Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1) - Nadja Losbohm - Страница 13
8. Kapitel
Оглавление„Du bist wahrlich von allen guten Geistern verlassen“, sprach eine Stimme hinter mir. Bevor ich begriff, was mein Vater sagte, legte sich eine Hand um meinen Oberarm und zerrte mich mit sich. „Was hattest du vor? Wolltest du dich selbst in die Flammen stürzen? Dachtest du, nur so könntest du mir entkommen?“, wollte er wissen. Er beschoss mich geradezu mit seinen Fragen, eine wahnwitziger als die andere. Als ich ihm nicht schnell genug antwortete, blieb er stehen, hielt mich mit beiden Händen an den Schultern fest und schüttelte mich kräftig. „Sag schon, Junge! Welchen teuflischen Plan hattest du im Sinn? Antworte mir!“, schrie er mich an.
„Ich wollte Maman noch ein letztes Mal sehen“, rief ich aus.
Mein Vater ließ mich abrupt los und sah mich verständnislos an. Ich nahm an, meine Antwort würde für ihn verständlich und ihm eine Art Trost sein, ihm aufzeigen, dass auch ich einen geliebten Menschen verloren hatte und nicht nur er. Doch mein Vater war wie in einem Rausch. Er hatte sich in seinen Vorstellungen verrannt, ich sei ein Dämon, vielleicht sogar der Leibhaftige selbst.
„Du wolltest dir dein grausames Werk noch einmal besehen, dich daran weiden und ergötzen an ihrem brennenden Leib“, faselte er und nickte. Er war sich seiner Meinung sicher und diese war unumstößlich.
Ich schüttelte den Kopf, womit ich zum Ausdruck bringen wollte, dass seine Aussage falsch war, aber auch erkennen lassen wollte, dass ich nicht verstehen konnte, wie er diesen Hirngespinsten mehr Glauben schenkte als der Wahrheit über den Überfall. Wie will man einem Wahnsinnigen begreifbar machen, dass er wahnsinnig ist, wie ihm verdeutlichen, dass er sich alles nur einbildet? Es geht nicht. Man lässt ihn in der verqueren Welt, die er sich geschaffen hat. In solch einem Fall sind Erklärungen und Umstimmungsversuche sinnlos, eine Zeitverschwendung. Ich konnte meinen Vater nicht vom Gegenteil überzeugen. Er hatte sich entschieden zu glauben, was er glauben wollte. Der Richterspruch war gefallen.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, dir Einhalt zu gebieten“, murmelte mein Vater, dann schnappte er sich meinen Arm.
„Wo bringst du mich hin?“, fragte ich ihn, als er mich hinter sich herzog. Er lief schnell und ich gab mir alle Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Ich stolperte über meine eigenen Füße, geriet ins Straucheln und fiel hin. Mein Vater zerrte an mir und riss mir bei dem Versuch, mich wieder aufzurichten, beinahe den Arm aus.
„Steh auf! Beeil dich! Je eher du weggesperrt wirst, desto besser ist es für die Menschheit“, sagte er. Mit beiden Händen hob er mich hoch und stellte mich auf die Füße, nur um mich dann erneut durch die Gegend zu schleifen.
Wegsperren? Hatte ich das richtig verstanden? Wo und bei wem? „Wo bringst du mich hin, Papa?“, wollte ich von ihm wissen, erhielt jedoch keine Antwort. Ich wehrte mich gegen seinen harten Griff, machte mich schwer und versuchte, ihn auf diese Weise aufzuhalten, bis er mir meine Frage beantwortete. Ich konnte stur sein, aber mein Vater konnte sturer sein. Er hatte genug von meinen Sperenzien. Er ließ meinen Arm los, wirbelte zu mir herum und verpasste mir eine schallende Ohrfeige, die mir den Boden unter den Füßen wegzog. Ich schlug heftig auf die ausgetrocknete harte Erde auf und blieb fassungslos dort liegen. Ich schmeckte Blut in meinem Mund und spuckte es aus. Ich musste mir wohl bei dem Schlag auf die Zunge oder Wange gebissen haben. Mein Hintern tat weh von dem Aufprall und meine Hände und Arme schmerzten, weil ich mit ihnen meinen Sturz abgefangen hatte. In meinem Kopf hämmerte es, und eine vertraute Übelkeit stieg in mir auf.
