Читать книгу Fatalis - Nadja Christin - Страница 3

Vor einigen Jahren

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Es ist Nacht und es ist furchtbar kalt. Für Ende Oktober liegt bereits ungewöhnlich viel Schnee. Er überzuckerte Häuser, Bäume und Wiesen, liegt in einer dicken Schicht auf den Straßen und Wegen.

Das Schneetreiben hat eben erst aufgehört, nun ist es still, dunkel und entsetzlich kalt.

Ihre kleinen Füße hinterlassen Spuren in der jungfräulichen Schneedecke. Mit den Fersen wirbelt sie kleine Flöckchen auf, als sie durch das weiße Pulver läuft.

Ihre Füße sind nackt, von der Kälte rot. Sie trägt nur ein dünnes Nachthemd, der eisige Wind brennt auf ihrer bloßgelegten Haut.

Trotzdem läuft die Kleine weiter, vor ihrem Mund entstehen kleine Wolken. Ihr Atem kommt stoßweise aus ihrem zarten Körper. Immer wieder dreht sie ängstlich ihren Kopf, blickt über ihre Schulter nach hinten. Der Verfolger ist noch hinter ihr, das spornt sie an, sie versucht immer schneller zu laufen. Ihre kleinen Füße versinken bis weit über die Knöcheln in dem tiefen Schnee, die Beine schmerzen, ihre Lungen schreien nach Luft und das Herz will ihr fast aus dem Brustkorb springen vor Angst.

Aber sie rennt weiter, denn sie weiß genau, wenn sie aufgibt, wenn sie hinfällt, wenn der Verfolger sie zu fassen bekommt, dann ist es aus mit ihr, dann wird sie sterben.

Sie hat noch keine genaue Vorstellung vom Tod, oder vom Sterben überhaupt. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie noch keinen Gedanken daran verschwendet, bis jetzt hatte sie es auch noch nicht nötig. Schließlich ist sie ein Kind und erst zehn Jahre alt. Da macht man sich noch keine Gedanken über das Sterben oder den Tod.

Wenn man nicht gerade sein Lieblingshaustier beerdigen oder einen nahen Verwandten zu Grabe tragen muss. All dies hat Ellen in ihrem jungen Leben noch nicht mitgemacht, trotzdem weiß sie genau: Wenn das Monster hinter ihr, sie zu fassen bekommt, dann wird sie sterben. Was immer das auch bedeuten mag.

In diesem Moment stolpert Ellen über einen Baumstamm. Er war in dem dicken Schneeteppich nicht zu erkennen. Sie strauchelt, stützt sich mit einer Hand am Boden ab, versucht sich wieder zu fangen um weiter zu laufen. Aber ihre Hand versinkt tief in dem Schnee, Ellen verliert das Gleichgewicht und stürzt kopfüber in die weiche, kalte Masse.

Sie stößt einen kleinen Schrei aus, ihr Herz vollführt einen verzweifelten Sprung, um danach in doppelter Geschwindigkeit gegen ihre Rippen zu hämmern. Jetzt wird es mich doch erwischen, denkt das kleine Mädchen verzweifelt. Sie rollt sich auf den Rücken und blickt in den wolkenverhangenen Himmel. Es ist nichts zu sehen. Schnell hebt sie den Kopf an, sie blickt sich um.

Nichts, nur Schnee und ihre Fußspuren. Kein Monster mit rotglühenden Augen und scharfen Krallen. Keine spitzen Zähne, von denen geifernd der Speichel tropft, kein Knurren, Grollen, oder Fauchen mehr. Nur diese unheimliche Stille und ihr eigener, viel zu schneller Atem. Ellen stützt sich auf ihre Hände und betrachtet die Umgebung. Sie ist versucht nach dem Monster zu rufen, nur um zu prüfen, ob es vielleicht doch noch ganz in der Nähe ist. Ein kindisches Verhalten, aber sie ist auch noch ein Kind.

»H-Hallo?«, fragt sie ängstlich in die Dunkelheit hinein.

»Ist da jemand?«, gehetzt blicken ihre Augen hin und her, sie kann niemanden entdecken.

Langsam rappelt sie sich hoch, schüttelt den nassen Schnee aus ihrem Nachthemd. Jetzt erst spürt sie die Schmerzen an den Füßen, sie sind halb erfroren, schon ganz blau von der Kälte.

