Читать книгу Fatalis - Nadja Christin - Страница 5
Ein Samstag im Juni
ОглавлениеStille herrscht in der Siedlung, eine fast schon unheimliche Stille.
Immerhin ist es Samstagnachmittag, sollte die Luft nicht vor Kindergeschrei erzittern? Sollten die männlichen Nachbarn nicht ihre neuen Autos waschen, sie polieren und damit angeben? Die Frauen hier, müssten sie nicht draußen die Rosen oder andere Büsche schneiden, mit der Nachbarin tratschen oder auf ihren schicken Terrassen Kaffee aus teuren Tassen trinken?
So sollte es eigentlich sein, in einer Vorstadtsiedlung.
Wie gesagt, in einer normalen Siedlung, aber nicht hier. An diesem Ort ist alles anders, hier herrscht Samstagnachmittags eine unheimliche Stille.
Ganz plötzlich erklingt ein leises Geräusch, ein Kratzen und Schaben. Ein kehrender Besen.
Das letzte Haus in der kleinen Straße, wo der Feldweg gleich daneben anschließt, dort wagt es jemand die Stille zu durchbrechen.
Irgendwer kehrt seine Einfahrt. Gleichmäßig und monoton erklingt das schabende Kratzen.
Plötzlich kommt ein zweites hinzu, eine Haustür wird geöffnet, gleich nachdem jemand hindurchgetreten ist, schließt sie sich mit einem lauten Rums. Dann ist wieder nur das schabende Geräusch des Besens zu hören.
Noch an ihre Tür gelehnt, beobachtet Luisa die kehrende Person von gegenüber.
Luisa ist in ihren mittleren Jahren, die Kinder sind schon groß und aus dem Haus. Ihr Mann zieht seine Kumpels mittlerweile vor, und das nach all den gemeinsamen Jahren mit ihr. Diese Tatsache interessiert sie allerdings nur am Rande, sie sitzt mit ihm nur noch die restliche Zeit ab, wie sie es gesagt hat damals, bis das der Tod euch scheidet.
Dass ihre Kinder aus dem gemeinsamen Haus auszogen, hat sie allerdings wirklich verletzt. Plötzlich stand Luisa vor dem Nichts, sie hatte nichts mehr, um das sie sich kümmern, dass sie mit ihrer Liebe erdrücken konnte.
Gut das damals, etwa zur gleichen Zeit, das Haus gegenüber verkauft wurde. Ein seltsames Mädchen zog dort ein, das hat die Gemüter der ganzen Siedlung erregt.
Nur mit Luisa hat dieses Mädchen gesprochen, außer Hallo und Guten Tag sogar in ganzen Sätzen. Luisa hat sich mit ihrer ganzen Körperfülle einfach dem Mädchen aufgedrängt, es hatte gar keine Chance, dem schnellen und munteren Geplapper einer erst kürzlich verlassenen Mutter, zu entgehen.
An ihre Haustür gelehnt beobachtet Luisa das Besenschwingende Mädchen. Es hält den Kopf gesenkt, ihre langen, schwarzen Haare sind locker im Nacken zu einem Zopf zusammen gebunden. Sie ist klein und sehr schlank, fast schon dürr. Das schwarze, ärmellose T-Shirt liegt eng an ihrem Körper und unterstreicht ihre Figur nur noch, genau wie die enggeschnittene, ebenfalls schwarze Hose.
Die Haut ist sehr hell, ihr Gesicht schon fast weiß, den linken Arm ziert eine Tätowierung. Ein Tribal, es beginnt an ihrer Schulter und zieht sich über den gesamten Arm, bis fast zum Handgelenk hin. Die dicken, schwarzen Linien und Bögen stehen in einem starken Kontrast zu der hellen Haut, so fällt das Tattoo nur noch mehr ins Auge.
Luisa überlegt, ob es nicht gerade diese Tätowierung war, die damals die gesamte Siedlung gegen das Mädchen aufbrachte, oder war es eher die Tatsache, dass sie ganz alleine in ein großes Haus zog? Dass sie so merkwürdig war, so geheimnisvoll und niemand genaueres über sie wusste.
