Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1) - Nadja Losbohm - Страница 10
5. Kapitel
Оглавление„Heute gibt es zwar keine Frau für mich, aber dafür ein Festessen!“
Bei den Worten wirbelte ich herum und sah hinaus auf den Hof. Die Männer lachten so heftig, sodass sie sich die Bäuche hielten. Zunächst dachte ich, sie sprächen über Luc, und mir drehte sich bereits bei der Vorstellung der Magen um, sie würden ihn schlachten und verspeisen. Meine Augen suchten hastig nach dem Hengst. Sie fanden ihn schließlich etwas abseits stehend bei den anderen Pferden, auf denen die Männer auf unseren Hof geritten gekommen waren. Es ging ihm scheinbar gut. Aber wie lange noch? Würden sie wirklich so weit gehen und einen Hengst töten und essen, von dem mein Vater überzeugt war, er würde prächtige Nachkommen zeugen? Sahen sie nicht das gleiche Potenzial in diesem großen, starken und schönen Tier? Nun, sie hatten eine Frau umgebracht, die ihnen nichts getan hatte. Sie würden ihn töten und vertilgen, wenn ihnen danach war. Ich sah wieder zurück zu den Fremden und stellte mit Erstaunen fest, dass sich all das Gerede über ein Festessen auf etwas ganz anderes bezogen hatte: unsere Hühner. In den Händen zweier Männer baumelte lebloses Federvieh. Sie hatten den Hühnern an Ort und Stelle die Hälse umgedreht.
„Was für ein Glückstag, Freunde!“, rief jemand aus.
„Heute Abend haben wir ordentlich was zu beißen!“, jubelte ein anderer.
Merde! Sie plünderten unseren gesamten Hof.
Aufgeregtes Gegacker brach los. Unser aller Köpfe wandten sich weiter nach links, und wir beobachteten den Kampf zwischen einem Mann und einer Henne. Verzweifelt versuchte das Huhn sich aus den großen Pranken des Menschen zu befreien. Es hackte ihn mit seinem Schnabel in Hände und Arme, schlug mit den Flügeln und flatterte ihm ins Gesicht. „Du verdammtes Drecksvieh! Ich werde es dir schon zeigen!“, rief der Mann.
Wenige Augenblicke später gab das Huhn ein letztes Gackern von sich, als auch ihm der Hals umgedreht wurde. Ihr Gegner packte die Henne an ihren Beinen und hielt sie triumphierend hoch, sodass ein jeder seinen Preis bestaunen konnte. „So enden diejenigen, die sich widersetzen“, schrie er laut aus, schüttelte das Huhn in seiner Hand, dessen Kopf auf eine groteske Weise hin und her schlackerte, und wandte sich in sämtliche Richtungen, damit alle ihn bewundern konnten. Als er sich jedoch so herum drehte, dass er auf unser Haus sehen konnte, erstarrte er plötzlich. Langsam ließ er den Arm, mit dem er das tote Huhn hielt, sinken. Mit dem Handrücken strich er sich seine langen blonden Haare aus der Stirn. Er reckte den Hals und seine Augen verengten sich. Er fixierte mich mit seinem Blick. Dann hob er den anderen freien Arm und deutete mit dem Finger auf mich. „He! Da ist ja noch einer“, rief er. Sofort wirbelten auch seine Kumpane zu mir herum und nahmen mich ins Visier.
„Wo kommt der denn auf einmal her?“, fragte der Mann, der zuvor Luc aus dem Stall geführt hatte. Er hob eine Hand an seine Stirn und schirmte seine Augen vor der Sonne ab, um besser sehen zu können. Mit der anderen Hand schlug er den Stoff seines dunkelbraunen Umhangs zurück und bot mir freie Sicht auf eine Schwertscheide, die um seine Hüfte gegürtet war, und aus der die silbern schimmernde Parierstange und der Griff einer Waffe schauten. Die Scheide selbst war versehen mit Beschlägen aus glänzendem Silber. Doch auch etwas Goldenes schimmerte darin. Das Leder war übersät von zahlreichen weiteren kleinen Metalldekors, die wie die Sterne am Nachthimmel funkelten. Es war eine wahrlich bemerkenswerte Arbeit. So bemerkenswert, dass sie für gewöhnlich nur in den Händen der Oberschicht der Bevölkerung und in Adelskreisen zu finden und daher für jemanden wie ihn nicht erschwinglich war. Seine Freunde begannen durcheinander zu reden.
