Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1) - Nadja Losbohm - Страница 5
Prolog
ОглавлениеMein Name ist Michael Iain Ryan. Geboren wurde ich im Jahre des Herrn 982. Heute jedoch schreiben wir das Jahr 1980. Wie das möglich ist, dass ich immer noch existiere? Vor 967 Jahren hat man mich einem geheimen und schmerzvollen Ritual unterzogen, in dem ich Gott mein sterbliches Leben opferte und Er mir im Gegenzug dafür ein unsterbliches schenkte. Ich gab Ihm aber nicht nur meine Sterblichkeit, sondern auch meine Bewegungsfreiheit. Was ich damit meine? Ich bin gebunden an einen Ort: die St. Mary’s Kirche. Auf ihrem geheiligten Boden bin ich geschützt, unverwundbar. Verlasse ich sie, verliere ich diese Protektion. Und wenn ich mich für mehr als sechzig Minuten von der Kirche fernhalte, sterbe ich.
Ich habe mich an diese Situation gewöhnt. Bedenkt man die gewaltige und über das menschliche Verständnis hinausgehende Aufgabe, der ich diene, sind meine Opfer vergleichsmäßig klein. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und ich habe gelernt, mit Entbehrungen zu leben und sie zu verkraften.
Ich bin Priester und Leiter einer Gemeinde, um die ich mich kümmern muss. Diese Menschen sind besonders. Sie sind eingeweiht in das Geheimnis meiner Existenz und bewahren es.
Es gibt Verpflichtungen, denen ich nachkommen muss. Nicht nur was den Dienst als Kleriker betrifft. Ich bin auch verantwortlich für die Jäger, jenen unter uns, die auserwählt sind, die Menschen vor den Kreaturen der Nacht zu beschützen, die Untiere zu jagen und zu vernichten. Für diese Ein-Mann-Armee Gottes auf Erden bin ich Lehrer, Mentor, Seelsorger und gelegentlich sogar ein wahrer Freund. Doch auch sie geben mir viel zurück: Gesellschaft, Freundschaft, ein Stück Normalität.
Zu meinem Bedauern sind mir diese so wichtigen Dinge im Leben eines jeden durch den Tod des Jägers Richard Connelly vor Kurzem genommen worden. Nicht in der Schlacht, wie er es bevorzugt hätte, wie er mir einst verraten hatte, sondern aufgrund eines Herzinfarktes starb er. Ich bin mit dem Ableben der Menschen vertraut, vermutlich besser als jedes andere Lebewesen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Trauerfeiern ich durchgeführt habe. Ich habe dabei zusehen können, wie sich meine Gemeinde mehrfach vollständig erneuert hat. So oft war ich der letzte Mensch gewesen, den die Jäger sahen, bevor sie die Augen für immer schlossen und die Heimkehr zu ihrem Schöpfer antraten. Oft genug habe ich es aber auch erleben müssen, dass Jäger nach einer nächtlichen Patrouille nicht mehr zu mir zurückkehrten, weil sie im Kampf gefallen waren. Die Unsicherheit über ihren Verbleib war eine Qual gewesen, die erst das Aufräumkommando, bestehend aus freiwilligen Gemeindemitgliedern, das sich darum kümmerte, die Überreste der Gejagten, der Monster und Vampire, zu beseitigen, damit die unwissenden Bewohner dieser Stadt nicht über sie stolperten, beendete, nachdem es das Areal nach dem Jäger durchsucht und mir die furchtbare Nachricht übermittelt hatte. Wenn so etwas geschehen war, hatte ich mir stets die gleichen Fragen gestellt: Wäre es anders verlaufen, wenn ich den Jäger begleitet hätte? Würde er noch leben, hätte ich mich nicht an die St. Mary’s Kirche binden lassen? Schwierige Fragen, die mich an der Richtigkeit meiner Entscheidung zweifeln ließen, mit diesem Ort regelrecht eins geworden zu sein.