Luisa zuckt mit den Schultern und setzt ihre Körpermassen in Bewegung. Langsam geht sie über die kleine Straße auf das schöne Einfamilienhaus zu. Die Einfahrt ist nicht lang, trotzdem kehrt die junge Frau schon mindestens zehn Minuten auf ihr herum. Sie lässt sich Zeit dabei.
Vielleicht will sie ein Schwätzchen mit mir halten, überlegt sich Luisa, aber daraus wird nichts werden, heute habe ich dir etwas Interessantes zu erzählen. Heute will ich keine Neuigkeiten über deine Bücher, über deine Arbeit oder über dich wissen, heute habe ich dir etwas zu berichten.
Luisa lehnt sich auf den Zaun aus Gusseisen und blickt zu dem kehrenden Mädchen.
»Hallo, Vivien«, sagt sie lächelnd, »warum kehrst du heute selbst? Deine Putze macht das doch sonst?«
Vivien fegt unbeirrt weiter, sie murmelt nur:
»Die hat heute frei. Weiß auch nicht genau warum. Aber ich schätze, ich werde auch mal selbst sauber machen können.« Sie hebt den Blick und dunkle Augen sehen amüsiert in Luisas feistes Gesicht.
»Oder meinst du, es erregt die Gemüter der Nachbarschaft, wenn ich meine eigene Einfahrt kehre?«
Luisa legt den Kopf in den Nacken und lacht kurz gackernd wie ein Huhn.
»Alles was du tust, erregt die Gemüter unserer ach so feinen Nachbarn. Selbst wenn du ausatmest, wird darüber geredet.« Vivien lächelt schief und widmet sich erneut dem Schmutz ihrer Einfahrt.
Luisa kann es kaum erwarten, ihr die Neuigkeit zu erzählen, so fängt sie auch ohne Einleitung einfach an zu plappern.
»Hör mal, hast du schon den neuen Mieter aus dem Orangen gesehen?«, mit erwartungsvoll geweiteten Augen sieht sie Vivien gespannt an.
Das sogenannte orange Haus ist das einzige Mehrfamilienhaus in der Siedlung. Es hat vier Stockwerke und fünf Wohnungen. Es ist ganz in orange gestrichen und wird von allen nur als das Orange bezeichnet. Es steht nicht weit von ihren Häusern entfernt, gut sichtbar, an der Kreuzung.
Einige Zeit hat die oberste Wohnung leer gestanden, nun ist sie scheinbar wieder vermietet worden.
Vivien stellt das Kehren ein und sieht ihre Nachbarin an, sie runzelt leicht ihre Stirn.
»Nein, sollte ich das?«, fragt sie mit einem spöttischen Lächeln.
»Aber unbedingt, Mädchen. Er hat sich bei allen hier schon vorgestellt. Er war auch bei dir, ich habe es gesehen, er hat geklingelt. Du hast aber nicht aufgemacht.« Luisa schämt sich kein bisschen dafür, dass sie ihre Neugier so unumwunden zugibt.
Wiederum lächelt das schwarzhaarige Mädchen, arbeitet jedoch weiter.
»Ich hab’s gehört, hatte aber zu tun. Was wollte er denn?«
Verschwörerisch lehnt sich Luisa noch weiter über den Gartenzaun und flüstert:
»Er hat uns alle zu seiner Einweihungsparty eingeladen. Samstag in zwei Wochen, im Garten vom Orangen Das ist aber total unerheblich.« Luisa winkt ärgerlich ab.
»Ihn musst du dir ansehen. Ein Traum von einem Kerl, so was hab ich noch nicht gesehen. Wie für dich geschaffen, Mädchen.«
Vivien stützt sich auf ihrem Besen und schiebt düster die schön geschwungenen Brauen zusammen.
Sie hat zwar schon vor einiger Zeit aufgegeben sich über Luisa zu ärgern, aber über ihre Kupplungsversuche kann sie sich doch jedes Mal fürchterlich aufregen. Zumal Luisa genau über ihre Vergangenheit Bescheid weiß, über ihre Kindheit, was geschehen ist damals.
»Luisa«, sagt sie langsam, »lass das bitte sein. Du weißt genau, dass ich das nicht mag.«
Genervt verdreht Luisa ihre Augen nach oben.
