Читать книгу Winterkönig - N. H. Warmbold, Nicole Heuer-Warmbold - Страница 5

Kapitel 2 – Begegnungen

Оглавление

Es war still im Tempel, düster, nur zwei Fackeln erleuchteten den Haupteingang. Doch es war noch jemand anwesend: Die Hohepriesterin Lorana saß auf der untersten Stufe zum Innenraum. Mara wollte sich leise wieder davonmachen. Sie wollte nicht stören, und womöglich war die Frau noch immer verärgert.

„Bleibt bitte, Mara“ forderte Lorana sie auf. „Ich habe auf Euch gewartet. Setzt Euch einen Augenblick zu mir.“

„Ihr habt gewusst, dass ich komme?“, wunderte sich Mara.

„Ich habe damit gerechnet“, erklärte die Hohepriesterin kühl. „Ich komme oft des Nachts hierher, wenn ich in Ruhe nachdenken will. Und gerade jetzt habe ich über sehr vieles nachzudenken.“

Mara setzte sich in gebührendem Abstand zu der Frau. „Auch über mich?“

„Vor allem über Euch. Ihr seid …“

„Ich bin nicht die Person, die Ihr erwartet habt“, warf Mara ein. „Und Ihr wisst nicht, was Ihr von mir halten sollt. Oder könnt.“

„Das ist richtig. Zumindest seid Ihr nicht dumm. Könnt Ihr lesen und schreiben?“, verlangte die Hohepriesterin zu wissen.

„Südländisch, ja, bei Manduranisch bin ich mir nicht ganz sicher.“

„Es besteht kein großer Unterschied in der Schrift, das lernt Ihr schnell. Vielleicht solltet Ihr in nächster Zeit einmal mit Réa in die Stadt gehen, sie unterrichtet dort Kinder aus dem Hafenbezirk. Sie hält das für eine wichtige Aufgabe, obwohl …“ Die Frau zuckte die Achseln. „Es ist ihre Zeit. Ihr könntet ihr helfen und gleichzeitig selbst etwas lernen. Mein Sohn erzählte mir, Ihr könnt singen?“ Loranas Fragen klangen, als würde sie eine innere Liste abarbeiten.

„Ja, wenn Ihr mir Text und Melodie beibringt. Ich kenne nur wenige manduranische Lieder“, gab Mara zu.

„Ich dachte mehr an das, was während der rituellen Handlungen und Zeremonien in einem Tempel gesungen wird. Wir werden sehen. Gute Sängerinnen sind selten. Versteht Ihr etwas von der Heilkunst?“, wollte Lorana als nächstes wissen.

„Ein bisschen, ich kann Wunden und Verletzungen versorgen, wenn nötig auch nähen, und ich weiß einige Krankheiten zu behandeln.“

„Gut, dann werdet Ihr zusammen mit den Priesterschülerinnen Unterricht bei den Heilerinnen erhalten“, entschied Lorana. „Natürlich nur, wenn Ihr selbst es wollt.“

Mara nickte. „Ja, natürlich.“

„Na bestens. Kommen wir also zu den Dingen, die nicht so einfach zu regeln sind …“ Die Frau zögerte einen Moment und setzte dann erneut an: „Um es kurz zu machen, ich biete Euch an, von mir unterrichtet zu werden. Ich werde Euch alles beibringen, was ich weiß. Und Ihr erhaltet Zugang zum Tempelarchiv.“

Mara schwieg verblüfft. Damit hatte sie nicht gerechnet! Aus irgendeinem Grund war Lorana ihr gegenüber plötzlich sehr großzügig und freundlich, und das beunruhigte sie weit mehr als ihre gestrige Feindseligkeit. Ihre Stimme klang leise und gepresst, als sie fragte: „Warum lasst Ihr mir eine solche Ehre zuteilwerden?“

„Weil ich es für sinnvoll halte“, antwortete Lorana ungeduldig. „Ich habe eine Zauberin erwartet und Euch bekommen, ein siebzehnjähriges Mädchen, das außer der zugegebenermaßen beeindruckenden Fähigkeit, mit Leichtigkeit in das Bewusstsein anderer Menschen einzudringen, nichts kann.“

Das war nicht die Antwort, die Mara hören wollte. Wütend stand sie auf und wandte sich zu der sitzenden, so viele Jahre älteren Frau um. „Ich will wissen, warum?!“ Der laute Klang ihrer Stimme hallte fast bedrohlich von den Wänden des Tempels wider.

Nicht minder wütend als Mara starrte Lorana sie an. „Schreit mich nicht an, Mara, das wäre nicht sehr klug von Euch. Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, dass Ihr einige sehr mächtige Freunde habt, aber hier im Tempel müsst Ihr mit mir zurechtkommen. Und ich lasse mich von Euch nicht um den kleinen Finger wickeln.“

„Das ist keine Antwort. Warum, Lorana?“, drängte Mara.

„So etwas Stures ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Wieso seid Ihr eigentlich so sicher, dass ich Euch antworte?“

„Nicht ich habe siebzig Männer über die Berge geschickt, um eine Zauberin zu holen“, bemerkte Mara spitz.