***
Wenn jemand am Boden liegt, sollte man nicht noch einmal nachtreten. Diese Lektion brachte man mir Jahre später bei. Meinem Vater allerdings war sie vollkommen fremd, denn er trat nach.
***
Er stellte sich über mich und schlug mir nochmals ins Gesicht. Wieder und wieder traf seine Hand auf meine Wangen und ließ meinen Kopf von einer Seite auf die andere rollen. Ich weiß nicht, wie viele Ohrfeigen es letzten Endes waren oder wie viel Zeit verging. Aber ich erinnere mich daran, wie dankbar ich war, als ich schließlich in eine Ohnmacht fiel.
Das stete Holpern rüttelte mich durch und weckte mich schließlich. Hinzu kam ein ohrenbetäubender Krach, verursacht von Rädern, die über unebenen Boden rollten. Ich schlug die Augen auf und fand vor mir nur ein paar Holzbretter. Splitter ragten aus ihnen heraus und rostige Nägel boten eine zuverlässige Quelle für Verletzungen und Krankheiten. Dieses Gefährt hatte definitiv schon bessere Zeiten gesehen, aber es war mir durchaus vertraut. Es war unser Wagen. Der Wagen, mit dem mein Vater meine Mutter und mich hin und wieder zum Markt mitgenommen hatte, um Wolle zu verkaufen oder auch um verschiedene Waren zu erwerben. Ja, wir hatten sogar schon eines unserer Schweine damit transportiert, als es nach dem Kauf von einem Bauern erkrankt war und wir es zu ihm zurückbringen wollten, um Ersatz zu verlangen. Wir fanden den Bauern damals nicht, und das Schwein starb noch während wir die Gegend nach seinem früheren Besitzer absuchten.
Ich hob den Kopf an und schaute über die Bretter hinweg. Die Welt zog an mir vorüber. Dichte Wälder umgaben mich von allen Seiten und ein ockerfarbener staubiger Weg, auf dem der Wagen dahinkroch, schlängelte sich zwischen den Bäumen entlang wie ein riesiger Wurm. Ein kalter Wind fegte über mich und brachte mich zum Frösteln. Ich sah hinauf zum Himmel. Er war mit dicken grauen Wolken verhangen, die sich rasch vorwärtsbewegten. Es fängt sicher jeden Moment an zu regnen, dachte ich, da fiel mir auch schon ein erster Tropfen mitten auf die Stirn. Bald darauf folgten weitere. Ich hörte Donnergrollen und ein greller Blitz durchschnitt die Wolkendecke. Es kam mir vor, als hätte er die Schleusen des Himmels geöffnet, denn nun begann es sintflutartig zu regnen. Nur wenige Momente vergingen und ich war bis auf die Knochen durchnässt.
„Merde!“
Bei dem Fluch wirbelte ich herum und sah meinen Vater auf dem Bock sitzen. Ich hatte völlig vergessen, dass sich der Wagen unmöglich allein lenken konnte. Sein Anblick, wie er dort vorne kauerte und angestrengt versuchte, die Pferde weiterhin dazu zu bringen, seiner Führung zu folgen, brachte meinen Verstand schlagartig dazu zu arbeiten. Fragen stürmten auf mich ein: Was war passiert? Wie viel Zeit war vergangen? Wie war ich auf den Wagen gekommen? Wo waren wir, und wo fuhren wir hin? Ich kam auf meine Knie und rutschte auf ihnen über die Ladefläche des Wagens nach vorn zum Bock. Dort angekommen hielt ich mich an seiner kurzen Rückenlehnen fest. „Papa, wo sind wir?“, fragte ich. Ich musste schreien, damit er mich über das Unwetter hinweg hörte.
Mein Vater sah über seine Schulter zu mir nach hinten. Seine Haare klebten ihm vom Regen am Kopf. Das Wasser rann ihm über das Gesicht. Emotionslos betrachtete er mich. Dann sah er wieder nach vorn. „Aha. Du bist also wieder wach. Ich dachte schon, es wäre vorbei mit dir“, meinte er und schlug mit den Zügeln auf die Pferde ein. Schwang da etwa so etwas wie Besorgnis in seiner Stimme mit? Meine Ohren spielten mir sicher einen Streich.