»Ja, ja, ich weiß. Aber hier zählt das nicht. Der Typ ist so toll, so klasse, so … so … «
Sprachlos hält Luisa kurz inne, mit der Beschreibung eines gutaussehenden Mannes ist sie wirklich überfordert.
»Du weißt schon, wie ich das meine«, fährt sie fort.
»Adonis ist wahrscheinlich ein Dreckklumpen gegen ihn.« Vivien, noch auf ihren Besen gestützt, lacht kurz auf. Den Vergleich findet sie wirklich komisch.
Von ihrem Lachen angespornt, spricht Luisa rasch weiter.
»Er ist ungefähr in deinem Alter, schätze ich. Und du glaubst gar nicht, wie er aussieht, und so charmant. Mit einem Lächeln hat er die alte Bentke für sich eingenommen. Sogar die redet nur in den höchsten Tönen über ihn. Und du weißt, was das heißt, die zerreißt sich sogar über die Spatzen hier ihr Maul.«
Luisa holt kurz Luft, dabei wirkt sie, wie ein Vulkan, der jeden Moment ausbricht, alles an ihr bebt.
»Du musst ihn einfach kennen lernen. Er ist so ein unglaublicher Kerl, selbst ich würde ihn nicht von der Bettkante schubsen.« Vivien hebt amüsiert eine Augenbraue und Luisa holt lächelnd nochmals Luft.
»Wobei sich die Frage selbstverständlich nicht stellen würde, da er mich natürlich nicht in seinem Bett haben will, so nett und charmant er auch zu mir war«, schließt sie, nun breit grinsend.
Vivien schüttelt mit dem Kopf und beginnt erneut, die Einfahrt mit dem Besen zu bearbeiten.
Erstaunt reißt Luisa ihre Augen auf, sie kann Vivien nicht verstehen, warum interessiert sie sich überhaupt nicht für Männer, egal wie sie aussehen. Wobei der Typ die Krönung von allen ist, von allen Kerlen, die sie selbst in ihrem langen Leben schon zu Gesicht bekommen hat.
»Ach übrigens«, ergreift Luisa erneut das Wort, »er heißt Micki, kannst du dir das vorstellen, so ein klasse Kerl heißt wie eine Zeichentrickmaus«, abermals lacht Luisa gackernd.
Das Mädchen lächelt vor sich hin, sie verspürt keine Neugier auf diesen angeblich so tollen Typ. Auch weiß sie jetzt schon, dass sie nicht auf diese Einweihungsparty gehen wird. Sie nimmt grundsätzlich keine Einladungen an, eine Lebensmaxime von ihr.
Frustriert stöhnt Luisa laut auf.
»Oh, Vivien, interessiert dich der Typ denn kein bisschen? Bist du gar nicht neugierig, willst du nicht mehr wissen? Was er gesagt hat, oder was ich ihm erzählt habe? Gar nichts?«
Kurz hebt Vivien den Kopf.
»Nö«, meint sie knapp und schwingt unbeirrt weiter den Besen.
Luisa schlägt mit der flachen Hand auf den Gartenzaun, sie kann solch ein Desinteresse einfach nicht fassen, und weiß im Moment nicht, wie sie darauf reagieren soll. Vivien hat ihr sozusagen den Wind aus den Segeln genommen. Luisa hätte zu gerne vor ihr damit geprahlt, wie lange sie sich mit dem wunderbaren Kerl unterhielt, vor allem, wie lange sie über ihre schöne, schwarzhaarige Nachbarin mit ihm redete. Aber vielleicht ist die Idee nicht so gut, überlegt sich Luisa, vielleicht wird Vivien doch noch ärgerlich, wenn sie das erfährt.
Unschlüssig, was sie jetzt tun oder sagen soll, bleibt Luisa einfach am Gartenzaun stehen und sieht der kehrenden Schönheit zu.
*
Auch etliche Meter weiter blickt jemand auf das schwarzhaarige Mädchen und ihre dicke Nachbarin, die fast den Zaun mit ihrem massigen Körper niederdrückt.
Im obersten Stockwerk, des sogenannten Orangen, steht jemand und beobachtet die Szenerie durch das geschlossene Fenster. Eine weiße, dichte Gardine schützt ihn, vor allzu neugierigen Blicken.
