Читать книгу Winterkönig - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 6
Kapitel 3 – Freundschaften
ОглавлениеSeit zweimal zehn Tage weilte Mara bereits im Tempel von Samala Elis, und sie fühlte sich so wohl wie schon lange nicht … Doch, auf dem Ritt, als sie an dem Waldsee Halt gemacht hatten. Und sie die Fische nicht fing. Jula war plötzlich vor ihr aufgetaucht, sein nasser, nackter Körper wie von tausenden Edelsteinen geschmückt, die in der tiefstehenden Sonne blitzten und funkelten. Reik hatte … er hatte ihr aus dem Wasser geholfen. Sie nicht geküsst.
Und abgesehen davon, dass sie den halben Nachmittag erfolglos damit zugebracht hatte, Berit … Hauptmann Berit Remassey einen Brief zu schreiben; sie wusste einfach nicht, wie sie beginnen sollte. Verbissen starrte sie auf das leere Blatt Papier, kaute wütend am Nagel ihres rechten Daumens und murmelte ein zerstreutes ‚Herein‘ vor sich hin, als es an der Tür klopfte. „Ich bin beschäftigt!“
Sina trat mit einem breiten Grinsen ins Zimmer, Milla folgte ihr auf den Fuß. „Wann bist Du schon einmal nicht beschäftigt, Süße? Auf, zieh dir was Nettes an, wir gehen in die Stadt hinunter.“
Mara zögerte keinen Augenblick und sprang begeistert auf. Den verflixten Brief konnte sie auch später noch schreiben. „Ich bin angezogen, wir können sofort gehen.“
„Unter ‚etwas Nettes‘ verstehe ich was anderes“, Sina schob sie ins Schlafzimmer und zog der protestierenden Mara Rock und Hemd aus. In der Zwischenzeit suchte Milla in Maras Kleidern herum und hielt ihr schließlich eine kurzärmlige Bluse und den schwarzen Rock mit dem Miederoberteil entgegen. „Hier, das ist besser.“
„Dazu ist es viel zu kalt“, widersprach Mara, „ich werde ...“
„Unsinn, die Sonne scheint, es ist ein wunderschöner, warmer Frühlingstag. Nimm einfach deine Jacke mit. Und wenn du dich freundlicherweise hinsetzen würdest, mache ich dir sogar die Haare“, bot Milla an.
„Also gut, einverstanden.“
Seufzend setzte Mara sich in den Sessel, während ihr Milla die Haare flocht und Sina ihr die Stiefel anzog; sie verstand nicht, warum die beiden so versessen darauf waren, ihr irgendwelche Sachen an- und auszuziehen, ihr die Haare zu kämmen, sie zu frisieren. Manchmal kam sie sich vor wie ihre Puppe.
Nicht nur Sina und Milla machte das ganz offensichtlich Freude, auch vielen anderen Frauen im Tempel, sogar Réa. Ständig kamen sie mit einem Schal, einem Tuch oder bunten Bändern für die Haare zu ihr, mit Dingen, die sie rein zufällig in einer Kleiderkiste oder einem Schrank entdeckt hatten und bei denen sie sofort an Mara denken mussten. Nur seltsam, dass alle diese Dinge neu waren. Mara konnte die Geschenke nicht ablehnen, ohne die Frauen zu kränken. Außerdem musste sie zugeben, dass sie die Sachen gut gebrauchen konnte. Und natürlich freute sie sich ganz schrecklich darüber, beschenkt zu werden, aber sie wurde jedes Mal verlegen wie ein Kind.
Die drei Frauen schlugen den Weg zum Marktplatz ein, der sich im Zentrum von Samala Elis befand, etwa auf halber Strecke zwischen Tempel und Palast. Mara war fasziniert von dem bunten Treiben auf dem weiten, vor Leben überschäumenden Platz, es schien an den unzähligen Buden und Ständen alles zu geben, was man sich nur wünschen konnte: Kurzwaren, Gewürze und Leckereien, Haushaltswaren und Lebensmittel wie Obst und Gemüse, Korn, Getreide und Mehl, sogar lebende Tiere.
Männer und Frauen aus allen Teilen Manduras und womöglich aus anderen Ländern drängten sich zu Fuß durch die engen Marktgassen, feilschten, was das Zeug hielt, kauften und boten lauthals ihre Waren feil. Der Lärm und das Stimmengewirr waren ohrenbetäubend. Zwischen den Erwachsenen rannten zahllose Kinder und Halbwüchsige umher, jagten einander und balgten sich kreischend. Einige Bettler hatten ihre Plätze nahe der Straße hoch zum Tempel eingenommen.
In den umliegenden Straßen und Gassen hatten sich Dutzende Handwerker niedergelassen, betrieben Händler ihre Geschäfte und Läden. Die besten Schneider und Schuster von Samala Elis fanden sich in den zwei Straßen nördlich des Platzes, wie Milla erzählt hatte, als sie Mara vor fünf Tagen in ein dort gelegenes Lädchen dirigiert hatte, um ein Paar guter Schuhe für Mara machen zu lassen. Mara war froh, dass sie nicht dafür bezahlen musste. Die sieben Silbermünzen waren, wie der Schuster ihr mit einem breiten Lächeln erklärte, vom Tempel bereits beglichen worden. Heute holten sie bei demselben Schuster die fertigen Schuhe ab. Für manduranische Wetterverhältnisse ziemlich vornehme Exemplare und, wie Mara fand, viel zu dünn. Aber weil Milla zufrieden war, war sie es ebenfalls.
Flankiert von Milla und Sina schob sie sich weiter durch das Gedränge, erschnupperte die vielfältigen Gerüche, lauschte dem merkwürdigen Klang dieser fremden Sprache und schaute neugierig den Leuten beim Handeln zu. Sie genoss das schöne Wetter und das Gefühl, genau am richtigen Platz zu sein.
