Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1) - Nadja Losbohm - Страница 9

4. Kapitel

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Ich zwängte mich durch die schmale Öffnung, kletterte aus dem Loch und stellte fest, dass meine Mutter den Tisch, an dem wir gemeinsam gegessen, gelacht und geredet hatten, zur Tarnung meines Verstecks wieder darüber gestellt hatte. Auf allen vieren krabbelte ich unter dem Möbelstück hervor. Meine Hände fassten dabei in zerbrochene Eier, deren Inhalt sich zähfließend über den Boden verteilte und mit der Milch vermischte, die wir am Morgen beim Melken gewonnen hatten. Ich spürte die Scherben von zerschlagenen Krügen und Schalen unter meinen Handinnenflächen. Sie stachen mir ins Fleisch und rissen meine Haut auf. Der Schmerz war groß, doch das Feuer in mir brannte heißer und überlagerte ihn. Mit jedem Aufstützen meiner Hände und Knie gelangte ich weiter vorwärts, kroch durch zertretene Quitten und Äpfel. Meine Haut und Kleider waren über und über von allem Möglichen verschmutzt. Es tat mir furchtbar leid. Meine Maman hatte diese Sachen schließlich geschaffen, sowohl die Hose und das Hemd als auch mich selbst. Doch ich konnte nichts dafür. Was sollte ich machen? Flüssiges, Matschiges und Zerquetschtes lag überall vor, neben und hinter mir. Vergib mir, Maman, dachte ich, als ich endlich aufstehen konnte und mir die Hände an einer trockenen Stelle meiner Hose abwischte. Die Bewegung tat weh. Ich zog scharf den Atem ein und verzog das Gesicht. Ich besah mir die Innenflächen meiner Hände. Etliche Splitter von Eierschalen steckten in ihnen wie kleine weiße Nadeln. Ich zog sie flink heraus und ließ sie zu Boden fallen. Als ich mich von ihnen befreit hatte, leuchteten rote Löcher, Schnitte und Kratzer in meiner Haut auf. Die Verletzungen zogen sich über die gesamte Länge und Breite und reichten bis zu meinen Handgelenken hinunter. Meine Maman wüsste sicher, was zu tun wäre, schoss es mir durch den Kopf. Bei dem Gedanken an sie erstarrte ich. „Maman“, hauchte ich und drehte mich langsam um. Meine Augen wanderten über das Chaos in unserem Haus: umgestoßene Stühle, zerrissenes Bettzeug, zertrampeltes Gemüse und Maman, die auf dem Boden lag. „Maman?“, fragte ich und wartete einen Moment, um ihr etwas Zeit zu geben, auf mich zu reagieren. Mein Herz konnte und wollte es nicht glauben, dass sie tot war. Als sie sich auf mein Rufen hin nicht rührte, tat ich einen Schritt auf sie zu und dann noch einen und noch einen. Als ich neben ihr stand, sank ich auf die Knie. Unsicher betrachtete ich sie von oben bis unten. Ihr Kleid war an ihren Beinen nach oben gerutscht. Ich zog den Stoff wieder herunter, weil ich dachte, sie würde frieren. Dies war nur eine kleine Geste, die ich für sie tun konnte, ebenso wie das Zurücklegen ihrer Haare, die ihr über das Gesicht gefallen waren. Doch für den oberen Bereich ihres Kleides konnte ich nichts tun. Der Stoff war, genau wie der des Unterkleides, zerrissen. Ich versuchte die Fetzen wenigstens ein bisschen zu ordnen und sie damit zu bedecken, aber es war zwecklos, und somit ließ ich von dieser Aufgabe ab. Von dem Kleid wanderten meine Blicke zu ihrem Hals. Auf ihrer olivfarbenen Haut waren dunkle Male zu sehen. Für jemanden, der meine Mutter nicht kannte, wären sie nicht erkennbar gewesen. Ich jedoch konnte sie problemlos ausmachen und wusste, dass sie dort nicht hingehörten. Ich streckte meine Hand nach ihrem Hals aus, um die Male zu berühren. Ich weiß nicht mehr, wieso ich es tat. Vielleicht dachte ich, sie würden meiner Mutter Schmerzen bereiten und ich könnte es mit einer sanften Berührung besser für sie machen? Vielleicht hielt ein Teil von mir die Male auch für Schmutz und ich wollte ihn wegwischen? Bevor meine zittrigen Finger ihre Haut berühren konnten, schlugen sie allerdings eine andere Richtung ein und legten sich auf ihre Schulter. Vorsichtig rüttelte ich sie. „Maman“, flüsterte ich. Keine Reaktion. „Maman, bitte wach auf“, bat ich sie und beobachtete ihr Gesicht. Ich wollte ein Zwinkern ihrer Augen, ein Zucken ihres Mundwinkels nicht verpassen. Doch da war nichts. Ihre Augen starrten ins Leere, ihr Mund stand offen und ihre Lippen waren trocken und bleich. „Bist du böse auf mich, Maman, weil ich mein Versprechen nicht gehalten habe?“, fragte ich sie. „Es tut mir leid, aber ich konnte nicht dort unten bleiben. Vergib mir bitte, Maman. Ab jetzt werde ich immer alles tun, was du möchtest. Aber du musst jetzt aufwachen. Bitte Maman!“ Mein Kinn fing an zu beben. Meine Unterlippe schob sich vor und Tränen verschleierten meine Sicht. Ich rüttelte sie stärker an der Schulter. „Maman, bitte! Ich bin es. Dein Stern“, sagte ich. Vielleicht tat sie nur als ob, genau wie ich es oft getan hatte, weil sie Angst davor hatte, sich zu rühren, weil sie meine Stimme nicht erkannte und dachte, die bösen Männer seien zurück. Doch der Hinweis, dass ich es war, der an ihrer Seite kniete, half nicht. Maman war fort. Sie hatte mich verlassen.