„Ihr seid … wirklich nicht dumm. Ich brauche Euch, der Tempel braucht Euch. Euch, die mächtige Zauberin Mara I’Gènaija.“

Mara überhörte Loranas Spott. „Warum?“

„Habt Ihr noch nicht genug gehört? Weil es in naher Zukunft Krieg geben wird in Mandura ... Und so, wie es momentan aussieht, sind unsere Aussichten nicht besonders gut.“

„Mandura wird den Krieg verlieren?“, fragte Mara betroffen.

„Ihr habt es doch selbst gesehen!“

Gesehen habe ich es nicht“, wehrte Mara ab. „Ihr legt es nur so aus! „Aber nicht alles, was man in Träumen sieht, geschieht auch, das wisst Ihr besser als jede andere, Lorana.“

Die Hohepriesterin betrachtete sie mit wachsendem Interesse. „Ihr seid eine richtige kleine Kämpferin.“

Da sie nicht wusste, worauf die Frau hinaus wollte, schwieg Mara. Womöglich wollte Lorana sie nur provozieren.

„Ihr möchtet am Unterricht im Schwertkampf teilnehmen?“, wechselte Lorana das Thema.

„Ja“, bestätigte Mara knapp.

„Ich habe keinen Anlass, es Euch zu verbieten“, beschied die Hohepriesterin. „Ihr könnt gehen.“

„Gestattet Ihr mir noch eine Frage, Lorana?“

„Wenn es sein muss“, antwortete die Frau unwillig.

„Warum habt Ihr Angst vor mir?“

„Wie kommt Ihr darauf, dass ich Angst vor Euch haben könnte?“

„Weil Ihr Euch nicht allein mit mir trefft.“

„Wie bitte?“ Loranas Stimme klang schrill und empört.

„Ich weiß, dass Malin irgendwo im Dunkeln hinter mir steht“, erklärte sie ruhig.

„Also das ist … ich habe doch keine Angst vor einem unverschämten kleinen Mädchen, wie Euch!“

Mara beugte sich zu Lorana, sah ihr lange in die Augen. „Seid Ihr Euch da so sicher?“


Eilig lief Mara die Stufen zum hinteren Tempelausgang hinauf, rannte lachend durch den Regen. Sie würde lernen, alles, was sie wollte, sie würde sogar kämpfen lernen, mit einem Schwert!

Und sie hatte Zugang zum Tempelarchiv; sie wusste zwar nicht einmal, wo sich dieses befand, aber es hörte sich großartig an.

Ausgelassen tanzte sie in ihrem Schlafzimmer herum, ließ ihre Kleidung nachlässig auf den Boden fallen und warf die Stiefel hinter sich. Dann ließ sie sich mit ausgebreiteten Armen aufs Bett fallen. Die sandfarbene Katze, die auf dem Kaminsims gesessen und Maras Treiben gleichgültig zugeschaut hatte, schnupperte neugierig an ihrem Hals. „Möchtest du gestreichelt werden? Oder lieber spielen? Gut, aber nicht kratzen. Ich bin keine Maus.“

Nein, sie war keine Maus. Manchmal war sie die Katze, die um den Topf mit der Sahne schlich, manchmal war sie selbst die Sahne. Seltsame Gedanken huschten durch Maras Kopf: nicht mehr die Beute sein, sondern der Jäger. „Jawohl, die Beute hat die Seiten gewechselt. Die Beute hat keine Lust mehr, länger das Opfer zu sein. Klingt verrückt, was? Genau so verrückt, wie mit einer Katze zu reden.“

Sie beobachtete die Katze, die sich sorgfältig das Fell leckte. Bei diesem Anblick kam Mara der Gedanke, dass sie sich auch mal wieder kämmen könnte, einen Kamm hatte sie ja nun. Ihre Haare waren völlig verknotet, es dauerte ewig, bis sie sie auch nur einigermaßen durchgekämmt hatte. Am Ende standen sie wirr in alle Richtungen. Seufzend fuhr Mara sich mit den Fingern durch ihr widerspenstiges Haar, irgendwas machte sie falsch.

Es musste längst Mitternacht sein, und Sina war noch nicht vorbei gekommen. Ungeduldig lauschte Mara auf ein Geräusch von der Tür und vertrieb sich die Zeit, indem sie mit der Katze schmuste. Und wartete.

Plötzlich spitzte die Katze die Ohren, kurz darauf klopfte es. Mara stürzte förmlich zur Tür und riss diese auf.

Sina schaute sie überrascht an und musterte sie dann lächelnd vom Kopf bis zu den Füßen. „Sieht fast so aus, als hättest du sehnsüchtig auf mich gewartet, Süße.“

„Ungeduldig, nicht sehnsüchtig“, korrigierte Mara. „Aber gewartet habe ich. Wollt Ihr nicht hereinkommen?“

„Nur wenn du endlich auf dieses ‚Ihr‘ verzichtest.“

Mara nickte. „Abgemacht. Komm doch rein.“

Sina grinste, trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Nett hier, wahrscheinlich wie bei Réa, nur seitenverkehrt. Und der Ausblick! Darf ich?“

Ohne auf eine Antwort zu warten trat Sina auf den Balkon, stützte sich auf die Brüstung und betrachtete die nächtliche Stadt. Mara folgte ihr zögernd, die Luft war kühl und sie fröstelte in ihrem dünnen Unterkleid. „Sie ist so groß.“

„Das ist sie, groß, laut und voller Menschen. Und ziemlich aufregend.“

Mara lachte. „Ja, das hat Len auch gesagt.“

„Wer ist Len?“

„Ein Soldat, er war mit … im Süden. Er kommt aus Dalgena, hat eine gebrochene Nase, eine Narbe am Hals und kann hervorragend tanzen.“

„Sagt mir nichts“, erwiderte Sina. „Na ja, ich kenne zwar viele Soldaten, aber natürlich längst nicht alle.“

„Aber Jula kennst du?“, fragte Mara nach.

