Читать книгу Fatalis - Nadja Christin - Страница 12

Nachts

Оглавление

Sie haben in ihrer Wohnung kein Bett stehen, da sie eigentlich beide überhaupt nicht schlafen. Aber ab und zu will Micki sich einfach ausruhen, David hingegen liest lieber.

Es ist kurz vor drei Uhr nachts, Micki versucht krampfhaft zurück in seine Träumen zu finden und David schmökert in einem Wälzer.

Aber eigentlich tut er nur so. Heimlich verfolgt er die Zeiger seiner Uhr, wie sie träge und für seinen Geschmack viel zu langsam vorrücken.

Er will um die gleiche Zeit, wie gestern, hinaus auf die Straße gehen.

Er möchte nochmals nach der Katze sehen, vielleicht ist es ihm ja heute Nacht vergönnt, dieses kleine Appetithäppchen für sich zu gewinnen.

Ist das auch der wahre Grund, hadert er mit sich selbst. Entspricht es nicht vielmehr der Tatsache, dass du hoffst, Vivien am Ende der Straße zu treffen? Mit ihr zu reden, sie besser zu verstehen?

Ärgerlich gibt er seiner drängenden Stimme keine Antwort, beobachtet nur gespannt die Zeiger seiner Armbanduhr.

Drei Minuten vor drei Uhr legt er seufzend sein Buch beiseite, streckt sich übertrieben und meint zu dem immer noch wachen Micki:

»Ich geh mal kurz vor die Tür, vielleicht störe ich dich ja auch und du kannst besser schlafen, wenn ich weg bin.«

»Ist in Ordnung«, murmelt sein Freund, ohne den Arm, den er schützend über die Augen gelegt hat, herunterzunehmen.

Diebisch grinsend verlässt David die Wohnung und geht, wie gestern schon, mit in den Taschen vergrabenen Händen die schmale Straße hinunter.

Er muss sich zwingen, langsam zu gehen. Zu groß sind seine Erwartungen und die Hoffnung darauf, das Mädchen zu treffen, das vielleicht erneut am Feldrand steht.

Viviens Haus schenkt er im vorbeigehen kaum Aufmerksamkeit, sein Blick ist starr geradeaus gerichtet, auf das Ende des Weges.

David kann sich ein enttäuschtes Knurren nicht verkneifen, als er sieht, dass niemand hier ist.

Verdammt, denkt er bei sich, jetzt jage ich auch schon Hirngespinsten hinterher.

Ich bin nicht besser, als Micki.

Eine freundliche Stimme lässt ihn erschrocken herumfahren:

»Guten Abend, der Herr. Noch so spät unterwegs?«

Davids Gesicht strahlt vor Freude, als er Vivien langsam auf sich zukommen sieht.

»Oder sollte ich lieber sagen, so früh«, setzt sie grinsend hinzu.

Er räuspert sich kurz.

»Beides scheint mir hier angebracht zu sein«, antwortet er amüsiert.

»Ich wünsche dir auch einen schönen Abend. Vivien. Es … es ist schön, dich hier so zufällig zu treffen.«

Das Mädchen schnaubt kurz.

»Zufällig? Das glaube ich kaum.«

Sie stellt sich dicht neben ihn und blickt verträumt in die Dunkelheit vor ihnen.

Unauffällig zieht David ihren Geruch in seine Nase, das bringt sein Blut in Wallung, es kocht fast über. Sein gesamter Körper kribbelt, es ist so, als habe er tausend lebendige Schmetterlinge auf einmal verschluckt. Sie streicheln von innen seine Bauchdecke und ihre zarten Flügelschläge kann er durch die Haut spüren, ein unheimliches, aber zugleich wunderschönes Gefühl.

Er gibt ihr keine Antwort, ist viel zu beschäftigt, mit seinem Empfinden.

Sie sieht ihn kurz an, nur für ein, zwei Sekunden. Das reicht aber aus, um eine kleine Explosion in seinem Inneren zu verursachen. Er schnappt erschrocken nach Luft.

»Das glaube ich ja nicht… « murmelt er vor sich hin und bemerkt nicht mal, dass er laut gesprochen hat.

»Was glaubst du nicht?«, sie klingt irritiert, »ist es doch ein Zufall, dass wir uns schon wieder um die gleiche Uhrzeit am selben Ort treffen?«

Sie wirft ihm einen fragenden Blick zu.

David ist für einen Moment völlig verwirrt. Er hat schon lange den Anschluss an diese Unterhaltung verloren und weiß auch nicht mehr, dass er soeben laut gesprochen hat. Er muss kurz seine Gedanken sortieren, bevor er ihr antwortet:

»Eh… Du hast natürlich recht. Es ist kein zufälliges Aufeinandertreffen«, er grinst kurz und hat sich schon wieder ganz gefangen.

