Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1) - Nadja Losbohm - Страница 8
3. Kapitel
ОглавлениеEs war ein wildes Durcheinander, das über mir herrschte. Meine Mutter schrie. Ich hörte dumpfe Geräusche und weiteres Rufen. Dieses Mal jedoch war es eine männliche Stimme, die sich vor Schmerz erhob. „Merde! Sie hat mich gebissen.“ Vor Stolz darüber, dass sie sich wehrte, wollte ich in Jubel ausbrechen, riss mich aber zusammen und dachte lächelnd: Gut gemacht, Maman! Doch die Strafe für ihre Tat folgte umgehend. Ein Klatschen ertönte, das mich sofort an die Ohrfeigen erinnerte, die mir mein Vater verpasst hatte. Dieses Geräusch und auch das Gefühl vergisst man nie. Meine Mutter schrie, dann rumpelte es laut. Die Bodenbretter vibrierten und Sand und Staub rieselten zu mir herunter. Man hatte sie offenbar so hart geschlagen, dass sie von der Kraft der Hand, die sie getroffen hatte, von den Füßen gerissen worden war. Ihr Aufprall verursachte einen solchen Krach, ich glaubte, die Bretter würden jeden Moment bersten und mein Versteck preisgeben. Um nicht laut nach ihr zu rufen und sie zu fragen, ob es ihr gut ging, musste ich mir die Hand auf den Mund pressen. Das höhnische Lachen der Fremden drang an meine Ohren.
„Seht sie euch an! Kraucht auf allen vieren über den Boden und glaubt immer noch daran, sie könne uns entkommen“, grölte einer von ihnen. Es war eine andere Stimme, die ich zuvor noch nicht gehört hatte. Aber durch wie viele Männer wurde meine Mutter bedroht? Ob es auch Frauen unter den Unholden gab?
Eine neue, eine dritte Stimme sprach. „Vielleicht hat sie es auch gern, unten zu sein? Wenn ihr versteht, was ich meine.“
Damals verstand ich es nicht. Heute weiß ich, was seine Worte zu bedeuten hatten, und sie widern mich an! Den Schurken hingegen gefielen sie. Sie schienen dadurch sogar angespornt zu werden, in ihrem Tun fortzufahren. Ihr Lachen wurde lauter; sie gaben seltsame Laute von sich, grunzten und stöhnten. Irgendwann wurde es ihnen jedoch langweilig. Der Mann, dessen Stimme ich zuerst gehört hatte, rief: „Genug! Ich habe dieses Spiel satt. Lasst uns endlich zur Sache kommen!“
Schritte, von denen ich vermutete, dass sie zu ihm gehörten, polterten über mich hinweg. Meine Mutter schrie laut auf. Ich hörte das unverkennbare Geräusch von Schlägen in ein Gesicht. Der Krach schwoll an. Ich glaube, meine Mutter und dieser Widerling rauften heftig miteinander. Seine Freunde jubelten und feuerten ihn an, während ich in meinem Loch hockte. Hilflos und mit Tränen überströmtem Gesicht starrte ich hinauf zu den Brettern, die mich von der Szene oben trennten. Als ich meine Mutter kämpfen hörte und erkannte, wie tapfer sie sich wehrte, begann ich über mein Versprechen nachzudenken. Meine Mutter hatte mir beigebracht, dass man seine Versprechen einhalten muss. Wenn man es nicht tut, wäre man unzuverlässig und ein Lügner dazu. Ich wollte weder das eine noch das andere sein. Aber ist es richtig, an einem Versprechen festzuhalten, wenn jemand, den man liebt, in Gefahr ist? Ist es dann noch wichtig, ob man dadurch zum Lügner wird? Ist man nicht auch zuverlässig, wenn man auf denjenigen Acht gibt, der einen die Welt bedeutet? Und was war mit der Rede meines Vaters vor seiner Abreise? Hatte er mir nicht gesagt, ich sei nun der Mann im Haus?
Als ich schließlich zu einem Entschluss gelangt war, was ich tun und wer ich sein wollte, war es bereits zu spät. Der Kampf in unserem Haus war vorüber. Ruhe war wieder eingekehrt.
„Hat man dir nicht beigebracht, wie man es richtig macht? Du Trottel! Du hättest einen ordentlichen Spaß mit ihr gehabt. Wir alle hätten das!“, sagte eine mir unbekannte Stimme. Ein vierter Mann!
„Ich habe sie nur etwas geschüttelt, mehr nicht“, verteidigte sich der Erste.