Doch als Richard Richard Connelly unter meinen Händen starb, war all das nicht wichtig gewesen. Denn ich war bei ihm gewesen und hatte ihn trotzdem nicht beschützen und auch nicht retten können. Ich hatte alles getan, was ich konnte. Man hatte mich gut in medizinischen Angelegenheiten ausgebildet. Nun, zumindest hatte ich es bis dato gedacht. Aber das Leben belehrte mich eines Besseren und Richard Connelly verließ diese Welt und auch mich. Obwohl bereits Wochen seit seinem Tod vergangen sind, stelle ich mir immer noch die Frage, was ich falsch gemacht habe und ob ich sonst noch etwas hätte tun können, um meinen Freund zu retten? Ich suchte deswegen Hilfe bei Gott und bat ihn, mir die Augen zu öffnen für das, was ich nicht sah. Ich musste mich tagelang gedulden, bis ich eine Antwort von Ihm erhielt und sie lautete: „Du hättest nichts tun können. Seine Zeit war abgelaufen.“ Damit hörte ich auf, mich mit Fragen nach dem Warum zu geißeln, aber ein gewisses Gefühl der Schuld nagt immer noch an mir. Doch was weit schlimmer ist als das, ist die Tatsache, dass Richard nun in den Straßen der Stadt fehlt, um des Nachts seinen Dienst zu tun. Niemand ist mehr da, um die Menschen zu beschützen vor Vampiren und Monstern, deren grüne Haut mit Pocken übersät ist und stinken wie die von Unrat verdreckten Straßen in mittelalterlichen Städten. Für die Ausgeburten der Hölle ist das Ableben des Jägers ein Grund, um zu feiern. Sie können ungestört ihr Unwesen treiben und haben nichts zu befürchten. Ich hingegen trauere und ärgere mich. Eine lange Zeit wird vergehen müssen, bis der nächste Jäger sein Schicksal erfüllt. Diese Auserwählten schlüpfen nicht einfach so aus dem Boden. Sie werden nicht so oft geboren, wie sie es vielleicht sollten. Auch darüber verspüre ich großen Unmut und fühle mich hilflos, aber es ist nichts, was ich ändern kann. Ich habe die Regeln nicht gemacht, muss sie jedoch akzeptieren und befolgen, auch wenn es mir schwerfällt. Ich habe die Jahre durchgerechnet, wie lange es dauert, bis es einen neuen Kämpfer geben wird. Es sind achtundzwanzig, die ins Land ziehen müssen. Erst dann gibt es einen neuen Auserwählten, der sich den Kreaturen der Nacht entgegenstellt.
Ehrlich gesagt habe ich bereits überlegt, mich selbst hinauszuwagen und den Kampf weiterzuführen. Vor vielen Jahren habe ich es schon einmal getan. Damals war ich selbst ein Beschützer der Menschen vor der Dunkelheit gewesen und hatte den ersten Jäger Allistair McFarlan begleitet. Gemeinsam waren wir durch die Welt gezogen, hatten die Untiere aufgespürt und sie getötet, bevor sie sich an den Menschen hatten gütlich tun können. Aber all das ist schon sehr lange her, und damals war ich noch nicht der, der ich heute bin. In jenen Tagen war ich ein Sterblicher gewesen und hatte mich frei bewegen können. Nun ist mir dies nicht mehr möglich, und selbst wenn ich es wagen würde, die Kirche zu verlassen, wie weit würde ich in sechzig Minuten schon kommen? Die Schreckgestalten halten sich nicht unbedingt direkt vor den Türen meines Zuhauses auf. Sie sind verteilt über die gesamte Stadt und diese ist groß, sehr groß.
Und somit sitze ich an dem alten Schreibtisch, dessen Holz bei jedem Aufstützen meiner Arme knarzt und ächzt und mir das Liebste in dem geräumigen Wohnzimmer ist, das nur einen kleinen Teil der gewaltigen unterirdischen Anlage ausmacht, die sich unterhalb der St. Mary’s Kirche befindet. Jahrhunderte ist es her, dass die Vorfahren meiner heutigen Gemeinde mir mein Zuhause erbauten, das tief in die Erde reicht. Mit viel Liebe haben sie mir und allen Jägern, die es seitdem gegeben hat, ein einzigartiges Heim geschaffen. Es ist ein Wunderwerk, gegraben in Stein, gestützt durch mächtige Pfeiler. Die Ausmaße des Ganzen sind gigantisch! Die Räumlichkeiten ebenso bemerkenswert wie nützlich: eine Küche, zwei Schlafzimmer mit Bad, ein medizinischer Raum, um Verletzungen zu versorgen, ein Labor samt Werkstatt, in der ich Pfeile und Silberkugeln für die Jagd herstellen kann, ein Trainingsraum sowie ein Wohnzimmer mit einem atemberaubenden Deckenfresko und einer der größten Bibelsammlungen, die es auf der Welt gibt. Doch nichts von all dem kann es mit der Herrlichkeit der Bibliothek aufnehmen, die hier ebenfalls angelegt wurde. Ihre Gänge sind mehrere hundert Meter lang. Das Ende der Regalreihen ist somit von ihrem Eingang nicht auszumachen. In der Gesellschaft von so vielen Werken des geschriebenen Wortes konnte ich mühelos Stunden, ach was, Tage verbringen. Mit seinen schwarzen Dielenbrettern, dem dunkelroten Teppich, dem warmen Licht und den gemütlichen, weichen Sesseln lädt dieses Zimmer zum Verweilen ein.
Doch der Komfort, den ich genießen darf und für den ich dankbar bin, kann mir nicht helfen, meine Einsamkeit zu überwinden. Ich habe niemanden zum Reden, niemanden, mit dem ich meine Gedanken teilen kann. Nur das Papier vor mir ist greifbar für mich, und somit entschließe ich mich dazu, mein Leben aufzuschreiben. Zum einen für mich selbst, um mich zu beschäftigen, und zum anderen für einen möglichen Finder, in dessen Hände diese Zeilen vielleicht eines Tages geraten. Ich hoffe, Sie haben Zeit, viel Zeit. Sowohl mir als auch Ihnen steht eine gewaltige Aufgabe bevor, denn ich bin beinahe eintausend Jahre alt.