„Ziemlich gut sogar. Ist dir nicht kalt, Süße?“

„Geht so, ein bisschen“, gab Mara zu.

Sina schob sie kurzerhand ins Zimmer zurück und zum Bett. „Deck dir die Füße zu, du holst dir ja sonst was. Hast du irgendwo Kerzen?“

Mit untergeschlagenen Beinen setzte sich Mara. „Leider nicht.“

„Macht nichts. Was dagegen, wenn ich den ganzen Kram hier ablege? Es gibt bequemeres als ein Kettenhemd.“

„Nein.“ Interessiert sah sie zu, wie Sina den Schwertgürtel ablegte, sich aus dem Kettenhemd wand und zuletzt die Tunika und die hohen Stiefel auszog. Die Frau war gar nicht so hager, aber sehr groß und knochig. Das helle Haar trug sie kurz geschnitten. Im Grunde war Sina das genaue Gegenteil von Milla und mindestens fünf Jahre älter als diese, oder sie selbst.

Die Tempelwächterin machte es sich neben ihr bequem. „Hätte nicht gedacht, dass ich so schnell mit dir im Bett lande, Süße.“

„Du willst mir doch nicht erzählen, dass das alles Absicht war?“

„Nein, bestimmt nicht. Trotzdem bin ich hier, oder?“, stellte Sina fest.

„Und?“ Sie war irritiert.

„Mara, ist es denn wirklich zu viel verlangt, wenn du mir gegenüber etwas weniger reserviert wärst? Was soll ich tun, vor dir auf die Knie fallen und dich um Verzeihung anflehen?“

„Das ist nicht notwendig, eine einfache Entschuldigung reicht.“

Abrupt setzte sich Sina auf, und selbst in der Dunkelheit des Zimmers konnte Mara erkennen, wie wütend sie war. „Ich soll mich bei dir entschuldigen? Wofür?“

„Du hast mich beleidigt, Sina.“ Aber eigentlich wollte sie sich ja bei ihr entschuldigen.

„Das war ein Scherz! Vielleicht etwas geschmacklos, das gebe ich gern zu, aber …“

„Du hast mich mit Absicht beleidigt, nur um mich zu provozieren.“

„Ist mir gelungen, stimmt's?“ Sina grinste sie an, aber ihre Stimme klang verunsichert. Mara wurde nicht schlau aus ihrem Verhalten, was wollte Sina eigentlich erreichen?

„Mara, es tut mir leid, ich bin zu weit gegangen, ich … Du siehst so harmlos aus, und das ist nicht beleidigend gemeint. Ich habe nicht geglaubt, dass …“

„Habe ich dir wehgetan?“, fragte Mara hastig.

„Nicht wirklich, nein. Es war … seltsam und beunruhigend, gleichzeitig unwiderstehlich und zugleich sehr sanft. Aber es tat nicht weh.“

„Das freut mich.“ Sacht ergriff Mara ihre Hand und blickte Sina tief in die Augen. „Ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt möglich ist … dir zu befehlen, meine ich.“

„Also war ich so etwas wie ein Versuch? Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich davon halten soll, jemand wie du ist mir noch nicht begegnet. Und dabei bist du so unglaublich süß …“ Verwundert schüttelte Sina den Kopf, legte sich auf die Seite und betrachtete sie nachdenklich. „Soll ich dir von Jula erzählen?“

„Ja, bitte.“

„Gut. Seit Bro und die Soldaten vor sechs, eigentlich jetzt schon sieben Tagen angekommen sind, erzählt man sich überall in der Stadt Geschichten über diesen Ritt in den Süden und darüber was sich so alles zugetragen hat. Und man hört Geschichten über dich. Wenn auch nur die Hälfte von dem, was erzählt wird, stimmt, war es wohl … eine aufregende Reise.“ Sina räusperte sich. „Vor drei Tagen wollte ich die Dinge einmal von jemandem hören, der selbst dabei gewesen ist. Also zog ich durch ein paar Kneipen, von denen ich wusste, dass sich dort Soldaten aufhalten. Und wirklich: in der dritten Spelunke traf ich einige von Bros Männern beim Bier. Auch Jula war dort, aber längst nicht so redselig wie die anderen. Wie gesagt, wir kennen uns ziemlich gut, und nachdem ich ihm zwei, drei Krüge Bier spendiert hatte, wurde er schließlich doch etwas redseliger und schwärmte mir von dir vor, um es treffend auszudrücken. Scheint ihn ganz schön erwischt zu haben, Süße.“

„Wie bitte?“ Mara schüttelte den Kopf.

„Er ist verliebt.“

„Ach so, ja … ich weiß.“ Sie lächelte verlegen, froh darüber, dass es so dunkel war, denn sie wurde rot.