„Ich weiß nicht.“
„Merde!“
„Er muss sich im Haus versteckt haben.“ Wohl wahr.
„Er hat alles mitangesehen.“ Das stimmte nur bedingt, aber ich wusste durchaus, was sie getan hatten und taten, und auch ihnen wurde diese Tatsache bewusst.
„Er wird zu einem Problem werden.“
„Blödsinn! Wie denn?“
„Wenn es eine Frau gibt und einen Jungen, gibt es auch einen Mann. Er wird uns an ihn verpfeifen. Dann holen uns die Wachen des Herzogs, und sie hacken uns die Hände ab oder knüpfen uns auf!“, faselte einer von ihnen. Er trug braune Beinlinge, die mit schwarzen Binden umwickelt waren und somit sicher um seine Beine gehalten wurden. An den Füßen trug er schwarze aus Leder gefertigte Stiefel, die übersät waren von Staub und getrocknetem Schlamm. Seine Oberbekleidung war ein einfaches helles Leinenhemd, das ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatte. Dunkle Flecken und Schlieren zogen sich über den Stoff. Vielleicht klebte auch etwas von meiner Mutter daran? Über dem verschmutzten Hemd trug er einen dunkelgrünen wollenen Umhang. Dessen Kapuze saß locker auf des Mannes Kopf und warf Schatten auf sein Gesicht. Ich konnte es kaum erkennen. In dem dunklen Kreis, in dem ich sein Gesicht vermutete, leuchteten zwei helle Punkte auf. Waren dies seine Augen? Plötzlich trat er vor, und ich zuckte zusammen.
Er kommt und holt mich, so wie er Maman geholt hat, schoss es mir durch den Kopf. Mein Herz fing schneller an zu schlagen. Meine Hände schwitzten. Ich wich zurück ins Haus.
„Ha! Er nimmt Reißaus vor dir. Der wird uns nicht verpfeifen“, meinte einer seiner Freunde, packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. Der Mann, der mich unentwegt anzusehen schien, wehrte und wand sich unter der Hand des anderen. „Glaub mir, Henry. Von dem haben wir nichts zu befürchten. Das ist nur ein kleiner Junge. Komm jetzt. Lassen wir den Bengel mit seiner kalten, steifen Maman allein. Wir haben Besseres zu tun.“
Während mir diese Worte ins Herz schnitten, lachte Henry laut bei ihnen auf. Er schien zufrieden und entspannte sich endlich. Er wandte sich um und alles deutete darauf, dass er sich seinen Freunden anschloss, die auf den Weg zu ihren Pferden waren. Ich stieß die Luft aus, von der ich nicht bemerkt hatte, dass ich sie anhielt, und lockerte mich. Die bösen Männer würden verschwinden und uns in Ruhe lassen. Doch plötzlich fuhr Henry herum, rannte los und kam auf mich zu.
„Henry, du Idiot!“, riefen ihm seine Freunde hinterher, aber er hörte nicht auf sie. Er näherte sich dem Haus und somit mir immer mehr. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, blieb er abrupt stehen, hob die Hände und formte sie zu Krallen, wobei er einen markerschütternden Schrei von sich gab. Unwillkürlich tat ich einen weiteren Schritt zurück. Ich griff sogar nach der Tür und schlug sie zu. Eine sinnlose Tat: In ihrer Mitte klaffte ein riesiges Loch, das den Blick sowohl nach drinnen als auch nach draußen gewährte. Ich hörte wie jemand lauthals lachte, und der Sand vor dem Haus knirschte unter den Füßen von jemandem. Ich wusste, dass das nur bedeuten konnte, dass Henry auf dem Weg zu mir war. Ich zog mich weiter ins Innere des Hauses zurück, stolperte über etwas, das auf dem Boden lag, und fiel auf mein Hinterteil. Auf dem Boden sitzend, konnte ich durch die Öffnung in der Tür sehen und beobachtete Henrys Gestalt dabei, wie sie immer näher kam. Schließlich standen seine Beine direkt vor der zerstörten Tür und stoppten. „Klopf, klopf!