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Die Realität

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David löst sich von seinem Buch und blickt aufmerksam zu seinem Freund.

Micki liegt auf dem Sofa, er wälzt sich unruhig von einer Seite auf die andere.

»Na, Kumpel«, flüstert David, »hast wohl schlechte Erinnerungen zu verarbeiten.«

Er seufzt kurz, es hört sich alt an.

»Da müssen wir alle durch, die einen früher, die anderen eben später.«

David zuckt kurz mit den Schultern, als habe ihm Micki geantwortet, dann vertieft er sich erneut in sein dickes Buch.

Nach ein paar Sätzen bemerkt er, dass er den Inhalt nicht mehr registriert, die geschriebene Geschichte interessiert ihn nicht mehr.

Genervt wirft er das Buch von sich, es landet, mit einem dumpfen Knall in der gegenüberliegenden Wohnzimmerecke. Micki, auf dem Sofa, dreht heftig seinen Kopf von links nach rechts, dann liegt er wieder halbwegs ruhig da.

David presst seine Handballen gegen die Augen, aus seinem muskulösen Körper erklingt ein drohendes, gefährliches Knurren. Aber bevor das unheimliche Geräusch zu einem wütenden Schrei anschwellen kann, unterbricht sich David selbst.

Er will weder sich, noch Micki verraten, zu blutig würde das Ende werden, wenn die Menschen hinter ihr Geheimnis kämen.

David steht auf, stellt sich vor das Fenster und blickt hinaus. Die Wahl der Wohnung war perfekt, denkt er bei sich, von hier aus kann man fast die gesamte Siedlung überblicken. Vor allem das eine Haus, welches Micki interessiert.

Es herrscht tiefste Nacht, in der Siedlung ist es ruhig. Die Straße wird von altmodischen Laternen erhellt, in regelmäßigen Abständen werfen sie einen matten Lichtkegel auf den Boden.

Plötzlich huscht eine Katze durch den Lichtschein, sie ist bestimmt auf dem Weg zu ihrem warmen Zuhause, überlegt David amüsiert.

Sein Magen knurrt, oder ist es in Wahrheit etwas anderes in ihm? Er verspürt eine wahnsinnige Lust, diese Katze zu schnappen und sie einfach aufzufressen.

Am liebsten würde er jetzt sofort in die Dunkelheit flüchten um nach diesem kleinen Stubentiger zu suchen.

Es wäre für ihn nur ein kleiner Happen, aber sein letztes Mahl ist schon lange her.

Noch bevor David einen Gedanken über sein Vorhaben zulassen kann, fällt hinter ihm die Wohnungstür zu und er rennt, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinunter.

Er steht vor dem Orangen und wirft suchende Blicke um sich. Mit einem Mal sieht er die gestreifte Katze wieder, sie geht gemächlich in Richtung Feld.

Prima, denkt David, auf der weiten Fläche, kann ich sie mir schnappen. Kein helles Licht, keine Versteckmöglichkeit für das Vieh und ebenso, keine Zeugen.

Er schlendert, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Straße entlang. Es könnte ihn eine, an Schlafstörungen leidende Person, beobachten. Er will so wenig Aufmerksamkeit, wie möglich erregen, am besten gar keine.

Das Kätzchen bleibt kurz stehen, hebt eine Vorderpfote an und blickt nervös zu ihm. Dann huscht sie neben dem letzten Haus, auf das Feld.

David grinst vor sich hin, in seinen Gedanken, hat er sie schon verspeist, mit Haut und Haaren, er darf kein Zeugnis seiner Tat übriglassen.

Rechts von ihm kommt das Haus von Vivien in Sicht, er wirft nur einen flüchtigen Blick darauf, alle Fenster sind dunkel.

Er sieht wieder nach vorne und erstarrt.

Verdammt, schießt es ihm durch den Kopf, ich hätte in der Wohnung bleiben sollen.