Wie eine Statue steht er hinter dem Fenster, kein Muskel an ihm rührt sich, kein Atemzug bewegt seinen Brustkorb. Wie aus Stein gehauen steht er dort, nur seine scharfen Augen zucken leicht, als er jede Bewegungen der beiden Nachbarinnen beobachtet.
Es ist finster in dem kleinen Zimmer. Hinter ihm sitzt jemand in einem Sessel und liest ein Buch. Trotz der Dunkelheit, die in dem Zimmer herrscht, huschen seine bernsteinfarbenen Augen über die Seiten, er braucht scheinbar kein Licht.
Micki, der am Fenster steht, runzelt plötzlich seine Stirn, wendet etwas den Kopf und sagt, ohne die beiden Frauen aus den Augen zu lassen.
»Sie ist wirklich hübsch, die Kleine. David, komm mal her und sieh sie dir an.«
David legt aufseufzend sein Buch auf die Armlehne des Sessels, stemmt er sich mit übertriebener Langsamkeit hoch und geht gemächlich zum Fenster. Er ist groß und schlank, geschmeidig in seinen Bewegungen, jeder Muskel sitzt an der richtigen Stelle, kein Gramm Fett. Ein feingeschnittenes Gesicht, kurze, braune Haare, perfekt gepflegt. Ein Typ, nach dem sich jede Frau umdrehen würde, ein Mann, der auf das Titelblatt eines Lifestyle Magazins gehört, möglichst nur in Unterwäsche fotografiert.
David legt Micki freundschaftlich den Arm locker um die Schultern und blickt ebenso aus dem Fenster.
Micki ist nur ein Stück kleiner als er, ansonsten könnten sie Brüder sein. Auch Micki ist der Traumtyp schlechthin, ein Kerl, einem Adonis gleich.
Selbst wenn man die Unverschämtheit besäße, danach zu suchen, man würde keinen Makel an ihm oder David finden. Beide sind einfach nur … perfekt.
David grinst frech und entblößt eine Reihe ebenmäßiger, strahlendweißer Zähne.
»Welche ist es denn von den beiden? Die Dicke?«
Micki wirft ihm einen raschen, ärgerlichen Seitenblick zu.
»Nein, die kleine Schwarzhaarige.«
David wiegt seinen Kopf hin und her.
»Hm, du hast aber auch immer ein Glück. Die sieht köstlich aus, zum anknabbern lecker.«
»Ja, finde ich auch«, meint Micki munter.
»Ich gehe jetzt runter und werde mich ihr vorstellen. Und du, mein Freund, wirst mitkommen.«
»Ich? Warum in aller Welt?«, fragt er, »sie ist dein Auftrag, nicht meiner.«
»Ja, das schon, aber es soll zufällig aussehen. Komm, wir tun so, als drehen wir unsere Nachmittägliche Joggingrunde. Wir sehen wie zwei Sportler aus, im Moment, da fällt das nicht weiter auf.« Micki steht schon mitten in dem dunklen Zimmer und winkt David zu sich.
»Los komm schon. Bevor sie wieder reingeht.«
Ein gequälter Ausdruck erscheint in Davids schönem Gesicht. Bewegen, das ist so gar nicht nach seinem Geschmack, lieber würde er wieder im Sessel sitzen und in seinem Buch lesen.
Aber Micki ist sein Freund, schon viele Jahre, und er hat recht, sie sehen wirklich wie zwei Sportler aus.
Enge T-Shirts, Jogginghosen und Turnschuhe, einfach perfekt. Ungeduldig wartet Micki auf ihn an seiner Wohnungstüre. So eilig hat er es aber auch selten, überlegt David, na ja, sie ist es wohl wert. Lächelnd geht er hinter Micki her.
*
Luisas Gedanken kreisen immer noch um den tollen Mann in dem Orangen und wie sie ihn Vivien schmackhaft machen kann. Da bemerkt sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung, ihr Kopf ruckt herum. Die Augen werden groß, der Mund bleibt ihr offen stehen, ein strahlendes Grinsen überzieht ihr Gesicht. Da kommt sie ja, die Chance auf die sie gewartet hat.
Micki und scheinbar ein Freund, der ihm in punkto Aussehen in nichts nachsteht, joggen langsam die Straße hinunter.
Luisa dreht sich rasch wieder zu Vivien um.