“, rief Henry energisch und hämmerte gegen das Holz. Es war eindeutig, dass er mich mit diesem Verhalten verhöhnen wollte. Plötzlich wanderten Henrys Beine nach links, und vor dem Loch tauchte sein Gesicht auf, als er sich nach unten beugte. Endlich konnte ich ihn genauer betrachten, obwohl ich darauf gern verzichtet hätte. Seine Augen, von einem stechenden Blau, fixierten mich, während ich meinerseits die Narbe eingehend betrachtete, die sich von seiner Stirn über sein rechtes Auge über den Nasenrücken bis zu seiner Wange zog. Eine weitere Narbe verlief in einem Bogen von seinem linken Mundwinkel zum Ohr, wodurch er den Eindruck erweckte, ständig zu lächeln. Auf seine von der Sonne gebräunte Haut zeichnete der tage-, wenn nicht sogar wochenlange nicht abgewaschene Unflat bizarre Muster. Die dunklen Bartstoppeln, die um Kinn, Lippen und Wangen sprossen, verliehen seinem Äußeren einen zusätzlichen finsteren Ausdruck. Meine Augen weiteten sich beim Anblick dieser verunstalteten Kreatur. Ich quiekte – ein seltsamer Laut, der meiner Kehle unwillkürlich vor Schreck und Angst entwich und eher von einem Schwein stammte als von einem Menschen. Henry erhob sich. Dann schwang die Tür auf und der Unhold stand in seiner ganzen Pracht und Größe vor mir. „Bist ein bisschen schreckhaft, was, Kleiner?“, meinte er, schob die Kapuze von seinem Kopf und grinste. Dabei zeigte er mir zwei Reihen brauner fleckiger Zähne. In seinem Gebiss taten sich hier und da Lücken auf. Wahrscheinlich waren ihm die Zähne an diesen Stellen auf seinen zahlreichen Beutezügen ausgeschlagen worden. Sein langes und fettiges Haar reichte ihm bis zu den Schultern. Ob die dunkle Farbe natürlich war oder daher rührte, dass er sich die Haare schon längere Zeit nicht mehr gewaschen hatte, vermochte ich nicht zu sagen. Henry betrachtete mich von oben bis unten, wie ich in einer Suppe aus rohen Eiern, Milch, Buchweizenmehl und zertretenem Obst saß. Er hob ein Bein an und ich dachte, er würde zu mir kommen. Ich rutschte auf meinem Hintern weiter zurück. Der Mann vor mir lachte abermals, kam jedoch nicht näher. Stattdessen hockte er sich hin, damit wir auf Augenhöhe waren, und zeigte mit dem Finger auf mich. „Hat mein Freund Recht? Gibt es einen Mann zu ihr?“ Ein übler Geruch schlug mir aus seiner Richtung entgegen. Er roch schal und faul. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass dieser Gestank aus Henrys Mund kam. Er nickte mit dem Kopf in Richtung meiner Mutter. Ich sah zu ihr hinüber und dann wieder zu Henry. Ich blieb ihm eine Antwort schuldig. „Wenn du jemandem von uns erzählst, komme ich und hole dich. Merk dir also mein Gesicht. Hast du das verstanden, kleiner Mann?“ Ich nickte vehement, bejahte sowohl die letzte Frage als auch die Aufforderung, mir seine Visage einzuprägen. „Gut, kleiner Freund, sehr gut. Es war wirklich schön bei dir…euch Gast sein zu dürfen“, sagte er und tippte sich zum Abschied an die Stirn. Dann erhob er sich und kehrte zurück nach draußen. Er war keine fünf Schritte gegangen, da drehte ich mich zur Seite und erbrach mich. Henrys Lachen darüber und das Trommeln der Pferdehufe, als die Bande unser Land verließ, war das Letzte, das ich hörte. Dann sank ich in eine wohlige Ohnmacht.