»Ich habe es darauf angelegt, vorsätzlich bin ich um die gleiche Zeit aus dem Haus gegangen. Es war mein dringlichster Wunsch, dir hier zu begegnen.«

David holt kurz Luft, legt seine Hand auf die Brust.

»Ich bekenne mich schuldig«, er deutet eine Verbeugung an.

»Verzeih mir und urteile nicht so hart über mich.«

Viviens helles Lachen schallt durch die Nacht, David blickt sie von unten her schelmisch grinsend an. Es freut ihn, dass er ein Lachen aus ihr hervorgezaubert hat. Auch wenn dieses kleine Geräusch ihm einen wohligen Schauer über den Rücken jagt, die Eingeweide zusammenzieht und er seine ganze Willenskraft aufbringen muss, um sich nicht sofort auf sie zu stürzen.

»Das war echt komisch«, meint Vivien und vollführt plötzlich einen kleinen Knicks, ganz so, wie es in früheren Jahrhunderten die Hofdamen vor dem König taten.

»Ich vergebe dir«, sagt sie laut und David erinnert sie an eine echte Königin, eine, die er mal kannte.

»Deine Gesinnung, fürwahr edel, so doch nicht sehr wohlerzogen.« Vivien hebt das Kinn ein wenig an, jeder Zentimeter an ihr, eine Würdenträgerin.

»Habt Dank, meine Königin«, flüstert David und kann sich ein Kichern nicht verkneifen.

Die Stirn runzelnd, dreht sie sich nach vorne, der Dunkelheit zu und verschränkt die Arme vor dem dünnen Körper. Sie scheint zurück in ihre alte Rolle geschlüpft zu sein, jetzt ist sie wieder nur Vivien.

Was tue ich hier, denkt sie, dieser Kerl ist wie alle anderen auch, an ihm ist nichts Besonderes. Wenn ich mal davon absehe, das, wann immer ich ihn ansehe, ich nur diese bernsteinfarbenen Augen aus meiner Vergangenheit erblicke. Sie tanzen vor mir her, leuchten, glühen voller Hohn.

Ich werde niemanden an mich heranlassen, überlegt sie weiter, niemals. Er könnte mich verletzen, mein Inneres könnte zu Staub zerfallen und alles würde plötzlich sterben. Genauso, wie es Ellen erging, auch ihr Inneres ist damals gestorben, selbst ihr Äußeres war mit einem Mal weg.

Nein, ich werde mich auf nichts einlassen, auf nichts und niemanden.

»Was gibt es hier eigentlich so Interessantes zu sehen?«, fragt David und reißt sie damit aus ihren Gedanken.

»Nichts«, murmelt sie unverbindlich, »nur die Nacht, aber ich finde es schön, ich bin gerne hier.«

»Aha«, David möchte das Thema nicht vertiefen, er spürt instinktiv, dass sie nicht gerne darüber reden möchte. So wechselt er einfach die Richtung.

»Warum kommst du nicht zu der Party? Es würde Micki sehr freuen und alle die du kennst, werden da sein.«

Erneut wirft sie ihm einen raschen Seitenblick zu.

»Wie ich schon sagte, ich nehme keine Einladungen an.«

Entschlossen presst sie ihre Lippen zusammen und zieht die Arme noch enger um den schmalen Körper.

»Ich weiß, das sagtest du bereits«, antwortet er mürrisch.

»Aber, was ist denn nun der wahre Grund?«

»Das ist der wirkliche Grund«, meint sie mit Nachdruck. »Außerdem wüsste ich nicht … «

»Blödsinn«, fällt David ihr brüsk ins Wort.

»Den Quatsch glaubst du doch selbst nicht. Niemand schottet sich so dermaßen ab. Menschen sind Rudeltiere, sie müssen miteinander kommunizieren, sie brauchen einander. Das … das ist überall auf der Welt so.«

»Bist du kein Mensch?«, fragt Vivien mit einem schiefen Lächeln. David ist kurz verwirrt.

»W-Was? Wieso?«

»Na du hast gesagt sie. Ganz so, als ob du kein Mensch wärst.«

»Doch, selbstverständlich«, er schüttelt kurz den Kopf, dann breitet er seine Arme aus.

»Sieh mich an, Vivien. Ich sehe wie ein Mensch aus, oder? Benutz deine Augen und sag mir, was du siehst?«

Fast wünscht er sich, sie möge ihm die Wahrheit antworten, beinahe hofft er, dass sie seine wirkliche Gestalt erkennt.