„Was kümmert es dich, ob es mit mir vorbei ist oder nicht?“, murmelte ich. Ich setzte darauf, dass der Sturm laut genug war, um mich zu übertönen. Aber wie so oft in solchen Momenten, arbeiteten die Ohren desjenigen, auf den die Worte abgezielt hatten, besser als jemals zuvor. Mein Vater hatte mich gehört. Abrupt stoppte er unsere Fahrt und drehte sich zu mir herum. Langsam lehnte er sich zu mir herunter. Er wirkte bedrohlich und einschüchternd. Er machte mir Angst, und ich wich vor ihm zurück. „Ich sehe ein, dass mein Bemühen bei dir nutzlos ist. Aber warte nur ab. Bald wirst du an einen Ort gesperrt, wo man weiß, wie man mit dir umzugehen hat. Du denkst, du müsstest dich vor dem fürchten, was du kennst? Ha! Du solltest vielmehr Angst vor dem Unbekannten haben“, sagte er.
Meine Augen weiteten sich vor Schreck über seinen Rat. „Wo bringst du mich hin?“ Meine Frage war nur ein Hauchen, das vom Sturm davongetragen wurde wie ein Blatt und auf das mir mein Vater eine Antwort verweigerte. Er wandte mir den Rücken zu und nahm die Zügel in die Hand. Mit einem lauten Schrei und einem Hieb mit den Lederriemen trieb er die Pferde dazu an, uns weiterzuziehen. Der Wagen machte einen so plötzlichen Sprung nach vorn, dass ich umfiel und auf der Ladefläche zu liegen kam.
Unsere Fahrt wurde ab da rasanter. Die Pferde schienen sich an das Unwetter gewöhnt zu haben und mit ihm in einem Wettstreit zu liegen. Wer war schneller: der Wind oder die Tiere? Was war lauter: der Hufschlag der Pferde oder der Donner? Mein Vater lenkte den Wagen hierhin und dorthin. Ich wurde dabei unsanft hin und her geschleudert, rollte über die Ladefläche und stieß gegen die Holzbretter. Ich versuchte irgendwo Halt zu finden. Sofort spürte ich einen Nagel unter meiner Handfläche. Ich zog meine Hand zurück und wählte eine andere Stelle aus. Dieses Mal hatte ich mehr Glück: Ich traf nur auf einen Splitter. Wenn ich die Wahl hatte, rostiger Nagel oder Holzsplitter, entschied ich mich lieber für Letzteren. Ich spürte, wie das Holz meine Haut durchstach. Der Schmerz war minimal, ein Pieken wie von einer Mücke. Für einen Moment überlegte ich, ob ich den Splitter herausziehen sollte. Ich versuchte es sogar, gab es aber rasch wieder auf, da ich immer noch wie wild auf der Ladefläche des Wagens auf und ab hüpfte und meine Sicht somit verschleiert wurde. Der Splitter musste vorläufig dort bleiben, wo er war. Ich würde es später erneut versuchen, ihn zu entfernen. Für jetzt hatte ich genug Mühe damit, mich darauf zu konzentrieren, nicht von dem Gefährt herunterzufallen.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während wir durch den Regen fuhren. Donner und Blitz hatten schon vor Meilen aufgehört, trotzdem hatte es mein Vater eilig an den Ort zu gelangen, den er im Sinn hatte. Mich überkam für einen kurzen Augenblick so etwas wie Bewunderung dafür, dass er genau zu wissen schien, wo wir uns befanden und welchen Weg wir zu nehmen hatten. Zielstrebig lenkte er die Pferde. Kein einziges Mal zögerte er, nicht einmal, als wir an eine Weggabelung kamen, die gleich in drei verschiedene Richtungen führte. Für mich sah alles gleich aus, und die Landschaft veränderte sich in meinen Augen auch nicht. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass sie sich von der unserer Heimat unterschied. Andere Baumarten, die ich zuvor noch nie gesehen hatte, säumten die Straßen. Der Erdboden war dunkler und nicht mehr so steinig wie noch vor Stunden. Hin und wieder konnte ich gelbe Lichter sehen, die zwischen den Bäumen hindurchdrangen, oder sah graue Rauchfahnen über den Wipfeln aufsteigen: Zeichen dafür, dass in dieser Gegend Menschen lebten, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. War dies gut oder schlecht? Ich konnte mich nicht entscheiden. Ich war mir ja noch nicht einmal sicher, ob wir immer noch in unserem Heimatland waren oder es bereits verlassen hatten. Es war eine fremde Welt für mich, und ich bekam schon jetzt Heimweh. Mir fehlten die weiten Felder vor unserem