„Sacre bleu! Was ist hier passiert?“ Mein Kopf rollte herum. Ich stöhnte leise. „Wach auf, Junge, wach auf!“ Langsam öffnete ich die Augen. Meine Sicht war getrübt, als würde ein Schleier vor meinem Gesicht hängen. Ich blinzelte ein paar Mal. Vielleicht würde es helfen, dass ich wieder klar sah. Von meiner Rechten schob sich ein großer Schatten in mein Blickfeld. Er schien über mir zu schweben. Mit einem Schlag war ich vollkommen wach und klar bei Verstand. Ich zog scharf den Atem ein, sprang auf alle viere und krabbelte so schnell ich es vermochte davon. Weg von Henry und seinen Freunden. Ich war überzeugt davon, dass sie zurückgekehrt waren und mich nun doch aus der Welt schaffen würden, damit ich sie nicht verraten konnte. „Was tust du da, du dummer Junge? Bleib gefälligst hier! Sag mir, was geschehen ist. Sofort!“ Hatte Henry denn schon vergessen, was er und die anderen getan hatten? Ich gehorchte ihm nicht, sondern krabbelte weiter ins Hintere des Hauses und bettelte die ganze Zeit, sie mögen mich verschonen. „Bitte, bitte! Ich sage niemandem etwas. Bitte, bitte. Tut mir nichts.“ Ich hatte so furchtbare Angst vor ihnen. Die Furcht schnürte meine Brust zusammen, sodass mir das Atmen schwerfiel. Sie drückte auf meine Blase und ich befürchtete, ich würde jeden Moment in die Hose machen. Eine weitere Schmach, die sich zu der des Übergebens gesellen würde. Ich hörte Henry bereits jetzt über mich lachen. „Du sollst hierbleiben, habe ich gesagt“, knurrte die Stimme hinter mir. Hände packten mich an den Schultern. Ich schrie wie am Spieß, als sie mich mühelos hochhoben und auf den Rücken drehten. Ich schloss die Augen, weil ich die grinsenden Fratzen der Männer nicht sehen wollte. Mit Händen und Füßen wehrte ich mich gegen denjenigen, der mich hielt. Ich trat und schlug um mich und schrie so laut ich konnte.
Unser Kampf dauerte einige Momente an, dann schlug mich eine Hand auf den Mund. Ich verstummte augenblicklich. Der Schmerz, verursacht durch den Schlag, trieb mir die Tränen in die Augen. Meine Zähne taten weh, und ich schmeckte Blut in meinem Mund. Ich hatte mir wohl auf die Lippe gebissen. „Hör auf damit, dich wie ein Schwachsinniger zu benehmen und sieh mich an!“, forderte man mich auf. Ich schüttelte den Kopf und sah weiterhin zur Seite. „Du sollst mich gefälligst ansehen!“ Kräftige, raue Finger umschlossen mein Kinn und drehten meinen Kopf herum. „Michael!“ Es war seltsam, meinen Namen zu hören. Ich wunderte mich so sehr darüber, woher Henry ihn kannte, dass ich endlich meinen Blick hob und in das Gesicht meines Angreifers sah. Als ich es schließlich in seiner Gänze erkannte, stockte mir der Atem. Die braun-grünen Augen, der Bart um Mund, Kinn und Wangen, die braunen Haare, die nicht so dunkel waren wie die meinen und durchzogen wurden von grauen Strähnen – ich wusste, zu wem all das gehörte.
„Papa“, hauchte ich ungläubig. Mit großen Augen betrachtete ich sein Gesicht. „Papa, bist du es wirklich?“, fragte ich. Ich fing an zu weinen. Dieses Mal jedoch vor Erleichterung. Ich war noch nie so froh darüber gewesen, ihn zu sehen wie in jenem Moment. Ich war nicht mehr allein. Ich brauchte mich nicht mehr zu fürchten. Mein Vater würde mich beschützen. Bei ihm war ich sicher. So zumindest dachte ich, aber ich wurde schnell eines Besseren belehrt. Als ich mich schluchzend an seine Brust werfen und Trost bei ihm suchen wollte, packte er mich grob an den Schultern und hielt mich auf Abstand. Verwirrt sah ich ihn an. Ich hatte gehofft, in seinem Gesicht Liebe, Fürsorge und Verständnis zu finden, doch alles, was mir dort begegnete, waren Verachtung und Wut. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wieso sah er mich an, als würde er mich hassen? Dachte er, ich hätte all das angerichtet? Ich schüttelte den Kopf, zunächst zaghaft, dann immer heftiger.
„Du teuflisches Kind!“ Mein Vater spuckte die Worte förmlich aus. „Du Dämon!“ Er begann mich heftig zu schütteln. Mein Kopf wackelte vor und zurück, sodass ich schnell Kopfweh bekam.
„Nein, Papa! Ich war es nicht. Du musst mir glauben. Ich habe nichts getan. Bitte hör auf. Du tust mir weh“, flehte ich ihn an.