Sina aber schien beunruhigt, die Tempelwächterin sah sich ständig um.
„Suchst du etwas?“, wollte Mara wissen.
„Nein, eigentlich nicht, ich … Hast du Hunger, Süße?“
„Nein, du?“
Unvermittelt grinste Sina, sehr breit. „Meine liebe, süße Mara, was hältst du von einer Überraschung?“
„Kommt darauf an“, gab sie keck zurück.
„Gute Antwort!“ sagte Sina und lachte. „Dann sieh doch einmal dort hinüber, neben dem Stand mit den Süßigkeiten.“
Mara sah hin, drückte Sina achtlos die neuen Schuhe in die Hände und rannte los.
„Jula!“ Stürmisch fiel sie ihm um den Hals.
Jula schloss sie in seine Arme, die Umarmung schien nicht enden zu wollen. Und dann sahen sie sich lange Zeit einfach nur an. Mara war sprachlos vor Glück, fing vor Freude fast an zu weinen. „Oh, Jula, ich freue mich so dich zu sehen!“
„Und ich erst! Wahrscheinlich bin ich der glücklichste Mensch in ganz Mandura, oder nein, auf der ganzen Welt“, erklärte Jula und fügte nach einem langen Blick hinzu: „Es scheint dir gut zu gehen, Mara.“
Hingerissen schaute Mara ihm in die Augen, überwältigt vom Klang seiner Stimme, der Art, wie er ihren Namen aussprach. Schließlich lachte sie glücklich. „Ja, dir offenbar auch, ich … Oh, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, am liebsten würde ich dir alles gleichzeitig erzählen, ich …“ Sie verstummte, sah ihn nur an und strahlte. Mara wandte sich nach Milla und Sina um, ohne Jula auch nur einen Augenblick loszulassen. „Sie sind verschwunden?“ fragte sie verwundert.
„Ja.“ bestätigte Jula, „Wir haben den ganzen Nachmittag und Abend für uns. Natürlich nur, wenn du das willst.“
„Und ob ich will, was für eine Frage!“
„Eine naheliegende, Mara. Bis vor wenigen Augenblicken wusste ich überhaupt nicht, was du …“, begann Jula stockend, unterbrach sich aber gleich wieder. „Komm, ich kenne einen Platz, wo wir ungestört miteinander reden können, und vielleicht habe ich mich bis dahin auch wieder erholt.“
„Erholt wovon?“
„Von deiner stürmischen Begrüßung.“ Er lachte.
„Verstehe … Aber wohin gehen wir?“ Jula hatte Maras Neugier geweckt.
„Richtung Westtor. Dort gibt es für die Wachmänner einen Turm an der Mauer. Man hat von da oben eine hübsche Aussicht.“
„Und zufälligerweise kennst du die Männer auf dem Turm?“
Jula grinste. „Du sagst es.“
Während sie durch das Gassengewirr zum Westtor gingen, schaute sie Jula immer wieder von der Seite an. Es kam Mara völlig natürlich und richtig vor, dass sie so glücklich war. Irgendwann griff sie nach seiner Hand. Er lächelte überrascht, sagte aber nichts, drückte nur ihre Hand.
Der Turm, Teil des Westtores, erschien Mara recht hoch, zwölf, vielleicht fünfzehn Schritt. Jula sprach kurz mit den Männern, die auf der Mauer Wachdienst hatten.
Oben bot sich ihnen ein herrlicher Blick über das weite Land, die Ebenen südlich des Nesbra, die waldreichen, sanften Hügel nördlich des Flusses. Ein gutes Stück oberhalb des Tors erhob sich der Tempelberg, Mara konnte sogar die Fenster ihrer Zimmer im Gebäude der Priesterinnen erkennen. Unterhalb erstreckten sich der Hafenbezirk, die Stadt und die Festung.
In der Sonne, durch die Brüstung vor dem Wind geschützt, war es angenehm warm. Mara zog die Jacke aus, blickte Jula an. „Wieso musstest du dich von meiner Begrüßung erholen? Hast du nicht damit gerechnet, dass ich mich freuen würde?“
„Doch. Nur habe ich nicht erwartet, wie sehr du dich freuen würdest, mich zu sehen … Ich war mir nicht sicher, was du für mich empfindest, Mara, und ob du mich überhaupt vermisst hast.“
„Und jetzt bist du dir sicher?“
Lachend legte Jula ihr den Arm um die Schultern. „Immerhin habe ich einen vielversprechenden Hinweis erhalten.“
„Ich mag dich, Jula“, gestand ihm Mara, „sehr sogar, und nicht nur manchmal .... Und was das Vermissen betrifft: Es ist so viel passiert auf der Reise von Dalgena nach Kirjat und dann hierher. So vieles, über das ich nachzudenken hatte, und dann all das Neue: die Stadt und der Tempel ... ich komme ja gar nicht dazu, jemanden zu vermissen. Erst als ich dich gesehen habe, wurde mir klar, wie sehr ich dich vermisst habe.“
„Ich verstehe. Sina erwähnte schon, du seist fürchterlich beschäftigt.“
„Ich bin zwar wirklich sehr beschäftigt, aber von ‚fürchterlich‘ kann nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Ich finde es wundervoll.“ Mara lachte. „Und was das Beste ist: Ich habe Unterricht im Schwertkampf, und Malin sagt, wenn ich weiterhin solche Fortschritte mache, dürfe ich zu den Übungsstunden der Tempelwächterinnen kommen. Ist das nicht großartig?“
„Das ist es. Und es ist großartig, wie begeistert du bist und wie glücklich du dich anhörst.“
„Das bin ich auch. Es fühlt sich so richtig an, auch jetzt hier mit dir zusammen zu sein. Weißt du, ich habe das Gefühl, dir alles sagen zu können und von dir verstanden zu werden. Und ich möchte über alles mit dir reden, auch über das, was weh tut. Bei dir fühle ich mich geborgen, weil ich dir ganz und gar vertrauen kann ... Jula?“, fragte sie vorsichtig.