Haus. Mir fehlten meine Freunde, die einzigen, die ich als Kind je gehabt hatte: unsere Tiere. Ich vermisste die Obstbäume mit ihren farbenfrohen Blüten. Aber was ich am meisten vermisste, war Licht. Hier war es so dunkel. Das Blätterwerk der Bäume war dicht, beinahe undurchdringlich, und in der grauen Wolkendecke war kein einziges Loch, durch das ein Strahl Sonnenlicht zu uns hätte dringen können. Trostlosigkeit und Finsternis umgaben mich hier und zogen mich immer weiter in einen Abgrund. Ich setzte mich auf den Hosenboden und legte die Unterarme auf meine Oberschenkel. Mein Oberkörper sackte nach vorn. Ich ließ den Kopf hängen und kauerte in dieser Haltung. Mir machte es auch nichts mehr aus, dass ich klatschnass war und fror. Mich störte es nicht mehr, dass ich durchgeschüttelt wurde und von links nach rechts rutschte, wenn mein Vater wieder eine Biegung nahm. Ich hatte das Interesse verloren zu erfahren, wo wir waren oder wohin wir fuhren. Wenn es jetzt schon so grausam war, wie sollte erst der Ort sein, an den mein Vater mich bringen wollte? Nein, ich wollte wahrlich nicht wissen, was mir bevorstand.
Als wir jedoch – ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit bis dahin verging – plötzlich anhielten und mein Vater mir laut befahl, vom Wagen herunterzukommen, holte mich dies aus meiner Lethargie heraus. Ich tat wie mir geheißen wurde und kletterte von dem Fuhrwerk. Der Regen hatte endlich aufgehört, und ich wischte mir die letzten Tropfen aus dem Gesicht. Mit den Händen strich ich mir die Haare zurück, die nun platt um meinen Kopf lagen. Dann blickte ich mich mit großen Augen um. Ich erwartete nun mein neues Zuhause zu sehen, den Ort, an den man mich sperren würde, wie mein Vater es bezeichnet hatte. Stattdessen begrüßten mich Einsamkeit und Zerstörung. Wir standen am Rande einer Lichtung, in deren Mitte sich die Reste eines Hauses befanden. Seine Grundmauern standen noch, und man konnte an ihnen gut die Größe des Gebäudes ausmachen. Decke und Wände allerdings waren fast gänzlich verbrannt. Hier und da ragte noch ein verkohlter Balken in die Höhe und ließ erahnen, wo ein Raum angefangen und ein anderer aufgehört hatte.
„Merde!“, fluchte mein Vater, ließ die Pferde und mich allein zurück und stapfte voraus. Aufgeregt blickte er sich um. Ich folgte seinem Beispiel und besah mir das Terrain. Ein schmaler Pfad, auf dem nicht einmal zwei Menschen nebeneinander gehen konnten, führte von der Straße, die uns hierher gebracht hatte, hin zu den Grundmauern des Hauses. Zu beiden Seiten des Weges lagen grüne Grasflächen, auf denen sich zahlreiche steinerne Kruzifixe befanden ähnlich dem, welches am Rosenkranz meiner Mutter hing und ich nun hütete. Doch diese aus Stein gehauenen Kreuze waren entschieden größer. Manche standen aufrecht, andere lagen auf dem Boden. Einige waren intakt, aber es gab auch genügend, die umgefallen oder…
„Welche geisteskranke Kreatur verwüstet und zerstört einen Friedhof und bringt die Toten um deren Ruhe?“, unterbrach mein Vater meine Gedanken.
Dann waren wir also auf einem Friedhof und die Grundmauern gehörten zu einer Kirche? Ich hatte noch nie ein richtiges Gotteshaus gesehen. Nun ja, oder das, was davon noch übrig war. Staunend trabte ich weiter und merkte nicht, wo ich hinlief. Erst als ich mit etwas zusammenprallte, kehrte ich ins Hier und Jetzt zurück. Verblüfft schaute ich auf und entdeckte meinen Vater vor mir stehend. „Verzeih, Papa“, murmelte ich, als ich seinen vor Verachtung triefenden Blick bemerkte. Ich dachte, es sei wegen meiner Ungeschicklichkeit, doch dann fielen mir seine Worte über eine geisteskranke Kreatur ein. Er wollte mir doch nicht wirklich an dieser Zerstörung auch noch die Schuld geben? Ich schüttelte den Kopf und sah meinen Vater flehentlich an. Er gab daraufhin nur ein Schnauben von sich, wandte sich um und ging weiter. Erleichtert, dass er mich mit weiteren Worten über das Dämonische in mir verschonte, atmete ich aus. Ich wollte Frieden; ich brauchte Frieden.