Vor ihm, wo die Dunkelheit alles mit einem schwarzen Teppich überzieht und der schmale Feldweg beginnt, steht eine Gestalt, den Rücken ihm zugekehrt.

Für den Bruchteil einer Sekunde weiß David nicht, wer das sein könnte und ist kurz beunruhigt. Dieses Gefühl verfliegt aber rasch und er hat sich wieder gefangen, als er bei ihr ankommt.

»Einen wunderschönen guten Abend, Vivien«, grüßt er mit seiner rauchigen Stimme. Er deutet eine leichte Verbeugung an, als sie seinen Kopf zu ihm dreht.

Ihre Antwort besteht lediglich aus einem kaum zu bemerkendem Nicken, dann wendet sie sich wieder nach vorne und starrt in die Dunkelheit.

David ist kurzfristig dermaßen irritiert, dass er wirklich nicht weiß, was er sagen, tun, oder gar denken soll.

Micki hat Recht, überlegt er, sie ist wirklich … anders.

Er stellt sich dicht neben sie und schiebt seine Hände noch tiefer in die Hosentaschen.

»Was gibt’s denn da zu sehen?«, fragt er sanft.

Unter allen Umständen muss er bei ihr als harmlos gelten. Er will weder Micki den Auftrag vermiesen, noch ihr gemeinsames Geheimnis auffliegen lassen. Beides würde sich als problematisch erweisen.

Vivien wirft ihm einen nervösen Seitenblick zu und antwortet leise:

»Nichts Besonderes. Ich stehe gerne hier.«

David lacht kurz auf, ein herrliches Lachen, das kleine Fältchen um seine Augen projiziert und sein Gesicht noch schöner erscheinen lässt.

»Und du stehst immer um … «, er unterbricht sich, um einen raschen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen.

»… drei Uhr morgens hier und starrst ins Dunkle?«, frech grinsend versucht er in ihr Gesicht zu blicken.

Sie verschränkt die Arme vor ihren dürren Körper und lächelt.

»Na und? Du gehst ja auch um die gleiche Uhrzeit spazieren.«

Davids Gesicht strahlt, nicht nur, dass er sich freut, ein Lächeln auf ihre herrlichen Lippen gezaubert zu haben, auch das er bei ihr einfach so ins Du verfallen ist, und sie es angenommen hat, freut ihn diebisch.

Sie ist wirklich süß, die Kleine, denkt er kurz.

Erklärend meint er:

»Ich konnte nicht schlafen, Micki schnarcht wie verrückt. Da habe ich gedacht, ich genieße noch ein bisschen die laue Mainacht.«

»Wir haben aber Juni«, antwortet sie mit einem Stirnrunzeln.

»Ja, ich weiß«, erneut lacht David auf, »aber Mainacht hört sich schöner an.«

Vivien schüttelt stumm mit dem Kopf, während sie ihn scheinbar nachdenklich betrachtet.

»Was?«, er zuckt fragend mit den Schultern.

»Ich werde aus euch einfach nicht schlau«, murmelt sie und blickt seufzend nach vorne auf den Feldweg.

»Da bist du nicht die Erste«, brummt er und schiebt energisch seine Fäuste noch tiefer in die Taschen.

Plötzlich hat er das dringende Bedürfnis, ihr einen Arm um die schmalen Schultern zu legen, sie an sich heranzuziehen und auf den herrlich vollen Mund zu küssen.

Dieses Gefühl ist genau so stark, wie das von eben, in der Wohnung.

Er hat nicht darüber nachgedacht, ist einfach der kleinen Katze hinterher, hat seinen Gefühlen, seinem Bedürfnis nachgegeben. Das darf nicht noch einmal geschehen, jetzt muss er sich im Griff haben, wenn er nicht will, dass etwas Schlimmes geschieht.

Unvermittelt, nur damit er diese Stille durchbricht, fragt er leise:

»Weißt du eigentlich welche Bedeutung dein Name hat?«

Er ist sich selbst nicht bewusst, warum er sie das fragt.

Vivien schüttelt stumm den Kopf.

