo ich die Reste des Tempelarchivs vermutete. Und die Sachen waren ja auch da. Wir gingen hinunter, Sina, Réa und ich, und sie hat so … Sina hat mir Vorwürfe gemacht: Dass ich einen Hang zur Grausamkeit hätte, allzu begeistert von Blut und Tod reden würde, und, und … Wer weiß, was sie Réa noch alles gesagt hat, als ich mich umgesehen habe. Im Kerker …“
Sie schüttelte sich. „Es ist scheußlich da unten. Sina hat gelacht, als ich sie bat, die Tür zum Kerker aufzuschließen, sie sagte, ich könne sie doch dazu zwingen, es ihr befehlen. Als ob mir das Spaß macht! Und … ich nehme an, Réa hat dir erzählt, was noch passiert ist, sie war ja gestern hier. Seitdem verhält sich Sina mir gegenüber so reserviert, kommt nicht einmal in meine Nähe. Wenn die anderen Frauen sich so seltsam verhalten, macht mir das nichts aus, aber Sina?“
Nachdenklich musterte Reik sie, unsicher, auf was er zuerst eingehen sollte. Es freute ihn, dass sie ihm gegenüber so offen war – fast schon irritierend offen –, und ihn ins Vertrauen zog. „Das wundert dich?“
Erstaunt schaute sie auf, blickte ihm direkt in die Augen. „Dich etwa nicht?“
„Nein, ich halte ihre Reaktion für verständlich. Sie musste abrupt und auf überwältigende Weise feststellen, dass das süße, kleine Mädchen, das in der Nacht noch voller Hingabe in ihren Armen lag, eine gefährliche, eine mächtige Person ist. Sina ist schlicht und einfach schockiert. Gib ihr Zeit, das zu verarbeiten.“
„Aber du …“, wandte Gènaija ein.
„Ich wusste das, bevor ich mit dir geschlafen habe, Gènaija.“
„Ja, vielleicht hast du Recht.“ Gènaija nickte, biss sich auf die Lippen. „Trotzdem tut es weh.“
„Ja. Festzustellen, dass die Person, für die man Zuneigung empfindet, der man nur Gutes wünscht, Angst vor einem hat, das tut sehr weh.“
Sie kniff die Lider zusammen. „Warum schaust du mich so an? Ich habe keine Angst vor dir, Reik.“
„Aber du misstraust mir.“
„Mit Recht! Du hast mir auf der Reise immer nur Halbwahrheiten erzählt. Falls du überhaupt einmal etwas gesagt hast.“
„Gènaija, ich konnte dir nicht mehr erzählen“, versuchte er sein Verhalten zu erklären. „Ich wollte, dass du unvoreingenommen in den Tempel gehst, damit du es leichter hast, auch mit Lorana.“
„So? Ich komme ganz gut mit Lorana klar, meistens jedenfalls“, erzählte sie freimütig. „Anfangs hat sie noch versucht, in meinen Geist einzudringen, was ihr nicht gelungen ist. Irgendwann wurde ich es leid, dass immer nur ich Kopfschmerzen hatte, und da habe ich mich gewehrt. Einmal nur, und seither hat sie es nie wieder versucht. Sie hat wohl ein bisschen Angst vor mir, und manchmal ist sie richtiggehend beeindruckt, natürlich ohne es zu zeigen. Am liebsten wäre ihr, ich würde eine Priesterin, denn dann würde ich richtig zum Tempel gehören.“
Reik runzelte die Stirn. „Hat sie das gesagt?“
„Nicht direkt … Doch sie hat mir angeboten, mich in der Nacht vor der Sommersonnenwende zur Priesterin zu weihen. Und sie müsste sich über einige Tempelgesetze hinwegsetzen, um das zu tun. Also liegt ihr wohl einiges daran, meinst du nicht?“
Reik hätte aus dem Stehgreif mindestens drei aufzählen können und sah Gènaija beunruhigt an. „Du hast … Gènaija, hast du ihr Angebot etwa angenommen?“
„Natürlich nicht“, erklärte sie ruhig, „Ich muss für mich selbst entscheiden können.“
Erleichtert ließ er sich im Sessel zurücksinken. Doch was war an der Vorstellung eigentlich so erschreckend? Gènaija machte doch ohnehin nur, was sie für richtig hielt, unabhängig von anderen. Sie stellte sich sogar einem König entgegen. Nachdem sie zuvor eine Hohepriesterin brüskiert hatte.
Gènaija schüttelte den Kopf. „Weißt du, Reik, du lebst wirklich in einem merkwürdigen Land. Man sollte meinen, eure Lage sei schwierig genug, mit den Ostländern, den ständigen Kriegen. Ihr aber macht es euch auch noch innerhalb des eigenen Landes schwer: Tempel gegen Palast, Hohepriesterin gegen König, Vater gegen Sohn. Warum bloß, ich verstehe das nicht?“
Verbittert verzog er das Gesicht. „Wem sagst du das? Glaubst du, ich sehe das nicht? Aber ich habe keine Wahl. Mir bleibt nur, das fortzusetzen, was ich für richtig halte, auch wenn es mir viel zu oft verdammt sinnlos erscheint.“ Er sollte nicht jammern. Erwartete er etwa ihre Zustimmung, die Unterstützung dieser kleinen Verrückten, die selbst nicht wusste, was gut für sie war? Und mit der er am liebsten auf der Stelle die Laken geteilt hätte.