Langsam folgte ich meinem Vater zu dem abgebrannten Gotteshaus, wohl darauf bedacht, stets einen gewissen Abstand zu ihm zu wahren, damit ich nicht erneut mit ihm zusammenstieß. Ich durchschritt die Steinsäulen, die einst das Kirchentor gesäumt hatten. Unter meinen Füßen knackte und knirschte es. Ich blickte hinunter und konnte dabei zusehen, wie ich mit meinen Schuhen verkohltes Holz zertrat, welches daraufhin zu schwarzem Staub zerfiel. Ich wandte mich zu allen Seiten um und versuchte mir vorzustellen, wie es hier einmal ausgesehen haben musste. Viele Anhaltspunkte gab es nicht mehr. Ich konnte lediglich erkennen, wo die Kirche anfing und wo sie endete, wo der Altar gewesen war und wo die Sitzbänke für die Gläubigen gestanden hatten. Alles, was von ihnen noch übrig war, waren ihre Füße, die ebenfalls zu Staub zerfallen würden, sobald man sie anfasste. Ich entfernte mich von den Überresten, nur um auf etwas anderes zu treten, das in der Asche lag. Ich hatte es nur mit dem Hacken berührt, aber das reichte aus, damit das Etwas ein so lautes Knacken von sich gab, sodass ich meinen Fuß blitzschnell zurückzog und erschrocken herumwirbelte. Ich suchte den Boden vor mir ab und fand den Gegenstand, auf den ich getreten war: eine dünne Holzplatte. Obwohl sie von einer Schicht Asche bedeckt war, konnte ich sehen, dass sie bemalt war. Braune und gelbe Farbe lugte hervor, dunkles Rot und Blau. Die Platte war in der Mitte zerbrochen - ich hatte sie kaputtgemacht. Ich beugte mich hinunter und hob die Bruchstücke auf. Mit meinem Ärmel wischte ich über sie und versuchte mehr von dem zum Vorschein zu bringen, was sich unter dem schwarzen Staub verbarg. Je länger ich rieb, desto mehr wurde zutage gefördert. Ich hielt die beiden Teile aneinander. Da der Bruch glatt war, konnte ich die Platte mühelos zusammensetzen, und endlich zeigte sich mir das Bild eines Mannes mit langen Haaren und Bart. Er lächelte und sah mich auf eine so gütige Weise an - er sprach direkt zu meinem Herzen und schien zu sagen: „Ich weiß, wie du dich fühlst. Auch ich habe Schweres durchgemacht. Hab keine Angst. Ich bin für dich da. Ich habe Trost für dich.“ Als ich so dastand und ihm zuhörte, schnürte es mir die Kehle zu und Tränen stiegen mir in die Augen. Wie gern hätte ich meinen Gefühlen freien Lauf gelassen. Am liebsten wäre ich zusammengebrochen und hätte dem Mann mit dem sanften Lächeln mein Herz ausgeschüttet, auch wenn ich ihn nicht kannte. „Wer bist du?“, fragte ich ihn flüsternd. Aus einem Impuls heraus, drehte ich die Bruchstücke um und fand auf ihrer Rückseite schwarze Lettern. Ich konnte noch nicht besonders gut lesen, und das Schreiben beherrschte ich gar nicht. Meine Mutter hatte versucht, es mir beizubringen, doch wir hatten nicht genügend Zeit gehabt. Außerdem hatte es mir weitaus besser gefallen, wenn sie mir vorlas als ich ihr. Sie war eine großartige Vorleserin gewesen und eine noch viel bessere Geschichtenerzählerin, die ihre Stimme verstellte und ihre Seele und ihr Herz in die Erzählung steckte und es so schaffte, die Figuren zum Leben zu erwecken. Das war für mich um so vieles schöner gewesen, als meinem eigenen holprigen Lesen zuhören zu müssen. Aber das Wort, welches vielmehr ein Name war, kannte ich. Ich kannte die Schleife des Buchstabens „J“, den Kringel beim „e“ und den Schwung des geschriebenen „s“: Jesus. Als ich seinen Namen las, stürzten auf mich all die Dinge ein, die meine Maman mir über ihn erzählt hatte, wie gütig er gewesen war, wie sehr er anderen geholfen hatte, welche Ungerechtigkeiten er durchgemacht und welche Schmerzen er gehabt hatte und wie gnädig er zu anderen gewesen war. Und das war es, was ich brauchte: Gnade, göttliche Hilfe.