»Da kommt er, mit noch einem. Jetzt schau ihn dir bloß mal an«, zischt sie über den Gartenzaun hinweg, dem verträumt vor sich hin kehrenden Mädchen zu.
Vivien hebt erschrocken ihren Kopf, sie war ganz in Gedanken versunken und hatte ihre Nachbarin schon fast vergessen. Ein schneller Blick über die Schulter zeigt ihr, dass sie keine Möglichkeit zu einer Flucht hat.
Verdammt, denkt sie, jetzt treffe ich doch mit diesem Kerl zusammen. In Gedanken wünscht sie Luisa die Pest an den Hals. Sie stützt sich wieder auf ihren Besen und überlegt:
Ich muss das hier nur hinter mich bringen, dann hab ich in Zukunft wohl auch Ruhe vor ihren Verkupplungsversuchen.
Nun schon viel gelassener erwartet sie die Dinge, die auf sie zukommen werden.
Luisa wendet sich unterdessen den zwei Joggern zu, die nur noch wenige Meter von ihnen entfernt sind und flüstert zwischen den zusammengebissenen Zähnen in Viviens Richtung:
»Der mit dem weißen T-Shirt ist es.«
Dann grinst sie über das ganze Gesicht, hebt die Hand und ruft laut:
»Hallo Herr Nachbar, schöner Tag für einen Lauf.«
Micki und David halten vor ihr an und atmen einmal schnaufend aus. Micki streckt Luisa seine Hand entgegen, die sie sofort freudig ergreift.
Dann erklingt seine samtige und ruhige Stimme.
»Guten Tag, Luisa. Sie sehen, wie bereits heute Morgen, einfach bezaubernd aus.«
Obwohl es erst ein paar Stunden her ist, das sie die letzten Worte mit ihm gewechselt hat, kann sie sich ein wohliges Aufseufzen nur mit Mühe verkneifen. Seine Stimme trifft sie in ihrem Innersten, bringt ihr Blut in Wallung, befördert verschollen geglaubte Gefühle an die Oberfläche. Wann hat jemand sie das letzte Mal als »bezaubernd« bezeichnet, fragt Luisa sich. Das ist mindestens schon dreißig Jahre her. Sie muss sich zusammenreißen, um nicht, wie ein kleines Mädchen, in hysterisches Kichern zu verfallen.
Micki hält noch ihre Hand fest, sie wünscht sich, er möge sie nie wieder loslassen.
Dieser warme und feste Griff, wie mag er sich nur woanders auf ihrem Körper anfühlen, fragt sie sich kurz, da lässt er ihre Hand los und das seltsame, lüsterne Gefühl ist vorbei.
»Das ist mein Freund, David«, Micki legt ihm kurz die Hand auf die Schulter.
»Wir wollten gerade ein bisschen laufen gehen. David, das ist Luisa, mit Abstand die netteste und hilfsbereiteste Person hier in der Siedlung.« Er lächelt leicht.
David lehnt sich ein wenig nach vorne und reicht ihr die Hand.
»Freut mich, Luisa«, auch seiner Stimme fehlt es nicht an Wärme, obwohl sie eine Spur rauer ist als Mickis. Das macht sie nicht schlechter, ganz im Gegenteil.
»Hallo David«, murmelt Luisa und versinkt fast in den bernsteinfarbenen Augen, sie muss sich mit Gewalt von seinem Gesicht losreißen. Sie zwinkert, räuspert sich und plötzlich fällt ihr ein, dass sie nicht alleine mit diesen zwei unglaublichen Kerlen hier am Gartenzaun steht.
»Entschuldigung«, murmelt sie und räuspert sich erneut.
»Dies ist meine Nachbarin und gute Freundin Vivien. Sie hatten sie, vermute ich, heute Morgen nicht angetroffen, Micki.« Es ist mehr eine Feststellung, als eine Frage. Luisa weiß es nämlich ganz genau, da sie am Morgen jede seiner Bewegungen durch ihr Küchenfenster beobachtet hatte, nachdem er sich bei ihr vorgestellt und gegangen war.
Die beiden Männer drehen sich in Viviens Richtung um, die steht noch auf ihren Besen aufgestützt da, einer Statue gleich und beobachtet, mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen, die ganze Szenerie, nur ihre Augen wandern unruhig umher.