Mit verschleiertem Blick sah er sie an, setzte mehrmals zum Reden an, bevor er sie schließlich in seine Arme zog. „Oh Mara, das ist … Etwas Schöneres hat mir noch nie jemand gesagt, ich … Himmel, Mara, ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich deinem Vertrauen auch würdig bin und …“
„Verzeih, wenn ich dich erschreckt habe.“
„Aber nein, ich bin nur etwas … überrascht. Weißt du eigentlich, dass das eine Liebeserklärung war?“
„Meinst du?“, fragte Mara und setzte sich. Jula machte es sich neben ihr bequem. „Ich kann mich nicht erinnern, von Liebe geredet zu haben“, stellte sie klar.
„Nun, es war eben eine ganz besondere Liebeserklärung.“
„Und damit kennst Du dich wahrscheinlich besser aus als ich.“
„Schon möglich“, stimmte er zu.
„Erzähl mir lieber, was passiert ist, nachdem ihr vor Dalgena den direkten Weg nach Samala Elis genommen habt. Aber vergiss die Frauen nicht, ich bin sehr neugierig. Vielleicht kann ich noch etwas lernen.“
„Dass du neugierig bist, glaube ich dir aufs Wort. Aber was glaubst du von mir lernen zu können?“
„Ich weiß nicht genau, ich bin ja ziemlich unerfahren. Erzähl einfach.“
„Also schön“ begann Jula. „bis an den Nesbra, wo wir mit Fähren nach Samala Elis übersetzten, verlief die Reise recht ereignislos, um nicht zu sagen langweilig. Fast die ganze Zeit hat es geregnet, was aber zu der Jahreszeit normal ist. Es gibt auf den Ebenen keine größeren Siedlungen. Die einzige interessante Frau, von der ich berichten könnte, ist die aus meinen Träumen. Und die kennst du genau.“
„Du hast von mir geträumt?“, fragte Mara forschend nach.
Er räusperte sich verlegen. „Also ... meistens ist gar nichts passiert, im Traum, ich habe dich einfach nur vor mir gesehen. Manchmal träumte ich, wie wir zusammen in dem See schwimmen ... das war sehr schön, aufregend. Manchmal hast du in meinen Armen gelegen und geweint, und ich habe versucht, dich zu trösten ... dann haben wir uns geküsst …“
„Und?“
„Tja, leider bin ich ausgerechnet an der Stelle immer aufgewacht. Vielleicht war der Traum zu aufregend.“
„Wie schade.“
„Du sagst es“, stimmte Jula ihr zu und lachte. „In der Stadt hatten wir jedenfalls erst mal drei Tage dienstfrei. Also habe ich mich mit einigen anderen in verschiedenen Kneipen und Tavernen herumgetrieben. Alle möglichen Leute wollten von der Reise hören, sodass wir unser Bier selten selbst bezahlen mussten. Ich fürchte, die eine Hälfte der drei Tage war ich betrunken, die andere habe ich meinen Rausch ausgeschlafen. Klingt nicht sehr spannend, oder? Danach hatte ich wieder normalen Dienst in der Kaserne hier am Westtor, also Wache oder Ausbildung im Schwertkampf, mit dem Stock, der Streitaxt und im Bogenschießen.“
Mara lachte. „So habt ihr also die Kaninchen gefangen.“
„Kaninchen?“ Einen Augenblick schien Jula irritiert. „Ach so, im Wald, ja. Nicht der übliche Weg – aber wenn es schnell gehen muss. Zwei, drei Tage, bevor ihr angekommen seid, habe ich Sina getroffen, oder sie mich. Regelrecht ausgefragt hat sie mich nach dir.“
„Sie meinte, du hättest ihr von mir vorgeschwärmt.“
„Ja, das wohl auch. Wir kennen uns schon lange und sie weiß genau, wie man mich zum Reden bringt. Bestimmt hat sie dir erzählt, dass wir aus demselben Dorf stammen?“
„Hat sie.“
„Ich …“ Jula zögerte, bevor er weiter sprach. „Vielleicht sollte ich erst eine Sache zu Ende erzählen. Ihr seid angekommen und … Mara, du warst so schön, du …“ Leidenschaftlich sah Jula sie an und drückte fest ihre Hand. „Natürlich fand ich dich auch vorher schon wunderschön, aber als du mit dem Hauptmann in die Stadt kamst … in diesem Kleid … Du sahst aus wie die kommende Königin.“
Mara war sprachlos vor Erstaunen. „Wirklich?“
„Ja, und ich wette, nicht nur ich hatte diesen Gedanken.“
„Aber … Jula, das ist Unsinn“, widersprach Mara entschieden.
„Glaubst du?“, fragte er mit einem neckischen Lächeln.
„Ja. Das wäre mir wohl kaum entgangen.“
„Das ist anzunehmen.“
Die Sonne sank langsam dem Horizont entgegen, der Wind frischte auf, wurde böiger. Sanft strich Jula mit den Fingern über ihren Handrücken, legte fürsorglich die Arme um sie. „Ist dir nicht kalt? Zieh lieber deine Jacke wieder an.“
„Aber es ist schöner so“, erklärte Mara „wenn du mich wärmst.“
„Verstehe …“ Jula räusperte sich, bevor er weiter sprach. „Mara?“
„Ja?“
„Du … Mara, hast du mit ihm …“, wollte Jula wissen.