„Michael, komm hierher!“, schrie mein Vater. Ich warf einen Blick nach hinten und sah ihn im hinteren Teil der Kirche stehen. Er war in einer merkwürdigen Position: breitbeinig stehend, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, aber auch zur rechten Seite gedreht. Außerdem war sein Gesicht rot angelaufen. „Nun mach schon oder muss ich dich holen?“, fragte er.
Hastig schüttelte ich den Kopf. „Ich komme“, antwortete ich. Ein letztes Mal besah ich mir das Bild in meinen Händen und überlegte, ob ich es behalten oder zurücklegen sollte. Aber wo sollte ich es hintun? Ich hatte keine großen Taschen oder ähnliches bei mir. Ich wollte auch nicht, dass mein Vater es fand, um es eventuell vollständig zu zerstören.
„Michael!“, rief mein Vater erneut nach mir. Vor Schreck machte mein Herz einen unangenehmen Hüpfer in meiner Brust. Ich musste schnell eine Entscheidung fällen. Am liebsten hätte ich das Bild behalten. Darauf begegnete mir wenigstens ein freundliches Gesicht. Aber tief in meinem Innern wusste ich, dass es an diesen Ort gehörte. Wie durch ein Wunder hatte es das Feuer überstanden, als hätte es noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen: mich zu finden und mir Mut zu schenken. Das hatte es geschafft. Seine Arbeit war getan. Gott hatte mir durch es gesagt, dass Er überall dorthin ging, wo auch ich hinging. Er würde mich immer finden. Diese Erkenntnis gab mir den letzten notwendigen Anstoß, um die Holzplatte zurückzulegen. Mit der Schuhspitze schob ich etwas Asche darüber, damit es vor ungeliebten Augen sicher war. Dann rannte ich zu meinem Vater hinüber. Als ich näher kam, konnte ich auch endlich den Grund für seine seltsame Haltung erkennen: Er hielt eine Tür auf, eine Metalltür im Boden. Ungläubig wechselten meine Blicke zwischen der Öffnung und meinem Vater hin und her. „Geh hinunter“, forderte er mich auf. Mit großen Augen sah ich ihn an. Was hatte er vor? Wollte er mich dort unten, was auch immer dort war, einsperren und zurücklassen? Oder würde er mir nachfolgen? „Das ist unsere Schlafmöglichkeit oder willst du lieber Regen, Wind und Kälte ausgesetzt sein?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Dann steig hinab. Ich komme nach, wenn ich die Pferde festgebunden habe.“ Konnte ich ihm glauben? Würde er wirklich ebenfalls nach unten gehen, oder würde er die Metalltür zufallen lassen und verschwinden? „Nun mach endlich! Ich kann sie nicht mehr lange halten“, knurrte er und funkelte mich wütend an. Es war ersichtlich, dass ihm mein Zögern missfiel und er mir liebend gern eine Ohrfeige verpasst hätte, die mich dazu bewegen würde, die Treppe hinabzusteigen. Dass er die schwere Metalltür in Händen hielt, war mein Glück, denn so gelangte er nicht an mich heran und würde später hoffentlich zu erschöpft sein, um seinen Ärger an mir auszulassen. Mein Vater hatte sich entschieden, wenn auch notgedrungen. Und auch ich musste mich entscheiden: entweder die Nacht im Freien verbringen oder in ein Loch steigen und es trocken haben. Ich wählte Letzteres.
Unten angekommen, schaute ich mich in dem Raum um, besser gesagt, ich versuchte es. Fehlendes Licht sorgte dafür, dass über allem ein grauer Schleier lag, der mich nicht erkennen ließ, was genau sich in der Kammer befand. Mir fielen große Gebilde auf, die ich nicht zu deuten vermochte, die mir jedoch Angst einflößten. Ich schlang die Arme um mich selbst, als könnte es mich vor dem beschützen, was hier unten vielleicht lauerte.