„So, das weißt du? Von Jula?“

„Hm, er deutete so etwas an. Woher kennst du ihn?“

„Wir stammen aus dem gleichen Dorf, Beita. Ich verließ es, als Jula noch ein kleiner Junge war“, berichtete Sina. „Vor vier, fünf Jahren ist er dann hier in Samala Elis aufgetaucht, ohne Geld, ohne irgendjemanden in der Stadt zu kennen. Wollte Soldat werden, wie alle kleinen Jungen in Mandura, am liebsten in der Garde des Königs. Obwohl er wohl noch andere Gründe hatte herzukommen, aber danach fragst du ihn besser selbst.“

„Und warum bist du weggegangen?“

Sina schien über die Frage überrascht. „Ich wollte schon immer Schwertkämpferin werden, und da Frauen keine Soldaten werden können, bin ich schließlich Tempelwächterin geworden. Außerdem hat man es in dem kleinen Dorf nicht gern gesehen, dass ich mich mehr für Frauen als für Männer interessiere. In Städten ist es … einfacher.“

Ob sich Sina dessen bewusst war, wie verletzlich sie klang, so angreifbar, dass Mara kaum zu atmen wagte und erst recht nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte? Ihr war in letzter Zeit etwas zu oft vorgeworfen worden, sie wäre grausam und hätte kein Mitgefühl.

Also schwieg sie, genau wie Sina, bis diese irgendwann die Hand hob und sacht über ihre Wange streichelte. „Was für ein bezauberndes Wesen du bist. Weißt du eigentlich, dass ich dich …“

„Ja, ich weiß.“

„Das weißt du also auch.“ Sina fuhr mit den Fingerspitzen über Maras Lippen. „Was für ein hinreißender Mund, du würdest … nein, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Es ist unglaublich, du bringst mich vollkommen durcheinander, Süße, ich … Jetzt sag endlich was, bevor ich mich noch gänzlich lächerlich mache!“

„Gut“, erwiderte sie und überlegte kurz. „Wenn ich jemandem einen Brief schreiben möchte, was muss ich tun, damit der Brief auch bei der richtigen Person ankommt?“

„Wohin soll der Brief denn gehen, nach Süden, in deine Heimat?“, fragte Sina nach. „Das wäre allerdings ein Problem.“

Verhalten lachte Mara und schüttelte den Kopf. „Wem sollte ich dort schon schreiben? Nein, nach Kirjat.“

„Nichts einfacher als das, bring den Brief in den Palast. Von dort brechen alle paar Tage berittene Boten mit Nachrichten des Königs nach Kirjat auf, die werden deinen Brief bestimmt mitnehmen“, schlug Sina vor.

„Das … also, das wäre mir nicht so Recht. Gibt es keinen anderen Weg?“

„Das wäre dir nicht so Recht …“, lachte Sina. „Tja, es gäbe natürlich noch die Möglichkeit, einen Wächter am Osttor zu bitten, deinen kostbaren Brief einem Händler mitzugeben, wenn dir das lieber wäre.“

„Meine Briefe sind nicht kostbar, nur persönlich. Aber ich kenne keine Wächter am Osttor“, wandte sie ein.

„Süße Mara, rein zufällig kenne ich einige Angehörige der Stadtwache. Ich kann dir sagen, an wen du dich wenden musst, in Ordnung?“

„Ja, gut. Aber erst einmal muss ich richtig Manduranisch lernen, bevor ich überhaupt Briefe schreiben kann“, erklärte sie. „Lorana sagte, es gäbe keine großen Unterschiede in der Schrift.“

„Wenn sie das sagt. Gedenkst du eigentlich, am Unterricht im Schwertkampf teilzunehmen?“

„Natürlich, ich halte das für notwendig“, sie lächelte verhalten. „Und außerdem möchte ich es unbedingt lernen.“

„Das höre ich gern, dann sehen wir uns also morgen Nachmittag. Schlaf schön, meine Süße, und träume süß.“

„Gute Nacht, Sina.“


Selten in ihrem Leben war Mara so beschäftigt gewesen wie in jenen ersten Tagen im Tempel von Samala Elis, und sie genoss jeden Tag.

Bei Sonnenaufgang stand sie auf und ging erst spät nachts schlafen, fiel todmüde in ihr Bett. Leider hatte sie fast jede Nacht Alpträume, doch daran war sie ja gewöhnt. Es war nicht immer derselbe Traum vom Krieg in Mandura, aber es ging gewalttätig zu und meist floss Blut. Und sehr oft tauchte Reik auf, obwohl sie kaum an ihn dachte und auch nichts von ihm hörte oder sah.

Lorana schien überaus interessiert an dem, was sie träumte, doch Mara erzählte ihr nicht alles, nicht alle Einzelheiten. Die Unterredungen mit ihr waren faszinierend und anstrengend zugleich, erbitterte Wortgefechte. Weder die Hohepriesterin noch Mara waren bereit, mehr an Wissen, Nichtwissen und Informationen preiszugeben als unbedingt notwendig. Und doch lernte Mara bei diesen Gesprächen viel, lernte, sich zu beherrschen, ihre Gefühle nicht ungewollt ihrem Gesprächspartner mitzuteilen, Gestik, Mimik und ihre Stimme zu kontrollieren. Es fiel ihr nicht sehr schwer, hatte sie das nicht ihr Leben lang getan, nur nicht so absolut, wie Lorana es jetzt von ihr erwartete? Ständig wies diese Mara auf das ungeduldige Wippen ihres Fußes, ein nervöses Spielen der Finger hin, außerdem kaute Mara auf ihrer Unterlippe.