»Er bedeutet die Schöne, oder auch lebendig und lebensfroh.«

Erwartungsvoll sieht er auf ihr Profil.

Sie schnaubt und zieht ihre Arme noch enger um den Körper.

»Lebendig und lebensfroh«, murmelt sie verächtlich, »diese Eigenschaften hätte ich gerne. Und was die Schönheit betrifft«, sie dreht sich David zu und blickt ihn grimmig an.

»Brauchst du eine Brille? Kannst wohl nicht mehr deinen Augen trauen.«

Abrupt dreht sie sich um und geht zu ihrem Haus.

Verblüfft sieht ihr David hinterher.

Tief in ihm regen sich Gefühle. Empfindungen, die er schon lange nicht mehr spürte, von denen er glaubte, sie längst begraben zu haben.

»Gute Nacht, meine überaus lebendige Schönheit«, haucht er lautlos und dreht sich um.

Er will wieder zurück zu Micki.

Vielleicht ist der Kerl ja mittlerweile aus seinem Reich der Träume erwacht, eventuell könnte ich ihn zu einer kleinen Jagd überreden. Natürlich nicht hier in der Nähe, sondern etliche Kilometer weiter. Wir werden ja kein Risiko eingehen, denkt er noch und will seiner Wege gehen.

Plötzlich zieht ihm ein Geruch in die Nase, der letzte Rest von Viviens Duft strömt in ihn ein.

Die Erinnerung überfällt ihn so plötzlich, das er kurz ins Wanken gerät. Ein bekannter Geruch, ein Geschmack, den er auf seiner Zunge spürt.

Er und Micki waren schon einmal hier in dieser Gegend, aber das ist schon etliche Jahre her. Damals hatten sie ebenso einen Auftrag, sind aber hier zum Jagen hergekommen.

David kramt umständlich in seiner Erinnerung. Nur langsam treten verschwommene Bilder an die Oberfläche. Ein kleines Mädchen, es war Winter und eiskalt. Er hat sie verfolgt, gejagt und mit ihr gespielt, wie eine Katze mit der Maus. Letztendlich hat er das bekommen, was er wollte. Sie hat gut geschmeckt, seinen Körper zutiefst befriedigt und gesättigt.

Ihr Geruch war so ähnlich, wie der leichte Duft von Vivien, der wie ein zartes Band seine Nase umspielt.

Wie ist so etwas nur möglich, fragt sich David. War sie damals dabei? Nein, das kann nicht sein, gibt er sich selbst die Antwort, es war nur seine Beute dort, alles andere hätte er bemerkt.

Wie kommt so was dann zustande? Vielleicht war sie mit ihr verwandt? Das könnte durchaus die Lösung sein, sein nächtliches Mahl war eine entfernte Verwandte von Vivien, das erklärt alles. Den ähnlichen Geruch und das sie jetzt im gleichen Haus wohnt.

Trotzdem, denkt David und geht nun endgültig zu dem Orangen zurück, ist es merkwürdig, dieses Zusammentreffen, ist das Zufall, oder vielleicht sogar … Schicksal?

Er überlegt angestrengt, ob er Micki davon erzählen soll. Aber der regt sich immer so schnell auf, ich sollte es lieber lassen.

Davids Gedanken kreisen um Vivien und seine eigene Vergangenheit, als er leise die Wohnungstür aufschließt. Er ist sich nicht sicher, ob Micki noch schläft und unter keinen Umständen sollte man ein Monster wecken, das weiß schließlich jedes Kind.

Beiläufig wirft er einen Blick in das kleine Zimmer, auf dem Sofa sollte der schlafende Micki liegen.

Aber die Couch ist leer. Auf den Polstern ist jede Menge Blut, eine Spur aus Tropfen führt in das angrenzende Badezimmer. David geht den Spritzern nach, reißt die Tür zum Bad auf und kann sich gerade noch zurückhalten, damit kein heiserer Schrei aus seiner Kehle dringt.

Fatalis

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