„Die Pferde sind festgebunden und können nicht davonlaufen. Jetzt kümmern wir uns um uns. Mach Platz!“, rief mein Vater. Ich sah zu ihm hinauf und beobachtete ihn dabei, wie er die Stiege herunterkam. Sein Allerwertester hing direkt über meinem Kopf und kam auf mich zu. Wenn ich ihn nicht im Gesicht haben wollte, musste ich beiseitetreten. Ich bewegte mich also ein Stück nach links. Mein Fuß stieß gegen etwas, und ein helles Geräusch ertönte. Ich beugte mich hinunter, um den Gegenstand besser in Augenschein nehmen zu können. Ich befühlte ihn sogar mit meinen Händen. Er war aus einem glatten, kühlen Material gearbeitet, besaß zwei Henkel und hatte die Form einer Amphore. Ich hatte solche Vorratsgefäße schon zuhauf auf dem Markt in der Stadt gesehen und wusste, dass betuchte Menschen darin allerhand aufbewahrten, am liebsten Wein. Ob in dieser Amphore ebenfalls Wein lagerte? „Wir brauchen etwas mehr Licht. Wo haben diese verfluchten Kleriker ihre Kerzen?“ Ich wandte mich von der Amphore ab und sah mich nach meinem Vater um. Ich war entsetzt über die Wahl seiner Worte und dass er in einer Kirche fluchte. Meine Mutter hatte mir beigebracht, dass man stets darauf achten sollte, was man aussprach. Ganz besonders galt dies dann, wenn man sich in einem Gotteshaus befand. Auch wenn sie nicht mehr wirklich vorhanden war, wir befanden uns nach wie vor in einer Kirche, und es kam mir falsch vor. Mein Vater sah das anders und schimpfte und fluchte in einem fort. „So ein Mist! Diese Kretins! Möge sie die Nacht holen!“ Ich konnte darüber nur den Kopf schütteln. Wer war nun der Besessene von uns? Seine Tiraden wollten für eine lange Weile nicht verklingen, doch irgendwann fand mein Vater, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte. „Wer sagt es denn? Es geht doch“, meinte er und hielt eine umfangreiche Sammlung von Dingen in die Höhe, die mir nur entfernt vertraut waren. Freilich hatte ich sie schon einmal gesehen, aber noch nie ihre Handhabung aus nächster Nähe mit angesehen.
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Ich spreche hier von teuren Kerzen, Pyrit, Feuerstein und Zunderschwamm. Utensilien, die man in der Oberschicht oder in Kirchen verwendete. An Feuerzeuge war zu meinen Kindheitstagen noch nicht zu denken. Streichhölzer? Nein.
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Fasziniert sah ich dabei zu, wie mein Vater die Materialien vor sich auf dem Boden zurechtlegte. Jeden Schritt konnte ich gut verfolgen und lernte, wie man den Docht einer Kerze entzündete. Zunächst nahm mein Vater einen golden glänzenden Stein zur Hand, Pyrit oder auch Katzengold genannt, und schlug diesen gegen einen anderen grauen Stein, einem Feuerstein, mit gelblichen Streifen. Durch diese Aktion entstand ein Funkenschlag. Winzige orangefarbene Blitze leuchteten auf und regneten auf den auf dem Boden liegenden rostbraunen Zunderschwamm, einem Pilz, der beim Feuer machen Verwendung fand. Nicht lange und der Zunder brannte und mein Vater nahm ihn, hielt ihn an den Docht der Kerze und – zisch! – sie tauchte den Raum in ein warmes gelb-orangenes Licht. Wo hatte mein Vater nur gelernt, wie man mit diesen Dingen umging? Und wie war es ihm möglich gewesen, sich in dem Raum zurechtzufinden und das zu finden, was er benötigte? Bei all der Bewunderung und dem Staunen über das Entfachen einer Kerze, wären mir diese Details beinahe entgangen. Durch die Öffnung, durch die wir geklettert waren, fiel gerade einmal genug Licht, um den Inhalt der Kammer schemenhaft erkennen zu können. Und was, wenn mein Vater bereits früher schon einmal hier gewesen war? Er hatte schließlich von der Tür im Boden gewusst und sie mühelos gefunden. Und nun hielt er genau die Lichtquelle in Händen, die er hatte haben wollen. Wann hatte ihn sein Weg hierhergeführt, und was hatte er mit den Menschen hier zu schaffen gehabt? Oder war es einfach nur Zufall oder Glück gewesen, dass er die Kammer gefunden hatte? Vielleicht besaß jedes Gotteshaus eine und es war allgemein bekannt? Bei einem unserer Besuche in der Stadt hatten meine Mutter und ich uns die dortige Kirche von außen angesehen und Maman hatte mir den Aufbau beschrieben. Somit wusste ich, was ein Mittelschiff war und wo sich der Altar befand. Wir wären damals gern hineingegangen, um uns die Kirche von innen anzusehen, meine Mutter noch lieber als ich. Allerdings hatte mein Vater es uns nicht erlaubt und wir waren weitergezogen. Ich erinnerte mich auch daran, dass meine Mutter mit keinem Wort eine Geheimtür im Boden erwähnt hatte.