Von der Hohepriesterin lernte sie aber auch, wie sie durch gewollte oder gespielte Gefühlsäußerungen ihr Gegenüber beeinflussen und täuschen konnte. Lorana brachte ihr zudem bei, sich in kürzester Zeit vollständig zu entspannen, selbst dann, wenn sie wieder einmal heftige Kopfschmerzen plagten, um sich dann voll und ganz auf einen einzigen Gedanken, eine Sache, ein Bild zu konzentrieren.

Im Archiv des Tempels fanden sich etliche Schriftrollen und Papiere, die in der Alten Sprache abgefasst waren, also lehrte Lorana sie auch diese. Die Schrift sah gänzlich anders aus als die Mara bekannte. Es gab keine einzelnen Buchstaben, nur Symbole und Zeichen, die für Silben, teilweise für ganze Worte oder Begriffe standen. Lorana hatte Probleme beim Lesen dieser Schrift, konnte lediglich die Übertragungen in manduranischer Schrift entziffern. Es gab aber auch Papiere ohne diese Übertragungen, meist sehr alte. Da niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie in ‚lesbare‘ Schrift zu übertragen, hielt Lorana sie für unwichtig. Allerdings erlaubte sie Mara, die Schriften mit auf ihr Zimmer zu nehmen, wenn sie ihre Nächte unbedingt mit derlei Kram ‚verplempern‘ wollte.

Bald schon bog sich Maras Schreibtisch unter alten Schriftrollen und mit ihren Anmerkungen versehene Bögen, abgefasst in einer wilden Mischung aus Südländisch, Manduranisch und der Alten Sprache. Die Ausbeute war nicht sehr ergiebig, es sei denn, man interessierte sich für die Tischsitten und Gebräuche zu Zeiten eines König Olofs, für Rezepturen für Schönheitswässerchen und ‚garantiert wirksame‘ Liebestränke.

Immerhin konnte Mara nach einiger Zeit die Schrift fließend lesen und schreiben. Und bei Weitem nicht alles war so unwichtig, wie Lorana glaubte. Allerdings war das Wenige, was sie wirklich interessierte, schwer nachzuvollziehen, klang wirr und erschien ihr verrückt, wenn nicht gar gefährlich.

Zu den Anmerkungen und Übertragungen der Papiere aus dem Tempelarchiv gesellten sich Notizen und Zeichnungen aus dem Unterricht der Heil- und Kräuterkunde. Diesen erhielt Mara gemeinsam mit Milla und den anderen Priesterschülerinnen, auch wenn sie selbst keine Schülerin war und nicht Heilerin werden wollte. Die Mädchen halfen jeden dritten Tag den Heilerinnen bei der Versorgung und Pflege der Kranken in den Häusern und erhielten dort praktischen Unterricht.

Milla mochte die praktische Arbeit, mehr als die trockenen Lehrstunden über die Wirksamkeit bestimmter Kräuter und die Herstellungsweisen von Tees, Salben und Tinkturen. Ihr Motto war, dass es besser war, den Menschen zuzuhören, statt mit ihnen über die Funktion ihrer Organe zu diskutieren.

Und Mara schrieb alles auf, dürstete nach Wissen, obwohl sie doch keine Angst haben musste, etwas zu vergessen. Sie vergaß nicht. Ihre Gedanken schienen sich zu ordnen, wenn sie schrieb, wurden klarer, sie sah klarer.

Sie verbrachte ihre Zeit aber nicht allein im Tempelarchiv, in den Häusern oder hinter dem Schreibtisch. Mit Réa ging sie alle paar Tage in die Stadt hinunter, in den Stadtteil, der zwischen Hafen und Westtor lag, und in dem viele arme Familien lebten. Réa unterrichtete dort Kinder, deren Eltern sich einen Lehrer nicht leisten konnten, im Lesen und Schreiben, im Rechnen, in der Geschichte des Landes Mandura, erzählte alte Legenden und sang mit ihnen Lieder.

Die Kinder kamen gern zu ihr, es war für sie eine willkommene Abwechslung in ihrem oftmals harten Alltag, und Réas Unterricht in dem engen Hinterzimmer eines Gasthauses war die einzige Möglichkeit, sich solche Kenntnisse anzueignen. Oft kamen Kinder aus dem Hafenbezirk, manchmal ohne irgendwelche Angehörige, die ihr Leben auf der Straße verbrachten, in dunklen Kellerecken oder verlassenen Häusern schliefen, sich mit Betteln und Diebstählen durchschlugen. Da sie nur unregelmäßig zum Unterricht kamen, war es schwierig, ihnen etwas beizubringen, doch wenn sie kamen, waren sie mit genau so viel Begeisterung bei der Sache wie die anderen Kinder.

Den meisten Spaß machte den Kindern das Singen. Réa brachte ihnen ein Lied bei, dessen einzelne Abschnitte sie, Mara und die Kinder jeweils allein zu singen hatten. Es wurde eine Tradition, dieses Lied jedes Mal am Ende des Unterrichts zu singen, richtig laut, bis dass die Wände zu wackeln der Putz von der Decke zu rieseln schien.


Ähnlich erging es Mara, wenn sie mit den anderen Priesterinnen im Tempel sang. Dann vibrierte der Boden aber wirklich. Die Priesterinnen sahen Mara misstrauisch und beunruhigt von der Seite an, aber sie zuckte bloß lächelnd mit den Schultern.