Ellen klappert mit den Zähnen und schlingt ihre Arme um den Körper, um sich warm zu halten. Es nützt nichts, die Kälte ist nicht nur außen, um sie herum, sie hat sie auch von innen gepackt. Jetzt, da Ellen wieder alleine ist, jetzt da die Angst sie vorsichtig verlässt, kriecht die Kälte in sie hinein. Langsam dreht sie sich um und stapft durch den tiefen Schnee in Richtung ihrem Zuhause, zurück in ihr Bett.

Ob Mama und Papa schon gemerkt haben, dass ich weg bin, fragt sie sich. Ob sie sich Sorgen um mich machen? Warum bin ich nur weggelaufen, wieso hab ich nicht einfach meine Decke über den Kopf gezogen, wie es uns in der Schule erklärt wurde. Decke über den Kopf, du siehst das Monster nicht und es dich auch nicht mehr. Dann bist du sicher. Aber sobald man Augenkontakt mit dem Monster hat, ist man geliefert. Dann jagt es einen, bis zum bitteren Ende.

Ellen wollte sich ja so gerne die Decke über die Augen ziehen, aber das ging einfach nicht, die Decke hatte sich irgendwo verklemmt, oder hat das Monster sie etwa festgehalten? Hat das Biest nach ihrer hübschen Decke gegrabscht und sie ihr weggezogen, damit sie ein Opfer wird?

Ich muss unbedingt morgen in der Schule mit Anne darüber sprechen, überlegt Ellen weiter, was die wohl von der ganzen Sachen hält?

Grimmig verzieht sie ihre Lippen, und erst Marie, diese eingebildete Schnepfe, die wird ihren blöden Mund nicht mehr zumachen können vor Neid, wenn ich ihr diese Geschichte erzähle. Vielleicht kann ich auch bei den Jungs ein bisschen punkten, bisher hat mich von denen keiner beachtet. Vor allem Tommy, der nette Junge aus ihrer Klasse, blickt immer nur demonstrativ an ihr vorbei.

Ein Lächeln überzieht ihr Jungmädchengesicht, sie sieht Tommy in Gedanken schon ihr bewundernde Blicke zuwerfen. Bestimmt spricht er dann auch mal mit mir, fragt mich, wie ich es nur geschafft habe, dem Monster zu entkommen. Vielleicht stricke ich ja eine nette Geschichte darum herum, lüge ein bisschen dazu. Nur ein wenig, ich will es ja nicht übertreiben.

Sie strafft ihren Körper und ist schon wieder ganz munter, fast fröhlich.

Vor ihren Augen sieht sie sich mit Tommy sprechen, sieht Marie vor Neid schier platzen und alle Kinder ihrer Klasse bilden einen Kreis um sie, alle wollen es wissen.

Alle wollen erfahren, wie sie es geschafft hat, wie sie dem Monster entkommen ist.

Plötzlich stockt Ellen:

Ja, wie hat sie es denn nun eigentlich geschafft, fragt sie sich verwundert. Sie ist gestolpert und dann war das Biest hinter ihr plötzlich weg. Sie hat schon geglaubt ihr letztes Stündlein habe geschlagen, das Biest packt sie jetzt und frisst sie auf, aber nichts davon ist geschehen, gar nichts. Leicht schüttelt Ellen mit dem Kopf, na ja, wie auch immer, ich bin entkommen, das ist die Hauptsache.

Vor sich sieht sie schon ihr Elternhaus, alle Fenster sind noch dunkel.

Gut, so brauche ich meinen Eltern keine Erklärung abzugeben. Ellen geht schneller, sie freut sich schon auf ihr warmes, kuscheliges Bett.

Nur noch der kurze Feldweg entlang, dann ist sie zu Hause.

Plötzlich ein leises Geräusch, ein Knacken. Ellen runzelt ihre Stirn und dreht vorsichtig den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kommt.

Sie sieht erst nur die Bäume, deren schwarze Stämme verschwimmen zu einer dunklen Masse. Da leuchtet etwas auf, zwei rotglühende Punkte. Ein leises Grollen ist zu hören, so als wenn sich weit entfernt ein Gewitter zusammenbraut.