„Ja.“
Sie sah ihn an und lächelte versonnen. Dann legte sie wieder den Kopf an seine Schulter. „Es war … sehr schön und … unwahrscheinlich aufregend.“
„Wie schön! Genau das sollte es auch sein.“
„Ja, so sollte es immer sein.“ Auf einmal stürmten all die verdrängten Erinnerungen mit Macht auf Mara ein, und nichts war mehr schön. Als hätte jemand die Sonne und jegliches Licht gelöscht und es wäre eisige, bitterkalte Nacht.
„Was ist?“ fragte Jula, erschrocken über den bitteren Klang ihrer Stimme, und schaute ihr ins Gesicht. „Du musst es mir erzählen, Mara. Sag doch, was passiert ist, bitte …?“
Sie begann zu weinen, klammerte sich schluchzend an ihn, selbst überrascht von der jähen Heftigkeit der aufdrängenden Gefühle. Jula streichelte sanft ihren Rücken, während er sie im Arm hielt. „Ich bin da, Mara. Und ich helfe dir. Aber du musst mit mir reden. Bitte hör auf zu weinen, Mare. Willst du mir nicht erzählen, was geschehe ist?“
Sie seufzte tief. „Jula, ich …“
„Ja?“
„Ich muss, nein, ich möchte dir etwas erzählen. Es ist … keine schöne Geschichte, ganz und gar nicht, es ist sogar eine richtig schlimme Geschichte, und ich kann verstehen, wenn du sie nicht hören willst …“
„Ich höre dir zu, Mara“, versicherte er ihr.
„Wirklich?“ fragte sie zweifelnd, dann atmete sie tief durch. „Ich … ich habe das noch keinem Menschen erzählt. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll ...“ Ihre Stimme klang, als würde sie im nächsten Moment wieder in Tränen ausbrechen.
„Ist ja gut“, beruhigte Jula sie. „Fang einfach am Anfang an.“
Und Mara begann, ganz am Anfang, schilderte Jula ihr ganzes Leben in allen Einzelheiten, erzählte von ihren Eltern, der Zeit, als die Mutter noch lebte und die Dinge einfach waren. Erzählte Jula dann vom Tod ihrer Mutter und wie ihr Leben danach so viel schwieriger und freudloser wurde. Sprach von den Träumen und den ständigen Schikanen, den Schlägen und der Prügel, die sie nicht allein von ihrem Vater bezog. Von ihrem Vater und davon, dass dieser von dem Wolf getötet wurde, ihrer Wut und all dem angestauten Hass, auch auf ihn.
Mara sprang in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Erlebnisse vor und zurück, brach zwischendurch immer wieder in Tränen aus. Manchmal schrie sie wütend, manchmal flüsterte sie nur noch. Jula hörte die ganze Zeit schweigend und ernst zu. Nicht ein einziges Mal unterbrach er sie, sondern ließ sie einfach reden.
Schließlich erzählte sie ihm von ihrer Freundschaft zu Anella. Berichtete stockend von dem Tag, als Ludeau sie im Stall beobachtet hatte und Mara abfing, als sie Anella ins Haus folgen wollte. Sie schluchzte und ihre Stimme klang heiser vom langen Sprechen. Den Kopf an seinen Hals gedrückt fuhr sie fort: „Er hat mich erpresst! Er hat gesagt, wenn ich nicht tue, was er verlangt, würde er Luca alles verraten und der würde Anella dann nicht mehr heiraten wollen. Immer wieder hat er mich geohrfeigt und mich immer wieder gegen die Wand gestoßen. Was sollte ich denn tun?! Ich konnte mich nicht wehren, weil … Ich hätte Anellas Leben zerstört! Er hätte es getan, ohne mit der Wimper zu zucken! Er hat mir wehgetan, Jula, immer und immer wieder, ich konnte nichts tun, und das wusste er genau!“
Sie presste die Zähne aufeinander, dann fuhr sie fort. „Aber wie weh er mir auch tat, ich habe nicht geschrien, ich habe nicht geweint. Ich habe ihn auch nicht angefleht, mir wenigstens nicht mehr so weh zu tun, mich nicht mehr zu schlagen. Das nicht! Eines Tages wird er dafür bezahlen, sagte ich mir immer wieder, irgendwann bringe ich ihn um. Dann habe ich mir in allen Einzelheiten ausgemalt, wie ich ihn töten würde. Und glaub mir: es wäre ein langwierig und qualvoller Tod für diesen Dreckskerl geworden.“
Mara verstummte, schloss müde die Augen. Sie fühlte sich ausgelaugt, vollkommen leer. War ganz ruhig, lauschte dem Wind, den Geräuschen der Stadt, Julas Atem.
Er schluckte, seine Stimme klang rau, heiser. „Mara?“ begann er schließlich, „Du weißt, dass er tot ist?“
„Ja, Reik hat es mir erzählt. Er hat es … gewusst, die ganze Zeit über. Er hat kein Wort gesagt. Bis er dann … er sich wohl dachte, ich würde es von mir aus niemals sagen, jedenfalls nicht ihm, und … Manchmal habe ich das Gefühl, ich weiß überhaupt nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Er … hat Gedanken und Hintergedanken und daneben noch mehr Gedanken. Ich glaube, er denkt sehr … um die Ecke. Sicher spielt er gut Schach, da muss man so denken.“
Sie bemerkte Julas verzweifelten Blick und legte behutsam die Hand an seine Wange. „Jula? Was ist denn? Oh, Jula, es tut mir leid, ich hätte dir das nicht erzählen sollen, nicht jetzt, ich habe dir den ganzen …“
„Darum geht es doch gar nicht, Mara“, wandte er mit belegter Stimme ein. „Es war absolut richtig, dass du mir alles erzählt hast, und ich bin überwältigt von deinem Vertrauen. Nur, dass ich nicht so schnell zu einem anderen Thema übergehen kann, nicht nach dem, was du mir anvertraut hast. Wenn du das kannst, ist das bewundernswert und womöglich auch notwendig, um nicht verrückt zu werden. Aber ich kann das nicht.“
„Ja, es ist notwendig, jedenfalls … war es das bisher. Wenn ich zu lange, wenn ich überhaupt auch nur daran gedacht habe, war eine solche Wut in mir, ein solcher Hass, dass ich das Gefühl hatte, davon … verschlungen zu werden. Als könnte allein der Gedanke mich zerstören“, erklärte sie. „Und von ohnmächtiger Wut, von dem Hass, der keinen Weg nach außen findet und nur immer stärker wird, bis zum Wahnsinn ist es nur ein sehr kurzer Schritt, verstehst du das?“
„Es kling jedenfalls grauenhaft. Aber jetzt ist alles anders?“, fragte Jula nach.