Abrupt ließ er mich los, erhob sich und baute sich bedrohlich vor mir auf. Vom Boden aus sah ich zu ihm hinauf. „Du hast Recht, Junge. Du hast wirklich nichts getan“, brummte er mit seiner tiefen Stimme. So tief und kalt wie sie war, so wohlklingend, sanft und lieblich war die Stimme meiner Mutter gewesen. Wenn sie gesprochen oder gar gesungen hatte, hatte ich mich geliebt und geborgen gefühlt. Worte aus ihrem Mund waren stets wie Liebkosungen gewesen. Aus dem Mund meines Vaters klang jede ausgesprochene Silbe hart und streng. „Du hast nichts getan, um das zu verhindern, um sie“, er deutete auf meine Maman, „zu retten.“
Ich blickte zu dem Leichnam hinüber. Tränen rannen mir übers Gesicht. Ich schluchzte laut auf und ließ den Kopf hängen. Rotz und Spucke liefen mir aus Nase und Mund. „Ich war es nicht, Papa. Ich war es nicht“, sagte ich immer wieder.
„Schon von Anbeginn wusste ich, dass du nichts taugst. Du warst und bist eine einzige Enttäuschung. Ich habe die dunkle Kreatur, die in dir steckt, schon am Tag deiner Geburt bemerkt. Du konntest vielleicht deine Mutter behexen, aber ich habe dich vom ersten Blick in deine Augen an durchschaut, und wäre deine Mutter nicht gewesen, ich hätte dich schon damals im Fluss ertränkt.“
Mein Kopf schnellte hoch. Entsetzt sah ich meinen Vater an. Das konnte er doch nicht ernst meinen? Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. In mir lebte kein Dämon; ich war nicht besessen und diente nicht dem Teufel. Weder damals noch heute. Wie kam er nur auf solch eine absurde Idee? Als ich aber den blanken Hass in seinen Augen sah und die Ablehnung bemerkte, die er mit jeder Faser seines Körpers auszustrahlen schien, kam in mir der Gedanke auf, er könnte nun nachholen, was er, als ich ein Baby gewesen war, versäumt hatte zu tun: mich zu ertränken.
Schiere Panik brach über mich herein. Ich blickte mich hastig um. Wo sollte ich hin? Was sollte ich tun? Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ich legte eine Hand darauf, um es davon abzuhalten, herauszuspringen. Meine Atmung wurde schneller. Ich schnaufte, als wäre ich eben erst lange Zeit gerannt. Mir wurde heiß. Ich spürte den Schweiß auf meinem Rücken und wie er an ihm hinunterlief. Guter Gott, hilf mir, dachte ich und schloss die Augen. Ich hoffte darauf, dass Er wusste, was zu tun war, denn ich war ratlos.
„Ich habe genug“, murmelte mein Vater.
Ich schlug die Augen auf und sah ihn ängstlich an. Manch einer mag in diesen wenigen Worten nicht viel lesen können, doch ich ahnte tief in meinem Innern, was ihre Bedeutung war. Er würde es tun. Er würde es wirklich tun. Jetzt. Als sein Arm plötzlich nach vorn schnellte und seine Finger nach mir grabschten, bestätigte das nur meine Vermutung. Ich dachte nicht mehr darüber nach, was ich tun sollte. Ich handelte einfach. Geschwind wie ein Kaninchen, das durch den Wald flitzt, duckte ich mich unter der Hand meines Vaters hinweg und rannte an ihm vorbei zur Tür des Hauses. Ich drehte mich herum und verließ rückwärtsgehend mein Zuhause. Während ich schon auf der Flucht war, umklammerte die Hand meines Vaters immer noch die Luft an der Stelle, wo ich zuvor gestanden hatte. Ich mochte zwar nicht der beste Arbeiter auf dem Hof sein, dafür aber war ich flink und wendig. Als mein Vater schließlich begriff, was geschehen war, wirbelte er herum und starrte mich mit großen, wilden Augen an. Er presste die Zähne fest aufeinander. Ein Grummeln kam tief aus seiner Kehle. Es klang wie das Knurren eines wütenden Wolfes. Ich musste schleunigst von hier wegkommen. Wohin? Das war egal. Hauptsache fort von ihm. Ich wandte mich um und lief los. Die Jagd hatte begonnen.