Sie lässt die Augen prüfend über seine Erscheinung schweifen, David spürt ihren brennenden Blick auf dem Körper. Erneut vollführen die tausend Schmetterlinge in ihm einen wilden Tanz.

»Du… hm«, beginnt sie zögernd und betrachtet ihn aufmerksam.

»Du siehst … hm, irgendwie unwirklich aus. Ja, das ist das richtige Wort. Du scheinst nicht richtig da zu sein. Du wirkst auf mich, wie ein Trugbild, wie ein … «, sie grinst flüchtig, »wie ein Spuk, ein Geist. Eben nicht real.«

David bleibt der Mund offen stehen, vor Verwunderung. Da steht dieses traumhafte Mädchen vor ihm und erkennt fast sein wahres Selbst. Er könnte schwören, wenn sie noch schärfer hinsähe, dann würde sie das Monster in ihm sehen, es erfassen können. Plötzlich ist er sich nicht mehr sicher, ob das gut oder schlecht wäre.

Resigniert lässt er die Arme sinken.

»Schönen Dank auch, für das Kompliment«, knurrt er vorwurfsvoll.

»Keine Ursache«, flüstert Vivien.

Diesmal dreht sie sich nicht mehr weg von ihm, sondern betrachtet David weiterhin sehr aufmerksam.

Er fühlt sich hilflos, es kam in seinem langen Dasein selten vor, dass er solche Gefühle entwickelte, wenn eine Frau ihn ansah.

Er ist hin und her gerissen, darüber, ob er sich wünscht, das sein Monster sich offenbart und das sein, und auch Mickis Geheimnis, weiterhin im Verborgenen bleibt.

Verträumt bleibt ihr Blick mit seinem verschlungen.

Da sind sie wieder, diese bernsteinfarbenen Augen, denkt Vivien. Aber diesmal liegt in ihnen kein Hohn und Spott, sondern Wärme, Leichtigkeit und so etwas wie Vertrautheit.

Noch etwas offenbaren diese Sinnesorgane, sie kann es nur nicht deutlich genug sehen, aber es liegt beinahe vor ihr frei. Sie müsste nur die Finger auszustrecken, dann könnte sie danach greifen.

Angestrengt denkt sie darüber nach, es scheint so etwas wie … wie…

David dreht seinen Kopf in eine andere Richtung und Vivien verliert den Kontakt.

Was immer es auch war, oder zu sein schien, jetzt ist es weg. Wenige Sekunden später, ist sie sich nicht mehr sicher, überhaupt etwas gesehen zu haben. Was es auch immer war, es ist durch ihre Finger hindurch geglitten wie Sirup, sie bekam es nicht zu fassen.

»Ich geh’ dann mal«, murmelt David und wagt nicht, sie erneut anzusehen.

Ihm ist nicht wohl dabei, eben war es kurz so, als hätte Vivien sein Geheimnis erkannt, nicht nur das, als hätten ihre schlanken Finger, in seinen tief verborgenen Wünschen und Empfindungen gekramt.

Nicht, dass er nicht gerne ihre Finger auf seinem Körper spüren würde, aber in seinem Geist hat niemand etwas zu suchen, der gehört ihm ganz allein.

Die Augen immer noch fest auf ihn gerichtet, haucht sie mit einem Mal:

»Ich stehe jede Nacht um drei hier.«

Mit einer raschen Bewegung dreht er sich um.

»Warum?«, fragt er gespannt.

»Vor zwanzig Jahren wurde dort hinten«, mit dem Finger zeigt Vivien in die Dunkelheit hinein, zu der kleinen Baumgruppe.»Meine Schwester ermordet. Meine Eltern und ich zogen bald danach von hier weg. Aber ich habe unser altes Haus zurückgekauft. Seit ich wieder hier wohne, stehe ich Nacht für Nacht an dieser Stelle und blicke in die Dunkelheit.«

»Was glaubst du zu sehen?«, seine Stimme klingt vorsichtig, lauernd.

»Ihren Mörder«, antwortet sie knapp und holt tief Luft.

»Ich warte auf das Monster, das Ellen damals tötete.«

»Und wenn es kommen sollte? Was dann?«

Sie zuckt flüchtig mit den Schultern.

»Ich weiß nicht«, haucht sie traurig, »vielleicht bitte ich es, mich ebenso aufzufressen.«

Sie wendet den Kopf und starrt in die Nacht.

»Etwas in mir ist damals mit gestorben. Den Rest von mir kann es gerne haben.« Eine Träne stiehlt sich aus ihrem Augenwinkel. Die dichten Wimpern zwinkern einmal, dadurch löst sie sich und fließt Viviens Wange hinunter.