Gènaija schwieg, sah ihn nur an. „Reik, ich …“
Blitzschnell beugte Reik sich vor und legte ihr die Hand auf den Mund. „Sag nichts, Gènaija, bitte! Du würdest es später bereuen, also sag es erst gar nicht.“
Mit großen Augen sah sie ihn an und zog sacht seine Hand von ihrem Mund. Ließ seine Hand jedoch nicht los, blickte ihn weiter unverwandt an.
Oh, und er könnte, er wollte, lächelte sie aber nur herausfordernd an. „Warum tust du es nicht einfach, Kleines? Du möchtest doch.“
„Ich …“ Einen Moment wirkte Gènaija verunsichert. „Du möchtest mich doch auch küssen und tust es nicht, ich könnte dich genauso gut nach dem Grund fragen.“
„Könntest du. Bist du wütend auf mich?“
Sacht schüttelte sie den Kopf. „Nein, bin ich nicht.“
„Gut …“ Sie war so nah, und ihr Duft war so anziehend, dass er sie einfach küssen musste! Reik tat es aber nicht, sondern kämpfte gegen den zunehmenden Einfluss des Jägers. Gènaija war keine der erfahrenen Frauen, mit denen er sonst verkehrte, sie war ungleich empfindsamer, verletzbarer, er sollte vorsichtig sein. Auch wenn er sie noch so sehr begehrte, der Jäger … Aber er war nicht nur der Jäger!
Reik zog sie auf die Füße. „Komm mal mit. Was hast du denn mit deinem Bein gemacht, hast du dich verletzt?“
„Nur eine Schramme, nicht weiter schlimm“, wiegelte sie ab.
„Aber du humpelst, du hast schon einige Male das Gesicht verzogen, als hättest du Schmerzen.“
„Tatsächlich? Na ja, es tut ein bisschen weh. Wohin bringst du mich?“
„Nach nebenan, in meine Zimmer. Ich müsste irgendwo noch …“
Er ließ sie im Eckzimmer zurück, einem schönen, großen Zimmer mit blankpoliertem Holzboden und leicht nach außen gewölbten Wänden, Fenstern nach Süden und Westen. „Setz dich.“
Sie nahm Platz, stand aber fast sofort wieder auf, um an die Fester zu treten und wie gebannt hinaus zu schauen. Der Ausblick war, selbst bei Nacht und Regen, bezaubernd, wunderschön.
Schnell ging er ins Schlafzimmer, suchte im Schrank herum. Hörte Gènaija nebenan reden, nach ihm rufen.
„Ich bin hier, komm ruhig herein.“
Neugierig betrat sie das geräumige Zimmer, sein Schlafzimmer, und sah sich interessiert um. „Hier schläfst du also?“
„Ja.“ Reik wandte sich zu ihr um und lachte, als er ihren Gesichtsausdruck sah. „Gefällt es dir nicht?“
„Doch, ich bin nur etwas überrascht. Du legst wohl wenig Wert auf Möbel?“
Bis auf das Bett, das zwischen den beiden hohen Fenstern stand, einer großen Truhe, zwei Schränken an der rechten Wand und einem Waschtisch war das Zimmer leer.
Reik führte Gènaija ins Eckzimmer zurück. „Möbel lenken ab.“
„Vom Schlafen?“
„Von allem, besonders vom Arbeiten.“
„Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Vielleicht liegt es daran, dass du dich zu leicht ablenken lässt?“ Ihre Stimme hatte jetzt einen geradezu frechen Tonfall.
„Wenn mich etwas langweilt, dann ja. Lass mal sehen“, forderte er sie mit einer auffordernden Geste auf.
„Das … das sollte ich lieber selber machen“, wich sie aus.
„Würdest du im Tempel doch auch nicht.“
„Nein, aber …“
„Aber?“ Er grinste sie an. „Du bist albern, Gènaija.“
Sie wurde prompt rot, stellte jedoch den rechten Fuß auf einen Stuhl und zog den Stoff des Morgenmantels bis fast zur Hüfte hoch.