Ich warf mich auf sie und weinte über ihrem Leichnam. Immer wieder presste ich das Wort Maman zwischen heftigen Schluchzern hervor. Meine Hände krallten sich an ihr fest, als könnten sie ihren Geist auf diese Weise daran hindern, fortzugehen. Man hatte mir beigebracht, dass, wenn ein Mensch stirbt, sein Geist, sein Wesen, alles, was ihn ausgemacht hat, den Körper verlässt, um zu seinem Schöpfer zurückzukehren. Aber was wollte Gott mit meiner Mutter? Ich brauchte sie doch viel dringender! Sein Verlangen, sie bei sich zu haben, muss wohl sehr stark gewesen sein. Ich verstand Ihn sehr gut. Es war für mich nachvollziehbar, dass Er gern die Gesellschaft von solch einer guten und wunderbaren Seele genießen wollte, und wenn Gott etwas wollte, dann gab man es Ihm auch. Man gehorchte Ihm. Aus Ehrfurcht. Aus Liebe. Und weil es richtig war. Ich muss sie loslassen, dachte ich, aber es fiel mir schwer, so schwer.

Es ist Zeit, hörte ich eine Stimme flüstern.

Ich schreckte hoch. Mein Herz raste. Mit großen Augen sah ich mich um, konnte jedoch niemanden entdecken. Langsam drehte ich mich wieder zu meiner Mutter. Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Augen und trocknete die Tränen. „Maman, warst du das?“, fragte ich sie. Natürlich antwortete sie mir nicht, und in meinem Innern kannte ich die Antwort auf diese Frage bereits. Die Stimme hatte so viel anders geklungen und war viel zu tief gewesen. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Die Haare auf meinen Armen stellten sich auf, und ich bekam eine Gänsehaut. Ich legte meinen Kopf zurück und sah nach oben. „Gott, warst Du es, der gesprochen hat?“, fragte ich und wartete still auf Seine Antwort. Ein seltsamer Windhauch streifte mich und fuhr durch mein Haar. Es fühlte sich genauso an, wie in jenen Momenten, wenn meine Mutter mir mit ihrer Hand die dunklen Strähnen zerwühlt hatte. „Gott sieht und weiß alles“, hatte meine Maman mir einst gesagt. Somit hatte Er solche Augenblicke mitangesehen und wusste, wie sehr ich es gemocht hatte, wenn sie es tat, und welche Gefühle es in mir ausgelöst hatte, und nun hatte Er mir diesen Moment geschenkt, der mich mit eben diesen Emotionen überschüttete: Frieden, Geborgenheit und das Gefühl von Heimat. Ich seufzte und lächelte. Ich hatte Trost gefunden. Zumindest für diesen Augenblick. Zumindest ein klein wenig.

Als von draußen laute Geräusche zu mir ins Haus drangen, fuhr ich erschrocken zusammen. Auf meinem Hosenboden rutschte ich herum und starrte zwischen den Tischbeinen hindurch zur Haustür. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie weit offen stand und das Holz geborsten war.

***

Damals konnte ich mir darauf keinen Reim machen. Heute weiß ich, dass die Beschädigung an der Tür durch Gewalteinwirkung zustande gekommen war. Die Männer, die meine Mutter getötet hatten, mussten die Tür eingetreten und sich so Zugang zum Haus verschafft haben.