David kann das nicht mehr ertragen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden tritt er näher an sie heran und legt seine Arme um ihre dürre Gestalt.

Er zieht sie an seine Brust, ihr Geruch ist plötzlich überall, um ihn herum, auch in ihm.

Sein, für sie, unsichtbarer Cauda schlingt sich eng um Beide herum. Zart legt Vivien ihre Hände auf seinen Rücken und ihre Wange gegen seine Brust.

Durch sein T-Shirt fühlt er die Nässe, sie weint weiter. Ihr kleiner Rücken bebt unter seinen streichelnden Händen. Er ist sich nicht sicher, ob er etwas sagen muss, ob er überhaupt diese Stille zwischen ihnen durchbrechen soll.

Das Blut kocht in ihm, die Schmetterlinge vollführen einen wilden Rock’n Roll. Der Cauda zieht sich enger um sie, bringt beide noch näher zusammen, er dachte nicht, dass das überhaupt möglich sei.

Ein fast nicht hörbares Knurren ertönt aus seinem Körper, vermischt sich mit Viviens heiserem Schluchzen.

Er streicht ihr sacht über das Haar, küsst sie leicht auf die Schläfe. Ihre Haut, scheint unter seinen Lippen zu glühen. David erwartet fast, das beide gleich Feuer fangen, dem sie jeden Moment in Flammen aufgehen.

Er nimmt ihr Gesicht in beide Hände, blickt ihr tief in die von Tränen überquellenden Augen.

Ihr Blick ist traurig und gequält, er geht kurz zu seinem Mund, der ihrem so nah ist, wie es noch nie zuvor einer war.

»Es wird alles wieder gut, Vivi«, haucht David ihr zu und versucht seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.

»Lass mich los«, krächzt sie, »sofort.«

Erschrocken lässt er seine Hände sinken, auch der Cauda löst die Umklammerung, um sich erneut locker um seine Hüften zu legen.

»Was ist… «

Sofort unterbricht sie ihn.

»Ihr Bastarde seid alle gleich«, ruft sie und ihrer Stimme ist die Kränkung anzumerken.

»Vivi, ich… « Weiter kommt er mit seinem Erklärungsversuch nicht, sogleich fällt sie ihm erneut ins Wort.

»Ich weiß gar nicht, was mich dazu gebracht hat, dir meine Geschichte zu erzählen«, kreischt sie aufgebracht.

»Wie kann ich nur so dumm sein.«

Abrupt dreht sich Vivien um, sie will zurück zu ihrem Haus, wieder in die schützende Umgebung, in ihr Schneckenhaus.

»Warte!«, David greift nach ihrem Handgelenk, mit einem Ruck zieht er sie zurück in seine Arme. Den kurzen erschreckten Schrei, den sie ausstößt, ignoriert er einfach.

»Ich lasse dich nicht so gehen«, knurrt er wütend.

»Ich bin mir keiner Schuld bewusst, Vivien. Ich weiß nicht, was du von mir denkst. Aber was es auch immer ist, nichts davon hatte ich vor. Ich schwöre es dir.« Er schluckt kurz, der gequälte Ausdruck tritt erneut in ihr Gesicht.

»Ich wollte nichts Unrechtes geschehen lassen. Wirklich nicht.« Seine Stimme ist sanft.

»In Ordnung«, meint sie unverbindlich und stemmt ihre kleinen Hände gegen seinen Oberkörper.

»Lass mich jetzt bitte los. Ich will ins Bett, es ist schon spät und ich bin müde.«

»Es tut mir leid«, flüstert David, »was immer auch geschehen ist, ich wollte es nicht.«

Er lockert seinen Griff, Vivien dreht sich sofort um und geht mit schnellen Schritten zu ihrem Haus zurück.

Sie flüchtet, denkt David traurig, sie flieht vor mir. Keine Sekunde später hört er die Türe krachend ins Schloss fallen. Um ihn herum ist nur noch die Stille.

Er vergräbt die Hände in den Taschen und geht über das Feld, in die Dunkelheit hinein.

Ich brauche jetzt ganz dringend etwas zu essen, damit ich zu Kräften komme und wieder klar denken kann.

Als die Nacht ihn vollständig einhüllt, als er sich sicher ist, das niemand ihn beobachtet, nimmt er seine wahre Gestalt an, er verwandelt sich in das schreckliche Wesen, das Vivien eben beinahe in ihm erkannt hat. In das Geschöpf, das damals ihre Schwester tötete und anschließend auffraß

Er ist jetzt das Monster, auf das Vivien seit Jahren sehnsüchtig wartet damit es ihr Leben vernichtet.

Fatalis

Подняться наверх