„Die Erinnerungen haben ihre Schrecken nicht verloren, und daran wird sich auch nichts ändern, weil ich einfach nicht vergessen kann. Nur die Wut ist nicht mehr so übermächtig, und ich kann mich jetzt wehren.“
„Du hast Reiks Messer“, erinnerte Jula sie.
Mara lächelte hintergründig. „Auch.“
„Dann hat dich der König wohl nicht ohne Grund unbjita ’leki genannt, wie erzählt wird? Du bist wirklich … du kannst tatsächlich zaubern?“
„Nun, ich kann Dinge, die die meisten Menschen nicht können, und ich lerne. Eigentlich ist das nicht ganz das passende Wort, aber ich kenne kein besseres, schon gar nicht auf Manduranisch.“
„Also ist etwas dran an den Gerüchten, du könntest Gedanken lesen?“
„Ja, und zwar ohne Hilfsmittel wie Kräuter oder Drogen, so wie Lorana das im Tempel macht. Und ohne die Person, in deren Bewusstsein ich eindringen will, berühren zu müssen. Kein Grund also, Abstand von mir halten.“ Sie kicherte vergnügt.
„Tut mir leid, aber… es ist nur eine ziemlich beunruhigende Vorstellung. … Jederzeit? Und bei jedem?“
„Ich nehme es an, ja. Aber ich mache es nicht gern und nur dann, wenn es gute Gründe dafür gibt.“
„Ich kann mir eine Menge guter Gründe vorstellen.“
„Die Mehrzahl der Dinge, an die du denkst, kann man auch anders erreichen“, erklärte Mara. „Wenn es zum Beispiel um die Frage geht, ob jemand lügt: Das kann jede gute Priesterin. Die Gefühle der meisten Menschen sind relativ leicht zu erkennen.“
„Und wenn man jemanden beeinflussen möchte? Einen Menschen dazu bringen will, etwas zu tun, was er gar nicht möchte?“
„Auch das kann man lernen. Jeder, von dem es heißt, er oder sie könne gut mit Menschen umgehen, macht im Grunde nichts anderes, auch der König oder Lorana, und sicher auch dein Hauptmann.“
Jula lächelte sie verschmitzt an. „Ganz sicher sogar. Mein Hauptmann ist nämlich Reik.“
„Wirklich?“ fragte Mara verblüfft. „Sagtest Du nicht, du hättest Dienst in der Kaserne am Westtor? Aber Reik ist …“
„Reik ist der Hauptmann der Garde des Königs, deren Unterkünfte im Palast liegen“, bestätigte Jula. „Vor dir steht … ich meine, neben dir sitzt ein Mitglied der Garde seiner Majestät höchstpersönlich.“
„Jula, warum hast du das denn nicht eher gesagt?“ rief Mara. „Das ist großartig! Wenn du wüsstest, wie stolz ich auf dich bin, ich …“ Ihr fehlten die Worte, also strahlte sie ihn einfach nur an und drückte ihm stürmisch einen Kuss auf die Wange. Jula umarmte sie lachend. „Du freust dich? Und du bist stolz auf mich?“
„Und wie! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich meine … Die Garde des Königs … das sind die absolut allerbesten. Nun erzähl schon, ich will alles wissen.“
„Du bist ein Schatz, weißt du das?“, betonte Jula und begann dann mit seiner Geschichte: „Vor elf Tagen erhielt ich den Befehl, am nächsten Morgen zur neunten Stunde im Thronsaal zu erscheinen. Ich war ziemlich nervös, schließlich bin ich nicht jeden Tag im Palast, und ich wusste nicht, was mich erwartet. Außer mir waren noch vierzehn andere Soldaten anwesend, alle wie ich in ihrer besten Uniform und mit poliertem Kettenhemd, darunter vier Männer, die mit im Süden waren. So standen wir also da und warteten, jeder mehr oder weniger nervös, um uns herum einige Soldaten der Garde, die regungslos geradeaus blickten. Und dann kam … Nein, erst öffnete sich hinter uns eine Tür, der Hauptmann betrat den Saal und stellte sich zu den Männern der Garde. Natürlich trug auch er Uniform, Gardeuniform, um genau zu sein. Sein Blick war ernst, unbewegt und kalt. Glaub mir, das kann er wirklich gut. Dann kam der König, umgeben von seiner persönlichen Leibwache“, berichtete Jula weiter.