Sie ist etwa drei Meter von ihnen entfernt und es hat nicht den Anschein, als wollte sie auch nur einem der Jungs die Hand reichen, oder sich überhaupt irgendwie in Bewegung setzen.
»Einen schönen guten Tag wünsche ich, Vivien«, meint Micki freundlich und verbeugt sich leicht in ihre Richtung.
Vivien hebt nur ganz kurz eine Hand vom Besenstiel an und antwortet knapp:
»Hi«, schon zucken ihre dunklen Augen erneut zwischen den drei Personen hin und her.
Micki ist sich nicht ganz sicher, ist sie schüchtern oder einfach nur fürchterlich unfreundlich. Er setzt sein charmantestes Lächeln auf, atmet ein bisschen Luft ein, damit sein Brustkorb nach »noch mehr« aussieht. Dann stützt er seine Hände am Gartenzaun ab und streckt die Arme durch.
Er weiß genau, dass dadurch seine Armmuskeln noch stärker hervortreten.
David neben ihm grinst in sich hinein und denkt: jetzt fehlt nur noch ein perfekter Schlafzimmerblick und die dicke Luisa fällt neben ihm in Ohnmacht. Die kleine Schwarzhaarige scheint das allerdings alles kalt zu lassen. Ihr ist keinerlei Veränderung anzumerken. Wo er sich doch solche Mühe gibt und sich aufplustert wie ein feiner Gockel. David presst die Lippen zusammen um nicht laut loszulachen.
»Es ist schön, das ich Sie treffe«, Mickis Stimme ist ruhig und anziehen
»So kann ich Sie jetzt zu meiner Party einladen. Ich möchte meinen Einzug in die Siedlung feiern, bis heute haben alle zugesagt.«
Micki senkt etwas den Kopf und sieht Vivien von unten her an, sein Blick kann schon als verführerisch bezeichnet werden.
Neben ihm atmet Luisa hörbar ein, obwohl sein ganzes Gehabe nicht ihr gilt, verfehlt es seine Wirkung nicht.
Sie wünscht sich im Moment nichts sehnlicher, als noch mal fünfundzwanzig zu sein und auf der anderen Seite des Zaunes zu stehen, an Viviens Stelle. Sie würde Micki sofort um den Hals fallen und nichts anderes rufen als nur: Ja, ja, ich komme zu deiner Party, nichts lieber als das, und jetzt küss mich endlich.
Aber Vivien scheint gegen alle Verführungskunst immun zu sein. Sie lächelt weiterhin unverbindlich, auf ihren Besen gestützt, scheint sie seine betörenden Gesten nicht zu bemerken Sie schiebt ein wenig ihre Augenbrauen zusammen, dabei entsteht eine kleine senkrechte Falte dazwischen.
»Dann werde ich wohl die Einzige sein, die Ihnen absagt.« sagt sie leise, »ich nehme grundsätzlich keine Einladungen an.«
»Oh«, antwortet Micki und ist für eine Sekunde irritiert. Ein Nein hatte er nicht erwartet. Ein gehauchtes Ja, flatternde Augenlider, schneller Atem, fliegender Herzschlag, vielleicht sogar eine kurze Ohnmacht, aber ganz bestimmt kein so klares Nein. Sie ist die erste, die sich seinem bezaubernden Charme, seiner Ausstrahlung widersetzt, die sich widersetzen kann.
Dann hat er sich wieder gefangen und lächelt Vivien an. »Aber vielleicht werden Sie es sich noch überlegen. Es gibt genug zu Essen und Trinken. Die Kinder werden beschäftigt sein, auch für Musik ist gesorgt. Alle werden kommen, das wird ein richtiges Siedlungsfest.« Nochmals verschießt Micki seinen ganzen Charme, senkt den Kopf und blickt sie verführerisch an.
»Bitte, dabei dürfen Sie doch nicht fehlen. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie kommen würden, Vivien.« Seine Stimme ist fast nur ein Hauch.
Es ist kurz still um die kleine Gruppe, dann seufzt Vivien leicht, packt ihren Besen und murmelt eigensinnig:
»Wie ich schon sagte, ich nehme grundsätzlich keine Einladungen an, egal, von wem sie kommen.«
Mickis Lächeln wird noch eine Spur breiter.