„Etwas geschüttelt? Deine Hände um ihren Hals zu legen und zuzudrücken, bis sie sich nicht mehr rührt, nennst du also etwas geschüttelt? Du bist noch kränker, als ich gedacht habe“, sagte die Stimme, die ich als zweites vernommen hatte und mir beschrieb, was soeben geschehen war: Meine Mutter war tot, ermordet von diesen Kretins!
Wie versteinert kauerte ich in dem Loch und starrte vor mich hin. Ich blinzelte nicht, rührte mich nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich in jenen Momenten überhaupt atmete. Meine Maman war tot. Nie wieder würde ich ihr Lächeln sehen, nie wieder ihre Stimme hören, die auf so besondere, zärtliche Weise meinen Namen aussprechen konnte, dass ich mich liebkost von ihr fühlte, beinahe so, als würden ihre Hände mich berühren. Nie wieder würden wir uns im Bach gegenseitig mit Wasser bespritzen, umherspringen und uns drehen, lachen und singen, wenn wir für uns waren. Nie wieder würde sie mich trösten und sich um mich kümmern, wenn es mir elend ging.
Ein verzweifelter Schluchzer kroch meine Kehle hinauf. Doch dann hörte ich die widerlichen Kerle in unserem Haus reden. Sie waren immer noch da. Ich biss die Zähne fest aufeinander und presste die Lippen zusammen, damit meine Trauer nicht aus mir entwich. Ich lauschte den Stimmen, die über mir sprachen.
„Sie war sowieso ein hässlicher Bauerntrampel.“
„Wahrscheinlich hättest du gar keinen hochgekriegt. Du hast ja ohnehin Probleme damit.“
„Du dreckiger Lügner! Du wirst schon sehen, ob oder ob nicht ich ihn hochkriege, wenn ich mich heute Nacht neben dich lege!“
Ich wusste nicht, was dieses Gerede sollte. Jahre mussten vergehen, bis ich selbst in der Welt umherstreifte und aus nächster Nähe Gewalt und Unrecht mit ansah und lernte, was sie meiner Mutter hatten antun wollen. Doch ich greife der Erzählung abermals zuvor.
Damals verstand ich vielleicht nicht jedes Wort, das sie von sich gaben. Was ich aber wohl verstand, war hässlich, und für mich war dies eine monumentale Beleidigung! Nicht nur, dass sie sich an ihr vergriffen hatten. Nun zogen sie auch noch über sie her! Hässlich? Meine Mutter? Sie war ein leuchtender Engel, eine strahlende Göttin. Dieser Affront machte mich unfassbar wütend, sodass ich am ganzen Leib zitterte. Ich hatte das Gefühl, das ganze Haus zum Beben zu bringen, und ich befürchtete, jeden Augenblick zu platzen. Mein Zorn pulsierte in meinen Ohren und ließ mich fast die sich entfernenden Stimmen überhören. Als ich es schließlich bemerkte, mahnte ich mich zur Konzentration und versuchte, nur auf die Männer zu achten, die redend und lachend immer mehr Abstand zwischen sich und das Haus brachten. Ich hörte weitere Beleidigungen heraus, die sich auf meine Maman bezogen, auf ihre einfache Kleidung und ihr langes braunes Haar, das allem Anschein nach bei ihrem Kampf gegen ihre Angreifer durcheinander geraten war. Eine neue Welle des Zorns überkam mich. Sie brannte unter meiner Haut; mir wurde unendlich heiß davon. Das Gefühl schwoll weiter an. Das Wenige, das ich in dem dunklen Versteck sehen konnte, begann zu flimmern wie die Luft über einem Feuer, mit dem Unterschied, dass ich dieses Feuer war. Feuer kann man mit Wasser löschen; man kann es mit Sand und Erde ersticken. Aber was man mit Feuer nicht tun kann, ist, es einzusperren.
Mit meinen Händen und Schultern und meinem Kopf stemmte ich mich gegen die Bretter über mir. Ich drückte so fest ich konnte. Es knackte und knirschte. Ob es das Holz war, das protestierte, oder meine Knochen, vermochte ich nicht mit Gewissheit zu sagen. Ich ließ mich davon nicht aufhalten, sondern drückte nur noch stärker dagegen. Woher die Kraft kam, mit der ich mich aus dem Loch befreite, weiß ich nicht.
***
Heutzutage weiß man, dass der Körper in Stresssituationen, bei Angst und Verzweiflung und Wut Adrenalin in Massen ausschüttet, was dazu führen kann, dass man übermenschliche Kräfte entwickelt. Vielleicht war es bei mir damals dasselbe.
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Was auch immer es war, das mir half - die Bretter gaben nach. Sie barsten und das Feuer war frei.