Lorana meinte, das sei in Ordnung. Solange die Menschen während der Zeremonien nicht schreiend aus dem Tempel liefen, aus Angst, er könnte einstürzen.

Natürlich lief niemand davon, ganz im Gegenteil. Wie Réa ihr erzählte, kämen einige Leute angeblich nur zu den feierlichen Handlungen in den Tempel, um Mara singen zu hören. Das wiederum gefiel Lorana gar nicht. Vermutlich störte es sie, dass nicht sie, die doch die Rituale leitete, alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

Mara war es anfangs peinlich, wie die Menschen sie ansahen, während sie sang, doch sie gewöhnte sich schnell daran, die Beachtung gefiel ihr sogar. Selten sang sie ja allein im Tempel, meist zusammen mit anderen Priesterinnen im Chor. Und mit Milla, die eine wundervolle Altstimme hatte, so dass sie sich perfekt ergänzten.

Häufig sangen sie für sich allein, zu ihrem eigenen Vergnügen, oder für die Frauen nach den Übungsstunden und dem Schwerttraining, im Badehaus. Es waren oft Liebeslieder, weil Milla die so mochte und weil Mara gern mit Milla zusammen Liebeslieder sang. Manchmal, wenn Mara in der richtigen Stimmung war oder Sina sie lange genug drängte, sang sie die Lieder, die sie in Kirjat gesungen hatte.


Von all den Dingen, mit denen Mara sich im Tempel beschäftigen musste, liebte sie den Unterricht im Schwertkampf am meisten. War eine Unterrichtsstunde vorbei, sehnte sie schon die nächste herbei, obwohl sie sich manchmal kaum noch rühren konnte, ihr sämtliche Glieder weh taten und ihr Körper nur allzu oft von Blutergüssen übersät war. Doch das störte sie nicht. Zudem fühlte sie sich nie derart zerschlagen, wie Sina es ihr am Anfang prophezeit hatte, und sie musste auch nicht auf Händen und Knien in das Badehaus kriechen.

Vielleicht hatte die lange Reise Mara abgehärtet, ihren Körper gestärkt, vor allem der Weg von Ogarcha nach Dalgena. Und vielleicht hatte es doch einen verborgenen Sinn gehabt, Tag für Tag, gleich bei welchem Wetter, reitend im Sattel zu verbringen, nur unterbrochen von der Kletterpartie hinauf zum Südpass, und den Nächten auf dem harten Boden, in denen sie kaum Schlaf gefunden hatte?

Vor ihrer allerersten Stunde war Mara furchtbar aufgeregt, ein Zustand, der sich auch nicht besserte, als Sina ihr zeigte, wie sie Hemd und Hose anzuziehen hatte. Sina staunte nicht schlecht, als Mara ihr erklärte, noch nie in ihrem ganzen Leben eine Hose getragen zu haben. Sie kam sich lächerlich vor und fühlte sich gänzlich fehl am Platz.

Nach dem Abschnitt, den Milla als Kraft- und Beweglichkeitstraining bezeichnet hatte und der von Sina geleitetet wurde, stieß Malin zu der Gruppe. Nachdenklich betrachtete sie Maras vor Aufregung zitternde Hände, sagte aber nichts weiter, sondern umwickelte ihre Handgelenke mit Stoffbinden und einer Art Ledermanschette. Mara würde sonst, wie sie sagte, Probleme mit den Gelenken bekommen. Dann drückte Malin ihr wortlos ein Übungsschwert aus Holz in die rechte Hand und ließ sie allein. Mara stand da und wagte nicht sich zu rühren. Stattdessen wartete sie darauf, dass etwas passieren, ein Blitz vom Himmel hernieder fahren und sie erschlagen, die Erde sich unter ihren Füßen auftun und sie verschlingen würde. Natürlich war das Unsinn, das wusste Mara genau. Aber das unsichere Gefühl hielt den ganzen Unterricht lang an, auch noch nachdem sie fast eine Ewigkeit mit Milla grundlegende Techniken geübt und sich dabei äußerst ungeschickt angestellt hatte.

Am Ende des Unterrichts saß Mara müde mit angezogenen Knien auf dem Boden, das Holzschwert noch immer in der Hand, und starrte trübsinnig vor sich hin. Die anderen Frauen waren längst im Badehaus, doch sie musste einen Moment für sich sein und sich über ihre Gefühle klar werden.

„Alles in Ordnung, Mädchen?“

Malin setzte sich zu ihr, den Rücken an die Wand gelehnt, und Mara nickte resigniert. „Wenn Ihr wüsstet, wie dumm ich mir vorkomme!“

„Nur weil nichts von dem eingetreten ist, was du die ganze Zeit über erwartet hast? Kein Donnerschlag, kein klaffendes Loch in der Erde, kein Erdbeben, keine Flutwelle?“

Mara wurde rot und senkte verlegen den Kopf. „Auf Ogarcha drohten weniger drastische Strafen, wenn eine Frau eine Waffe berührte. Woher wisst Ihr überhaupt, dass ich …“

„Du meinst, abgesehen von den zitternden Händen, dem gehetzten, misstrauischen Blick und den fahrigen Bewegungen? Das ging mir am Anfang nicht anders“, erklärte Malin. „Kein Grund, sich zu schämen.“

„Wirklich? Aber … Ihr seid die Hauptfrau der Tempelwache.“

„Heute, ja. Ich stamme aus dem Kitainagebirge, dort hat man wohl ebenso merkwürdige Vorstellungen davon, was Frauen und Waffen, speziell Schwerter, angeht, wie im Süden. Übrigens: Warum hast du nicht die Hand gewechselt?“, wollte Malin wissen.