»Darf ich mir denn erlauben, Sie erneut zu besuchen und einen weiteren Versuch wagen? Um Sie vielleicht doch noch … umzustimmen?«, fragend zieht er eine seiner perfekt geschwungenen Augenbrauen in die Höhe.
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, knurrt Vivien und dreht sich einfach um.
Sie will nur weg hier, weg von diesem affektiertem Gehabe, diese gekünstelte Nettigkeit regt sie fürchterlich auf. Nichts an dem Typen scheint echt zu sein, alles nur Schein. Fast erwartet sie, dass er jeden Moment, in einer rosa Wolke einfach verpufft.
Aber Micki will natürlich sein Gesicht wahren, somit deutet er nochmals eine kleine Verbeugung in Viviens Richtung an, bedankt sich artig und verabschiedet sich formvollendet von der überaus erstaunten Luisa.
*
Im lockeren Trab joggt er neben David, den Feldweg hinter Viviens Haus, hinunter. Micki starrt düster vor sich hin und kann das eben erst Erlebte kaum glauben.
Plötzlich fängt David an zu kichern, erst nur leise und vereinzelt, dann wird es immer mehr, immer lauter. Zum Schluss muss er anhalten, da er vor Lachen nicht mehr gerade stehen kann.
Micki betrachtet grimmig seinen Freund, der sich den Bauch vor Lachen hält. Er stemmt seine Hände in die Hüften und knurrt David an:
»Bist du jetzt bald fertig?«
Kichernd und prustend wendet sich David ihm zu.
»Das … das ich das noch erleben darf«, erneut wird er von einem Lachanfall geschüttelt.
»Deine Verführungskünste versagen einmal, daran hätte ich niemals geglaubt.«
Er kichert nur noch leise vor sich hin. Micki gibt ihm keine Antwort, er knurrt nur wütend und joggt einfach weiter den Feldweg entlang, an kleinen Baumgruppen vorbei.
David holt ihn mit Leichtigkeit ein. Eine kurze Strecke laufen sie nebeneinander her, dann bricht David das Schweigen:
»Es tut mir leid, Kumpel.«
Erneut knurrt Micki nur.
»Was glaubst du, woran das liegt?«, fragt David nachdenklich.
Sein Freund läuft schweigend neben ihm her, er gibt keine Antwort.
»He, rede gefälligst mit mir«, meint David grimmig nach einiger Zeit der Stille.
»Was glaubst du, woran das liegt?«
Statt ihm die erwartete Antwort zu geben, hält Micki abrupt an, damit hat David nicht gerechnet, er läuft noch ein paar Schritte weiter, dann stoppt auch er, dreht sich um und blickt Micki wachsam an.
»Was ist los?«
»David«, beginnt Micki langsam und runzelt dabei seine makellose Stirn.
»Es ist noch nie vorgekommen, dass eine Frau mir nicht verfallen ist, stimmt das?«
David zuckt mit den Schultern, überlegt kurz.
»Ja, soweit ich weiß.«
Micki streicht sich nachdenklich mit den Fingern über das Kinn.
»Ich kapier das alles nicht«, murmelt er vor sich hin. »Irgendwas stimmt hier nicht, mit ihr stimmt etwas nicht, David.«
»Was soll mit ihr nicht stimmen? Außer natürlich das Übliche, aber … was genau meinst du?«
Micki kaut nachdenklich an seiner Unterlippe herum, nach ein paar Sekunden murmelt er leise.
»Es war irgendwie anders als sonst. Ich… ich kann es nicht genau erklären … «, frustriert hält er inne.
»Versuchs einfach«, meint David dazwischen.
»Es war so, als schieße ich meine Blicke auf einen Spiegel ab, als kämen meine Verführungen, meine Künste wieder zu mir zurück. Als prallen sie einfach von ihr ab, ohne sie zu treffen. Es war total merkwürdig, so was habe ich noch nie mitgemacht.«
Er lacht kurz und trocken auf.
»Luisa neben mir, ist fast über mich hergefallen, aber von ihr … Nichts. Rein gar nichts.«
Micki sieht seinen langjährigen Freund fragend an.