***

Ich sprang hoch und lief zur Tür, was vermutlich nicht gerade eine weise Entscheidung war, und ich kann mich nicht daran erinnern, was mich dazu trieb. Ich weiß nur, dass ich unser Pferd, das letzte, das mein Vater zurückgelassen hatte, wiehern hörte und die Unholde wild durcheinander riefen. Was gesagt wurde, war so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Jemand versuchte das Pferd zu besänftigen. Ein anderer verfluchte es, weil es so störrisch war. Ich lächelte wegen dem, was sich im Stall abspielte, und eine unglaubliche Zufriedenheit und Stolz stellten sich bei mir ein. Ich freute mich darüber, dass der Hengst diesen Kerlen, die Leid über uns gebracht hatten, das Leben schwer machte und ihnen nicht einfach Folge leistete. Das war sein Wesen, sein Charakter. Er war vom ersten Tag an, seitdem mein Vater ihn nach Hause gebracht hatte, ein schwieriges Tier gewesen. Meine Mutter hatte nie verstanden, wieso er ausgerechnet dieses hatte kaufen müssen. Während sie der Ansicht gewesen war, das Pferd sei geradewegs durch die Höllenpforten auf die Erde galoppiert, war mein Vater der Meinung gewesen, es sei das beste Tier, das er je gesehen und besessen hatte und das sicher starke Nachkommen zeugen würde, die wir weiterverkaufen könnten. Ein weiterer Faktor, der nicht ganz unwichtig war, war der, dass der Hengst, den ich heimlich, da mein Vater nicht wollte, dass ich eine zu enge und persönliche Bindung zu unseren Tieren aufbaute, Luc genannt hatte, nicht viel gekostet hatte. Man hatte ihn meinem Vater praktisch geschenkt. Ein Wunder ist dies sicherlich nicht. Der frühere Besitzer wollte das Temperamentsbündel wohl einfach nur loswerden, um nicht noch mehr Scherereien damit zu haben. Ich fand jedenfalls, dass dieses Pferd und mein Vater hervorragend zusammenpassten. Sie waren beide unfreundlich, und der Umgang mit ihnen war nicht leicht. Aber noch nie hatte ich mich so sehr darüber gefreut, dass Luc angriffslustig war, wie in jenem Moment. Ich hörte es poltern und sah die Wände des Stalls wackeln, als er mit seinen Hufen dagegentrat. Die Männer schrien, was nicht wirklich dazu beitrug, den Hengst zu beruhigen. Je länger ich zuhörte, desto garstiger wurden meine Gedanken. Hoffentlich verletzt du sie und tust ihnen so richtig weh, Luc, schoss es mir mehr als einmal durch den Kopf, wobei Bilder vor meinem inneren Auge entstanden, die mir sich auf dem Boden windende, heulende Männer zeigten. Der Kampf mit dem Hengst hielt noch einige Momente an, doch dann kam Jubelgeschrei auf. Das Lächeln auf meinem Gesicht erstarb. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war da los? Des Rätsels Lösung folgte prompt. Der große schwarze Hengst, um dessen Hals ein dickes Seil lag, wurde von einem der Männer aus dem Stall geführt. Das Tier tänzelte aufgeregt, ließ sich aber ohne weiteren großen Widerstand hinaus ins Freie führen. Fassungslos und auch enttäuscht über sein Aufgeben betrachtete ich das kräftige Pferd, dessen Fell in der Sonne glänzte.

„Warum gibst du dich geschlagen?“, fragte ich leise. Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg. Ich fühlte mich von Luc verraten. Ich hatte gedacht, er wäre auf meiner Seite und würde für mich das tun, was ich nicht tun konnte: den Männern die Stirn bieten. Aber nun resignierte er? Es wäre wahrlich besser gewesen, ihm keinen Namen zu geben, dachte ich grimmig, auch wenn es mir nicht gefiel, dass ich damit meinem Vater Recht zusprach. Und plötzlich verstand ich auch meine Mutter, die gemeint hatte, dieses Pferd sei der Unterwelt entstiegen.

Der Hengst wieherte, stellte sich auf die Hinterbeine und bäumte sich auf.

„Pass auf!“, rief einer der Männer zu dem, der das Seil in der Hand hielt. Dieser trat schnell zurück. Es war gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick knallten die Vorderhufe Lucs genau auf die Stelle des Bodens, an der der Mann zuvor gestanden hatte. Einen Moment später und er wäre zertrampelt worden. Das Gefühl, dass das Tier meinen Unmut über es gespürt hatte und mir mit diesem letzten Akt des Widerstandes zeigen wollte, dass es durchaus auf meiner Seite war, ließ mich nicht los. Allerdings hatte es eingesehen, dass es keinen Zweck hatte, sich gegen so viele Gegner zu wehren. Es wusste, dass die Schlacht verloren war. Ich musste mich der Tatsache ebenso stellen, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte. Aber was konnte ich tun? Ich war ein Kind. Ich hatte nur wenig Ahnung von Waffen, wusste lediglich ein paar Grundbegriffe, aber nicht, wie man Dolche oder gar Schwerter benutzte und schon gar nicht, wie man sich selbst verteidigte. Und wenn es meiner Mutter, dem stärksten Menschen, den ich kannte, schon nicht gelungen war, ihnen standzuhalten, wie sollte es dann mir gelingen?

Ich wandte mich zu ihr um. Der Tisch stand im Weg, und ich konnte nur ihre Beine und Füße sehen, nicht aber ihr Gesicht. „Wir haben verloren, Maman“, sagte ich leise.

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1)

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