„Was meinst Ihr damit?“

„Du bist Linkshänderin, warum hast du nicht einfach das Schwert in die andere Hand genommen?“

„Weil … ich weiß es nicht“, stotterte Mara. „Ich dachte, ich müsste mit rechts …“

„Führe das Schwert erst mal mit der Hand, mit der du auch alles andere tust, Mädchen. Später kannst du es immer noch mit rechts probieren, meinst du nicht auch?“

„Ja?“

„Ja, und jetzt schau nicht so unzufrieden drein. Es ist noch niemand nach der ersten Unterrichtsstunde zum Schwertmeister geworden. Hoch mit dir!“ Malin half Mara auf die Beine, nahm ihr das Übungsschwert ab und schickte sie ins Badehaus, wo Mara sich genüsslich in das heiße Wasser sinken ließ.

Sina bestand darauf, ihr den verspannten Rücken zu massieren, ebenso Arme und Beine. Sie meinte, andernfalls könne sie sich morgen überhaupt nicht mehr bewegen. Es klang wie ein Vorwand, aber Mara stimmte dennoch zu. Fast augenblicklich schlief ein, womit Sina sie noch tagelang aufzog und neckte.


Sina gab Mara mehr als deutlich zu verstehen, was sie von ihr wollte, dass sie sie begehrte, drängte sie aber nicht. Sie berührte Mara auch nicht übermäßig oft, legte vielleicht von Zeit zu Zeit einmal den Arm um ihre Schultern oder ihre Hüften, zerzauste ihr das Haar. Doch das war unter den Frauen im Tempelbezirk kein ungewöhnliches Verhalten.

Milla war Mara gegenüber mit Zärtlichkeiten wesentlich freigiebiger – und umgekehrt. Fast ständig gingen sie Arm in Arm, umarmten und küssten sich bei jeder erstbesten Gelegenheit.

Allerdings frage Mara Milla nie, ob sie die Nacht bei ihr verbringen wollte. Sie wollte Milla nicht in die Verlegenheit bringen, abzulehnen. Ein seltener Anflug von Feingefühl, denn meist ging sie nicht so schonend mit anderen um.


* * *


„Hauptmann Kev …“ Verwundert begrüßte Reik den Mann, Remasseys Stellvertreter bei den Grenztruppen, in seinem Arbeitszimmer. „Was führt Euch nach Samala Elis?“

„Immer der gleiche Ärger, würde ich sagen …“ Hauptmann Kev verneigte sich respektvoll. „Danke, dass Ihr mich so schnell empfangt.“

„Nichts zu danken. Nehmt Platz“, gebot er dem erfahrenen Soldaten, der während Reiks Zeit bei den Grenztruppen für einige Monate auch sein Hauptmann gewesen war. „Ist es das, was ich befürchte: schon wieder ein Überfall?“

„Bereits der vierte dieses Frühjahr.“ Kev ließ sich grummelnd in einen Sessel fallen. „Diese feigen Hunde … terrorisieren die Leute, setzen Ställe und Scheunen in Brand, während die Menschen auf dem Feld arbeiten. Vor sechs Tagen kamen sie allerdings nachts.“

Auf einer Karte zeigte der Hauptmann ihm die Lage des Ortes, dessen Name Reik vertraut vorkam.

„Zwei Dorfbewohner, ein Familienvater und ein junges Mädchen, kamen ums Leben. Etliche andere wurden verletzt, entweder bei den Löschversuchen oder im Kampf gegen die Angreifer. Keine Uniformen und ganz sicher keine Soldaten, meinten die Dorfleute.“

„Ihr wart selbst da?“, erkundigte sich Reik.

„Ja, doch ich kam zu spät“, bestätigte Kev verbittert.

„Ihr könnt nicht überall sein“, gab Reik zu bedenken, auch wenn das ein schwacher Trost war.

„Ich weiß. Und Remassey weiß das ebenfalls. Er erwägt, Euer Einverständnis und das seiner Majestät vorausgesetzt, die Grenztruppen zu verstärken.“

Reik nickte nachdenklich, fuhr sich über das Kinn. „Soll er nur, ich würde die Grenztruppen selbst gern so schnell wie möglich vergrößern, und zwar deutlich.“

„Ist das Euer Ernst, Hoheit?“, fragte Kev überrascht.

„Ja. Erst neulich sprach ich mit Berit darüber. Aber die Ausbildung fähiger Soldaten dauert nun einmal seine Zeit … und der Thronrat möchte gewiss ein Wörtchen mitreden, Einwände vorbringen …“ Er zuckte die Achseln. „Drei Einheiten kann ich jederzeit ohne Rücksprache bewilligen. Aber sagt Berit, dass mir das nicht genügt! Zum Herbst will ich die Stärke der Grenztruppen verdoppelt haben.“

„Aber…“, wollte Kev einwenden.