»Was war das nur?«, fragt Micki nachdenklich, »hast du sowas schon mal erlebt?«
»Nein, zum Glück«, antwortet David, »versuche es einfach morgen noch mal, bestimmt klappt es dann besser. Vielleicht war sie heute nur schlecht aufgelegt.« Micki wirft ihm einen zweifelnden Blick zu und läuft wieder los.
Nach einiger Zeit knurrt er David zu:
»So ein Quatsch. Du weißt genau, das stimmt nicht. Es ist egal, wie die Weiber aufgelegt sind, unsere Künste treffen immer ihr Ziel. Jedenfalls normalerweise.«
Abermals runzelt er angestrengt die Stirn.
»Soll ich deinen Auftrag für dich übernehmen?«, fragt David grinsend.
»Soll ich mein Glück mit ihr versuchen? Vielleicht fährt sie ja eher auf mich ab.«
Micki wirft ihm einen wütenden Seitenblick zu.
»Untersteh dich. Es ist mein verdammter Auftrag und den werde ich auch ausführen. Sie wird mir noch verfallen, du wirst schon sehen«, schließt er grimmig und presst die Lippen aufeinander.
Das könnte dir so passen, denkt Micki wütend, dass du meinen Auftrag übernimmst, das kommt überhaupt nicht in Frage. Vivien gehört mir, sonst keinem.
Wie kann ich sie nur rumkriegen, überlegt er weiter, ich hab mich doch wirklich angestrengt, an mir kann es nicht liegen.
Ganz in Gedanken versunken muss er grinsen. Wie sie einfach Nein zu meiner Einladung gesagt hat, das war schon hart. Einen Moment wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte.
Ah, wenn sie doch nicht so klasse aussehen, und so gut riechen würde, dann wäre vieles einfacher. Und erst diese Tätowierung, diese Provokation an ihre Umwelt, das imponiert mir einfach. Sie ist schon ein echt schnuckeliges, kleines Ding.
Vor seinen Augen sieht er Viviens Gesicht und wie diese kleine senkrechte Falte zwischen ihren Augenbrauen entsteht.
Eigentlich ist sie genau mein Typ, wenn ich sie in einer Disco treffen würde, wäre ich der erste der sie anquatscht, überlegt er und grinst nur noch mehr.
Ich krieg dich schon noch, meine süße kleine Seele, spätestens in meinen Träumen.
Schweigend joggen die beiden Männer nebeneinander her, zurück in Richtung des Orangen.
*
»Wie kannst du nur«, schimpft Luisa unterdessen mit Vivien, die gerade den Besen in die Garage stellt und das kleine Häufchen Dreck zusammenkehren will.
»Wie kannst du nur so unfreundlich sein. Auch wenn du nichts von ihm willst, immerhin gehört er hier in die Siedlung, er ist dein Nachbar. Du hättest wirklich etwas freundlicher sein können, ihm wenigstens die Hand geben können, oder seinem Freund.« Luisa sieht aus, als schmollt sie, wie ein kleines Kind.
Vivien steht mitten in ihrer Einfahrt, die Kehrschaufel in der Hand und blickt zu Luisa.
Plötzlich wirft sie die Schaufel, mit einer wütenden Geste, auf den Boden, kommt auf ihre Nachbarin zu und zischt ärgerlich:
»Luisa, lass mich ein für alle Mal in Ruhe mit diesem Mist. Ich will weder einen Kerl an meiner Seite, noch in meinem Bett haben. Außerdem sollte es dir aufgefallen sein, das ich niemals irgendjemanden die Hand gebe, noch nicht einmal dir. Ich berühre keine Menschen, Niemals. Sie sind mir egal.«
Viviens dunkle Augen funkeln böse, Luisa tritt einen Schritt zurück, für einen kurzen Augenblick macht ihr Vivien Angst, mit ihrem Gefühlsausbruch. Luisa sieht auf ihre breiten Hände und murmelt:
»Ja, schon gut. Entschuldige bitte, ich dachte nur …«
»Lass mich einfach in Ruhe.« Vivien dreht sich brüsk um, nimmt ihre Schaufel wieder auf und beginnt das kleine Dreckhäufchen zusammen zukehren.
Unschlüssig bleibt Luisa noch kurz am Zaun stehen, dann dreht sie sich um und geht langsam zu ihrem eigenen Haus zurück.