„Wie hast du das denn fertiggebracht?“ Skeptisch schüttelte Reik den Kopf. „Ich dachte immer, die Priesterinnen trainieren mit Holzschwertern?“
„Tun sie auch. Aber ich darf inzwischen am Unterricht der Tempelwächterinnen teilnehmen, heute schon zum zweiten Mal, und die verwenden richtige Schwerter, allerdings stumpfe.“ Gènaija rümpfte die Nase. „Das riecht ja scheußlich, bist du sicher, dass die Salbe noch nicht verdorben ist?“
„Die muss so riechen. Außerdem brennt es, wenn man sie aufträgt. Aber sie wirkt.“ Reik bemerkte, wie sie die Zähne zusammen biss, als er die Salbe vorsichtig einmassierte. „Du trainierst mit den Tempelwächterinnen?“
„Ja. Malin sagt, es wäre eine hervorragende Übung für sie, gegen eine Linkshänderin zu kämpfen“, erklärte Gènaija eifrig. „Es gibt wohl sonst keine in der Tempelwache. Keine richtige zumindest. Natürlich können Malin, Sina und noch einige andere beidhändig mit dem Schwert umgehen. Sina kämpft manchmal mit links gegen mich, außerhalb des Unterrichts, aber ich finde nicht, dass da so ein bedeutender Unterschied ist.“
„Vor allem ist es ungewohnt. Da aber Schwertkampf insgesamt eine ganz neue Erfahrung für dich ist, gibt es tatsächlich keinen großen Unterschied.“ Er steckte die Enden der Binde fest. „Ich hoffe, es geht so mit dem Verband?“
„Ja, danke. Im Tempel hätte es auch niemand besser gemacht.“
Reik musterte sie nachdenklich, sagte jedoch nichts.
„Was ist, warum siehst du mich so an?“
„Nichts“, gab er achselzuckend zurück.
„So?“ Abrupt drehte sie sich um und trat wieder an die Fenster.
Er brachte die Salbe zurück und wusch sich sorgfältig die Hände. Dann trat er dicht zu Gènaija, ohne sie jedoch zu berühren. Über den Ebenen im Westen schien sich ein Gewitter zusammenzubrauen, ab und an zuckten bereits Blitze über den Himmel.
„Geht es dir gut, Gènaija?“, seine Stimme klang belegt.
Überrascht wandte sie sich ihm zu und lächelte ihn offen an. „Ja.“
„Réa erzählte, du hättest Alpträume.“
Gènaija hob die Hand an sein Gesicht und strich ihm zärtlich über die Wange. „Du machst dir doch nicht etwa Gedanken um mich. Hast du nicht genug Sorgen?“
„Sollte man meinen. Dumm von mir, nicht?“, spottete er.
„Nicht unbedingt dumm, aber unnötig. Reik, es geht mir wirklich gut, ich fühle mich wohl.“
Sorgsam küsste er jede ihrer Fingerspitzen, zog Gènaija eng an sich.
„Was du mir über den Winterkönig erzählt hast, in Dalgena, dass er für sein Volk in den Krieg zieht, das … Das ist wörtlich zu verstehen, nicht wahr? Ich meine, du wirst …“, sie verstummte.
„Ja. Ich werde Mandura in diesen Krieg führen“, erklärte er kühl, „Ich werde an der Spitze der Armee in die Schlacht ziehen.“
„Aber …“ Entsetzt sah Gènaija ihm ins Gesicht, wollte sich von ihm losmachen, doch er hielt sie nur noch fester. „Aber ich will das nicht!“
„Niemand wird dich fragen, ob du das willst, Gènaija. Ich will diesen Krieg ebenso wenig, keiner in Mandura will ihn, aber trotzdem wird es dazu kommen. Marok hat es auf dieses Land abgesehen, er wird uns den Krieg erklären. Vielleicht im Herbst, vielleicht auch erst im nächsten Frühling. Das ist so!“
„Nein!“, protestierte sie.
„Doch, Gènaija, und wenn du noch so laut schreist und um dich schlägst.“ Er redete auf sie ein wie auf ein bockiges, trotziges Kind, und ein wenig benahm sie sich auch so.
„Und … und wenn du einfach nicht Winterkönig wirst, wenn du dich weigerst?“
„Dann wird ein anderer die Armee führen, jemand, der weniger geeignet ist. Ich werde mich nicht verweigern, Gènaija, ich bin der nächste König.“ Und nichts würde daran etwas ändern.
„Du bist dir sicher?“ Er spürte ihr Zittern.
„Ja. Du doch auch.“
„Warum …“ Sie brach ab, biss sich auf die Lippen und begann doch zu weinen, barg den Kopf an seinem Hals.
Tröstend strich er ihr übers Haar. „Nicht weinen, Kleines, davon wird es auch nicht besser, glaub mir.“
„Ich weiß, und ich glaube dir ja, aber …“
„Aber was?“
Schluchzend sah sie hoch. „Ich weiß auch nicht, ich … ich bin müde.“
„Ja, sicher. Warum sagst du das denn nicht eher, hm? Und ich rede die halbe Nacht mit dir.“
„Ich rede gern mit dir, auch die halbe Nacht und wenn ich müde bin. Was tust du?“
Reik hatte sie auf den Arm genommen „Ich bringe dich ins Bett.“
„Reik?“ Ihre flüsternde Stimme ganz klein, leise.
Er setzte sie auf dem Bett im Nebenzimmer ab, half ihr aus dem Morgenmantel. „Ja?“
„Ich …“ Hilflos hob sie die Schultern, brachte aber kein Wort heraus, sah ihn nur an. „Du siehst auch müde aus. Schlaf gut.“
„Schlaf gut, Kleines. Wenn etwas ist, ich bin gleich nebenan.“
Gènaija drehte sich auf den Bauch und wühlte die Kissen zu Recht, und er wünschte sich … Ließ sie schlafen.
(Ende 87. Tag)