„Es war alles sehr förmlich. Seine Majestät hielt eine kurze Ansprache, lobte unser bisheriges Verhalten und unsere Fähigkeiten als Soldaten in den Reihen der Armee Manduras. Und er sei sich sicher, wir würden uns der Ehre, ab heute Mitglieder der Garde zu sein, würdig erweisen. So ging es noch einige Zeit weiter, er sprach von Pflichtbewusstsein und Ehre, und ich wurde das Gefühl nicht los, er meinte mich. Später erzählten mir die anderen, ihnen sei es genauso ergangen. Irgendwann überließ seine Majestät uns dem Hauptmann und ging. Reik trat vor und musterte jeden einzelnen von uns, lange und eindringlich, bis er schließlich lächelte: 'Willkommen in der Garde'. Danach wurde er sofort wieder ernst und teilte uns mit, er erwarte uns in einer Stunde in voller Montur auf dem Gardehof, was mehr als genug Zeit wäre, unsere Habseligkeiten in die Unterkünfte der Garde zu schaffen.“
Jula lachte. „Und seitdem habe ich eigentlich keine freie Minute mehr. Fast ständig müssen wir üben, vor allem Schwertkampf, zu Fuß und zu Pferde, und waffenlose Verteidigung. Verglichen damit ging es in der Kaserne am Westtor wesentlich ruhiger zu. Heute ist mein erster freier Nachmittag, und Abend.“
„Wann musst du wieder dort sein?“, erkundigte sich Mara.
„Nicht vor Sonnenaufgang ...“
„Das ist fabelhaft, dann haben wir den ganzen Abend für uns!“, jubelte sie, runzelte dann aber nachdenklich die Stirn. „Und Len war nicht unter den anderen Männern? Du sagtest doch, vier von denen wären mit im Süden gewesen.“
„Wie kommst du auf Len?“, wunderte sich Jula. „Nein. Mara, Len ist Gardist, seit gut zwei Jahren schon.“
„Aber … Er erzählte mir doch, er sei nicht gerade ein guter Kämpfer.“
„Das sagt er immer. Aber ist gut, verdammt gut sogar. Nur, dass er sich ständig mit Domallen vergleicht, also dem Hauptmann, und da kann er nur verlieren. Jeder verliert gegen ihn, obwohl die Männer ihn fast jeden Tag im Zweikampf zu schlagen versuchen. Eigentlich geht es nur darum, wie lange man gegen ihn durchhält. Len sagte mir, er könne sich nicht erinnern, wann Domallen das letzte Mal verloren hat.“
„Bist du auch schon gegen ihn angetreten?“, fragte Mara gespannt.
„Ja, zweimal. Das erste Mal hat er mich dazu aufgefordert. Na ja, sagen wir lieber, er hat er mir zugenickt. Er ist kein Mann der vielen Worte, und er hat mich so schnell entwaffnet, dass es geradezu peinlich war. Drei Tage später habe ich ihn dann gefordert. Und wieder verloren, nur nicht ganz so schnell. Ich glaube, ich war gar nicht mal schlecht, das fand auch ...“
„Reik hält viel von deinen Fähigkeiten. Einmal erzählte er mir, du wärst für ihn einer der talentiertesten Kämpfer. Und dass du hervorragend kämpfen kannst.“
„Das hat er wirklich gesagt?“, freute sich Jula. „Was gibt es da zu grinsen?“
„Du würdest auch grinsen, wenn du deinen Gesichtsausdruck sehen könntest, während du von Reik sprichst. Du bewunderst ihn, stimmt's?“
„Ja, sehr, er ist großartig. Ich habe immer davon geträumt, Soldat der Garde zu sein, zu den besten Soldaten von Mandura zu gehören. Und jetzt ist er mein Hauptmann, verstehst du? Es gibt natürlich noch weitere Hauptleute in der Garde, schließlich besteht sie aus zweitausend Mann, und jeder Hauptmann hat zweihundert Männer unter sich. Aber ich gehöre zu den Männern von Reiks Einheit, genau wie Len, und das ist eine wirklich gewaltige Ehre für mich.“
Plötzlich verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. Jula stand auf, lehnte sich an die Brüstung des Turms und blickte schweigend nach Westen, wo das letzte Licht des Tages den Horizont rötlich färbte.
Mara zog ihre Jacke über, trat zu ihm und sah ihn aufmerksam an.
„Mara“, begann Jula schließlich. „Weiß er von … weiß er, was du für mich empfindest?“
„Er weiß, dass ich dich mag.“
„Ach ja?“
„Und ich habe ihm gesagt, er solle nicht erwarten, ich gehöre ihm allein.“
„Das … das hast du ihm gesagt, nachdem ihr miteinander geschlafen habt?“ fragte Jula ungläubig. „Das war ein harter Schlag.“
„Nicht direkt danach“ stellte sie richtig, „erst am folgenden Abend.“
„Wie hat er darauf reagiert?“
„Er sagte, das erwarte er auch nicht. Danach hat er mich lang und leidenschaftlich geküsst und anschließen so fürchterlich ausgekitzelt, dass ich vollkommen außer Atem war. Schließlich hat er … Wie genau möchtest du das wissen?“
Jula lächelte sie offenherzig an. „Ich kann es mir ganz gut vorstellen. Weißt du, dass du mich ziemlich durcheinander bringst, wenn du so redest? Ich meine, nicht, dass du mich verlegen machst, eigentlich gefällt es mir sogar, irgendwie, nur …“
„Ja?“
„Die Vorstellung, dass du und er … also, das ist verdammt aufregend.“
Sie spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen schoss. „Das war nicht meine Absicht.“
„Weiß ich doch. Nun guck nicht so zerknirscht, Mara“, beruhigte er sie. „Das ist schließlich nichts Schlimmes, ich sagte ja, es gefällt mir. Ich wollte nur ehrlich sein und dir zeigen, wie aufregend ich dich finde! Wahrscheinlich stehe ich mit meiner Meinung nicht ganz allein da.“ Wieder ließ er lächelnd den Blick zum Horizont schweifen. „Sina meint, ich küsse zu gern die falsche Frau.“
„Und mit ‚falsche Frau‘ meint sie vermutlich mich?“
„In diesem Fall schon.“
„Aber du hast mich doch gar nicht geküsst“, korrigierte sie ihn.