„Aber da Euch das hier und jetzt nicht weiter hilft, werde ich zwei Garde-Einheiten zur Unterstützung nach Kirjat entsenden. Erst einmal für zwei, drei Monate.“ Ihn war nicht nach scherzen zu Mute. „Das hilft Euch und bringt den Gardisten ein paar praktische Erfahrungen mehr. Vielleicht komme ich selbst vorbei.“


Noch waren die hohen Lehnstühle um den großen Tisch herum unbesetzt, brannte kein Feuer im Kamin. Die Luft im Sitzungsraum würde sich rasch erwärmen, wenn erst alle Hauptleute der Garde versammelt waren. Der lange Raum hatte etwas Düsteres, Höhlenartiges, trotz der beiden Fenster, von denen aus man auf den frühlingsgrünen Hang hinaus blickte. Schon bald würden hier nicht nur die Gardehauptleute zusammentreffen, sondern der Kriegsrat. Reik schüttelte sich, um das ungute Gefühl los zu werden. In einem halben Jahr, wie Hauptmann Davian meinte. Gleichzeitig wettete der aber auf einen Kriegsbeginn am Anfang des nächsten Jahres. Reik hoffte, es käme erst später dazu, damit sie Zeit gewannen, um noch mehr Männer zu bewaffnen und auszubilden. Mandura besaß im Gegensatz zu Kalimatan kein großes, stehendes Heer. Zerstreut fragte er sich, was Gènaija zu den Zahlen sagen würde, die sie hier gleich diskutieren würden. Sie hatte ihm angesichts der Anzahl Bewaffneter in Samala Elis vorgehalten, Mandura wäre kein friedliches Land. Ein berechtigter Vorwurf, aber Mandura hatte Feinde, Gegner, die ganz offensichtlich zum Krieg rüsteten. Davians Bericht ließ sich kaum anders deuten. Und er sollte …

Reik atmete tief durch, nickte den zuletzt angekommenen Männern beiläufig zu und begab sich zu seinem Platz an der Stirnseite des Tisches. „Guten Morgen“, begann er und räusperte sich. „Heutiges Thema ist der Bericht Hauptmann Davians, der zurückkam, während ich noch außer Landes war.“

„Verzeiht, Hoheit, aber was ist mit Eurer Reise in den Süden?“ meldete sich Hauptmann Hiron zu Wort, der ihm gegenüber saß. „Werden wir darüber gar nichts erfahren?“

„Bros Aufzeichnungen enthalten alle wissenswerten Informationen“, erwiderte Reik. „Wenn Ihr darüber hinaus noch Fragen habt, wendet Euch an ihn.“

„Kein Wort über … die Frau, diese angebliche Zauberin?“

Reik unterdrückte ein Grinsen. „Die ‚angebliche‘ Zauberin ist ein siebzehnjähriges Mädchen, verwaist, unverheiratet und lebt fürs erste im Tempelbezirk. Genügen Euch diese Informationen oder wollt Ihr noch mehr wissen?“

„Einzelheiten vielleicht“, murmelte Hauptmann Alek zu seiner Linken, aber so leise, dass Reik die Bemerkung übergehen konnte.

Hiron schüttelte nachdenklich den Kopf. „Wenn ich nicht mehr wissen muss …“

„Dann …“ Hauptmann Davian, neben Hiron sitzend, erhob sich. „werde ich die wichtigsten Ergebnisse meines Besuchs in Kalimatan kurz zusammenfassen. Den genauen Bericht kann jeder, den es angeht, nachlesen.

Für mich steht außer Frage, dass sich Kalimatan auf einen Krieg vorbereitet. In einem befestigten Lager nahe Kuramai, vormals fünftausend Mann stark, stehen inzwischen fünfzehntausend Soldaten. Ähnliche, bestätigte Berichte kommen aus anderen Landesteilen, dort sind die Truppenstärken allerdings geringer, und aus Dessum.“

„Mit fünfzehntausend Mann wird Marok doch wohl keinen Krieg beginnen“, gab Hauptmann Cord zweifelnd zu bedenken.

„Mit den fünfzehntausend allein sicher nicht“, antwortete Davian. „Aber wie gesagt: er hat deutlich mehr Männer unter Waffen. Noch hat Marok keinen Anlass, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Doch er heizt die Stimmung im Land mächtig an. Für Manduraner ist es dort momentan reichlich ungemütlich.“

Die Frage kam zu früh, doch Reik wusste, worauf das hinauslief. „Also was … ist Euer Rat?“

Kalt sah Davian ihn an, zuckte die Achseln. „Den kennt Ihr, Hoheit. Wartet nicht ab, bis Marok einen Grund findet. Ergreift selbst die Initiative, und zwar jetzt! Stellt ein Heer auf, bildet Soldaten aus, viele Soldaten, denn Marok hat mehr.“

„Ihr ratet mir zum Krieg?“

„Nein.“ Davians Miene war ernst. „Aber bereitet Euch, bereitet Mandura auf einen Krieg vor. Denn der wird kommen.“

„Ja. Und ich fürchte, den Grund dazu haben wir ihm unlängst geliefert.“ Reik unterdrückte den Impuls, laut zu fluchen oder einen Gegenstand zu zerschlagen … Aber Bro traf keine Schuld, niemand traf eine Schuld.

Zu seinem Erstaunen grinste Davian. „Den oder einen anderen. Ist wenigstens ein hübscher Grund.“


(um den 65. Tag herum)

Winterkönig

Подняться наверх