Das Grollen schwillt an, wird lauter. Das alles geschieht in einer rasenden Geschwindigkeit. Ellen hat nur den Fuß angehoben, um einen weiteren Schritt auf ihr sicheres Bett zuzugehen. Sie hebt den anderen Fuß, für einen erneuten Schritt, da prescht etwas durch die Bäume auf sie zu.

Es springt einfach aus der schützenden Dunkelheit heraus. Ellen reißt erschrocken ihre Augen auf, sie ist unfähig sich zu bewegen, ihr Fuß scheint in seiner Bewegung eingefroren zu sein.

Das Monster schlingt seinen langen Cauda, seinen Schwanz, um Ellens Mitte, zieht ihn unbarmherzig enger zu.

Sie öffnet den Mund, will schreien, ihre Angst, die Panik einfach hinaus kreischen.

Aber das Monster hat ihr schon den Brustkorb zerquetscht, ihr bereits die Luft abgeschnürt. Kein Laut dringt aus dem jungen Mädchen, nur ihre Augen quellen, vor Furcht, nahezu über.

Dieses elendige Ding hat hier auf mich gewartet, denkt sie noch, dann erklingt selbst in ihren Gedanken nur noch ein lauter Schrei.

Das Monster reißt das Maul auf, Ellen könnte jetzt die unzähligen, spitzen Zähne sehen, wenn das Mädchen noch in dieser Welt weilen würde.

Die Zehnjährige ist aber mit einem Blick in diese unwirklichen, glühenden Augen und auf den klobig wirkenden Monsterkörper, schlagartig in das Reich des Wahnsinns hinab getaucht.

Sie wird niemals wieder an die Oberfläche gelangen, weder in dieser Welt, noch in der Nächsten.

Kein Laut kommt über ihre Lippen, keine Regung ist zu sehen, als das unheimliche Ding seine Zähne in ihre Schulter schlägt. Das helle Blut spritzt nach allen Seiten davon, übersät den jungfräulichen Schnee mit roten Tupfen.

Es knirscht und knackt, es kracht und kaut. Zermalmt ihre Knochen zwischen den starken Kiefern.

Das Monster scheint sein nächtliches Mahl zu genießen.

Erst als das kleine Mädchen gänzlich aufgefressen ist, kehrt wieder Ruhe ein.

Das merkwürdige Wesen wendet sich ab und verlässt den gruseligen Schauplatz.

*

Der Vollmond erscheint plötzlich hinter der milchigen Wolkenwand, bescheint unschuldig die blutige Szenerie.

Der bläuliche Feenring, um ihn herum, deutet einen neuen Schneefall an, und es soll noch kälter werden.

Kälter als die Augen des Monsters blicken können, eisiger, als sein Atem je sein wird.

Die Temperatur aber, wird niemals so drastisch fallen, dass sie sich mit der inneren Kälte messen könnte, die ein anderes kleines Mädchen in diesem Augenblick in sich fühlt.

Es presst eine Hand auf den winzigen Mund, die Augen darüber quellen ihr fast aus den Höhlen. Sie hat alles mit angesehen, hat erlebt, wie ihre große Schwester Ellen gerade von einem Monster verschlungen wurde.

Vivien ist vor zwei Tagen sechs Jahre alt geworden. Sie konnte heute Nacht schlecht schlafen, da die Aufregung über ihre Geschenke noch nicht abgeebbt ist.

So hat sie das hektische Wegrennen ihrer Schwester bemerkt und ist ihr gefolgt.

Wenn sie vorher gewusst hätte, was sie hier draußen im Schnee erwartet, sie hätte sich ihre Decke über den Kopf gezogen und den Morgen abgewartet.

Erst als sich Vivien ganz sicher ist, das dieses Scheusal nicht wiederkehrt, traut sie sich, die Hand von ihrem Mund zu nehmen.

Es vergeht nur ein Wimpernschlag, dann kreischt sie los.

Den Blick fest auf den zertrampelten Boden und die wenigen Blutspritzer gerichtet, schreit sie ihre Angst einfach hinaus.

Ein paar Meter weiter, in Ellens und Viviens Elternhaus, gehen im obersten Stockwerk die Lichter an.

Fatalis

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