„Nein, aber ich würde es sehr gern tun.“
„Ja … ich auch.“ Sie sahen beide zum Horizont.
„Du auch …“, wiederholte Jula. „Warum tun wir es dann nicht?“
„Vielleicht genügt uns die Vorstellung, dass wir uns schon bald küssen werden? Vielleicht, weil die Zeitspanne bis zur Erfüllung so überaus aufregend ist?“
„Und wie lange dauert diese Zeitspanne? Bis das Abendrot am Horizont verblasst ist oder …“ Jula schaute in den sich immer weiter verdunkelnden Himmel hinauf. „Bis ein riesiger Schwarm Eisgänse mit vor Sehnsucht heiseren Stimmen hoch über uns nordwärts zieht?“
Erstaunt sah Mara ihn an und schlang die Arme um seinen Nacken. „Genauso lange.“
* * *
„Hoheit, was für eine Überraschung.“ Lorana beugte sich ein wenig vor und erlaubte Bro, sie auf die Wange zu küssen. Mitunter schätzte sie die Gesellschaft dieses grobschlächtigen, bärbeißigen großen Mannes, aber heute … kam er reichlich ungelegen.
„Hatten wir doch so abgemacht, oder hab‘ ich da was verwechselt?“
Er lachte, wie immer zu laut, zu dröhnend – von Zeit zu Zeit gefiel ihr das sogar, an diesem Abend bereitete es ihr Kopfschmerzen. Bro ließ sich schwungvoll in einen der Sessel in ihrem privaten Wohnraum fallen, der dabei beunruhigend knackte, und musterte sie. „Soll ich wieder gehen?“
„Nein, nein …“ Sie schüttelte den Kopf, fuhr sich über die Stirn.
„Sorgen? Macht die Kleine dir etwa Probleme?“
„Das Mädchen ist harmlos, Bro, ein bisschen … Nein, ich ärgere mich, weil ich die ganzen Unterlagen habe wegschaffen lassen, was völlig …“ Sie erhob sich abrupt, ging ein paar Schritte im Zimmer umher; sie brauchte die Bewegung, wenigstens ein kleines Ventil. „Und jetzt muss der ganze Kram wieder zurück, da unten können die Papiere unmöglich bleiben!“
„Ich habe sowieso nicht verstanden, wieso ihr das halbe Archiv …“
Und sie verstand nicht, warum sie ihm damals überhaupt davon erzählt hatte. „Eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme.“ Überzogen, viel eher eine Panikreaktion, wie ihr heute klar war. „Wussten wir denn, wen du da anschleppst? Sie hätte ja wirklich gefährlich … Du gibst einer völlig Fremden nicht freiwillig ein solches Wissen preis!“
„Das sind nur Papiere, Lorana“, brummte Bro verächtlich, „alte Geschichten … Ihr mit Euren ewigen Aufzeichnungen. Genau wie Reik. Der lässt auch über jeden Mist Berichte verfassen. Die hinterher aber kaum jemand lesen darf. Wozu der ganze Aufwand, frag ich dich, nur um die Leute zu beschäftigen …“
„Du schreibst nicht gern“, bemerkte sie.
„Nicht gut, wolltest du sagen“, er grinste breit, griff nach ihrer Hand und zog Lorana zu sich auf seinen Schoß. „Ich bin ein Mann der Tat, nicht des Wortes.“
„Anders als dein Neffe, wo wir schon von ihm reden?“
„Aber nein! Reik ist sogar sehr … tatkräftig. Sehr ‚rege‘, wie du es ausdrücken würdest, mit tausend Dingen gleichzeitig beschäftigt.“
Lorana lachte unwillig auf und hielt seine Hand fest, die er unter ihren Rock geschoben hatte. „Aber an der Sache mit Turams ach so hübscher, junger Frau, ist doch wohl nichts dran?“
Bro ließ sich weder beirren, noch von ihr aufhalten, und schob seine Hand höher. „Das war nicht er.“
Lorana gab nach, konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. „Musst du gerade jetzt von ihm reden?“
„Ich muss gar nicht reden.“ Wieder lachte Bro dröhnend, doch dieses Mal störte es sie nicht. Vielmehr erfreute sie sich an dem Gedanken, mit dem Bruder des Königs das Bett zu teilen. Auch wenn der ein grober und wenig feinfühliger Liebhaber war … Sie verbot sich jeden weiteren Gedanken.
* * *
Natürlich blieb es nicht bei einem Kuss, doch irgendwann wurde es empfindlich kühl auf dem Turm.
Jula lud Mara zum Essen in ein Gasthaus am Marktplatz ein. Das Essen dort war sehr teuer, jedenfalls erschienen ihr vier Silberstücke, kleine Münzen, für zwei Mahlzeiten recht viel, aber dafür schmeckte es auch hervorragend, ebenso wie der Wein.
Sie war ein bisschen betrunken, was Jula ziemlich lustig fand und ihn zu der Bemerkung veranlasste, jetzt müsse wohl er mit ihr Tanzen gehen, damit sie wieder nüchtern werde. Sofort stimmte Mara begeistert zu, sie wollte unbedingt mit ihm tanzen. Und Jula kannte auch genau den richtigen Ort dafür.
Überhaupt schien er sich in der Stadt bestens auszukennen, kannte die unterschiedlichsten Leute und die Leute kannten ihn, darunter nicht wenige gutaussehende Frauen. Mara fühlte sich in seiner Gegenwart überaus wohl. Die ganze Zeit über redeten sie – manchmal, aber nur, wenn niemand zuschaute, küssten sie sich auch –, und sie hatte das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen, so vertraut waren sie sich.
Es war bereits spät, als sie die Taverne verließen. Der Mond stand hoch am Himmel. Die Straßen waren menschenleer. Jula hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. „Bist du sehr müde?“
„Nein, nur meine Füße. Warum sagt Sina, du küsst zu gern die falsche Frau?“, fragte Mara interessiert nach.
Julas Stimme klang gepresst, als er ihr antwortete. „Weil es stimmt und ich mich dadurch schon häufig in Schwierigkeiten gebracht habe. Vor … vor etlichen Jahren habe ich auf einem Fest mit einem Mädchen getanzt. Na ja, nicht nur einmal. Sie war fast zwei Jahre älter als ich und ich über beide Ohren verliebt in sie. Wie das so geht, irgendwann an dem Abend haben wir uns geküsst, recht heftig sogar. Das Dumme war nur, dass sie einige Tage später heiraten wollte, und zwar den Sohn eines reichen und einflussreichen Mannes aus unserem Dorf. Nach diesem Abend natürlich nicht mehr. Es gab scheußlichen Ärger. Mein Vater hat mich fürchterlich verprügelt und im Keller eingesperrt. Das Mädchen wurde letztendlich doch verheiratet, und mein Vater musste sich bei ihrer Familie und bei der des Bräutigams in aller Form für das Benehmen seines missratenen Sohnes entschuldigen.“
„Und dann?“, fragte sie ängstlich.
„Als mein Vater mich aus dem Keller heraus ließ, bin ich abgehauen. Früher oder später wäre ich sowieso gegangen, eher früher. Ich hatte ständig Ärger mit meinem Vater und meinen älteren Brüdern. Zudem fand ich die Aussicht, Schmied zu werden, nicht sonderlich reizvoll. Mein Vater ist Schmied und zwei meiner Brüder sind es ebenfalls.“
Aufmerksam sah sie Jula an. „Wie viele Geschwister hast du denn?“
„Drei Brüder und drei Schwestern. Meine beiden älteren Brüder und alle meine Schwestern sind verheiratet und haben eigene Familien. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Nichten und Neffen ich inzwischen habe, ich bin nie wieder dort gewesen. Sina hat mir mal erzählt, es ginge allen gut. Sie war in Beita, um ihre Schwester zu besuchen. Ich nehme an, sie hat meinen Eltern auch erzählt, dass ich noch lebe.“
„Sie wären sicher stolz, wenn sie wüssten, dass ihr Sohn Soldat in der Garde des Königs ist“, befand Mara.
„Ich weiß nicht, vielleicht. Aber ist zum Verzweifeln! Immer wieder gerate ich in solche Situationen. Sie sind alle so nett und …“
„Die meinst, die Frauen?“, hakte sie nach.
„Ja. Und es fällt mir schwer, Nein zu sagen, auch wenn ich weiß, dass die eine oder andere verheiratet ist. Wahrscheinlich habe ich mittlerweile einen ziemlich schlechten Ruf.“ Er klang nicht wirklich betrübt.
„Hört sich nicht so an, als würdest du das allzu schrecklich finden.“
„Es gibt schlimmeres“, erwiderte Jula und grinste. „Wenigstens ist das, was über mich geredet wird, in den meisten Fällen zutreffend.“
Irritiert schüttelte Mara den Kopf. „Du sprichst von Reik?“
„Ja, ich meine diese wirklich lächerliche Geschichte über ihn und die Frau des königlichen Hofmeisters Turam. Du hast davon gehört?“
„Aber ja! Was Gerüchte anbelangt, sind wir im Tempel bestens informiert.“
„Jedenfalls, das ist alles nicht wahr, ich weiß es. Du darfst das nicht glauben, Mara.“ Seine Stimme klang geradezu beschwörend.
Mara musste lachen. „Verteidigst du ihn etwa? Vor mir? Jula, was Reik tut oder nicht tut, ist allein seine Sache.“
„Vermisst du ihn?“
„Nein, eigentlich nicht. Das mag herzlos klingen, aber ich bin wirklich sehr beschäftigt, und dabei denke ich nicht an andere Dinge oder Menschen. Wenn ich etwas mache, dann mache ich es ganz und gar, da ist kein Platz für … anderes. Und ich habe inzwischen gelernt, dass das richtig so ist.“
„Alles eine Frage der Konzentration?“, fragte Jula neckend, während sie langsam den Hang des Tempelberges hinaufstiegen. „Der Hauptmann drückte sich einmal ganz ähnlich aus. Er meinte, bei einem Kampf gäbe es nur uns und das Schwert, nichts sonst, selbst der Gegner sei unwichtig.“
„Kluger Mann, dein Hauptmann“, bemerkte sie.
„Du hältst ihn also für klug?“ erwiderte Jula. „Und wofür noch?“
„Es wäre unpassend, dir jetzt von Reik vorzuschwärmen, wo ich doch viel lieber dich küssen würde, Jula.“
„Sag das doch gleich. Aber du würdest von ihm schwärmen, das…“
Mara ließ ihn nicht ausreden, sondern küsste ihn leidenschaftlich.
„Mara, du …“
„Psst, nicht reden, Jula, wir sind sowieso gleich da. Küss mich lieber noch einmal.“
Er küsste sie, zugleich zart und fordernd; einen Augenblick gab es nur sie zwei.
„Schlaf gut, Mara, und gib Sina einen Kuss von mir. Ich bin ihr etwas schuldig.“
„Mache ich. Auf bald.“
Hartnäckig widerstand Mara der Versuchung, zu Jula zurückzukehren. Doch nach wenigen Schritten wurde sie schwach. Sie drehte sich um und rannte wieder zu ihm – er hatte sich nicht von der Stelle bewegt, fiel ihm um den Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. „Oh, Jula … Danke!“
Anschließend ging sie gemessenen Schrittes zum Nordeingang des Tempelbezirks, wo Sina sie bereits ungeduldig erwartete.
(Ende 70. Tag, Frühling)