„So ist es doch schon viel besser“, flüsterte mein Vater und erhob sich mit der Kerze, die in einem metallenen Halter steckte, in der Hand. Er kehrte zurück zu der Stiege, kletterte sie ein Stück hinauf und schloss die Metalltür. Der Krach, den sie dabei machte, war ohrenbetäubend! Nun, da die Luke geschlossen war, überkam mich ein unangenehmes Engegefühl. Plötzlich fühlte ich mich zurückversetzt in das Geheimversteck, in das meine Mutter mich gepackt hatte. Mein Herz fing an zu rasen. Mir wurde heiß und ich bekam keine Luft. Ich fingerte an meinem Hemdkragen herum und öffnete ihn etwas. Ich zwang mich dazu, ruhig zu atmen. Ich musste mich wieder in den Griff bekommen. Das hier waren nicht der richtige Ort und auch nicht die passende Gelegenheit, um durchzudrehen. Meine Maman hätte sich um mich gekümmert, mir beigestanden und geholfen. Mein Vater war für so etwas nicht geeignet. Nein. Ich war auf mich allein gestellt. Mit Mühe und Not brachte ich meine Gedanken dazu, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf die Enge und die Dunkelheit in dem Raum. Erstaunlicherweise half mir die Tatsache, dass mein Vater mit seiner Kerze an mir vorüberzog, um sich hier unten umzusehen. Ohne mich zu beachten, wanderte er umher. Da die flackernde Flamme immer nur einen kleinen Teil der Kammer erhellte, schloss ich mich ihm an und sah mich um. Ich entdeckte die grauen Gebilde, die mir zuvor schon aufgefallen waren und sich als Regale entpuppten. Es gab Dutzende von ihnen, und alle waren sie gefüllt mit Schalen, Körben und Krügen, die wiederum bis an den Rand gefüllt waren mit Äpfeln, Quitten, Karotten, Zwiebeln und allerlei fremdartig aussehenden Dingen, bei denen ich mir nicht sicher war, ob man sie überhaupt essen konnte, wie zum Beispiel ein seltsames krummes Etwas, das eher einem zu dick geratenen Wurm ähnelte.
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Heute weiß ich, dass es sich um Bananen handelte, und ich frage mich immer noch, wie sie an diesen Ort gelangen konnten.
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Wir fanden auch Kartoffeln, fein säuberlich aufeinander gestapelt, ganze Käselaibe und pralle Getreidesäcke. Von der Decke hingen etliche Kräuterbündel wie Blumensträuße: Salbei, Thymian, Lavendel, Rosmarin. Und in jeder Ecke standen Amphoren. Man hatte jeden freien Fleck genutzt, um diesen mit wenigstens einem der Gefäße zu füllen.
„Mal sehen, was in dir steckt, mein Schmuckstück“, säuselte mein Vater, drückte mir die Kerze in die Hand und nahm sich eine kleinere Amphore, die in einem Regal stand. Er öffnete sie, schnupperte und lächelte. „Der Klerus weiß, was gut ist. Es ist Cidre hierin“, teilte er mir mit, setzte die Amphore an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Als er genug hatte, stellte er das Gefäß zurück und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Und nun etwas zu beißen“, sprach er und nahm sich aus einer Schüssel ein Stück Pökelfleisch. „Ein Paradies für jeden“, sagte er kauend, nahm sich abermals den Cidre und spülte damit seine Kehle durch. Dann ließ er sich mit Fleisch und Apfelwein auf den Boden plumpsen und aß und trank und versank in seine eigene Welt. Ich beobachtete ihn für einen Moment. Er wirkte irgendwie zufrieden, nun, da er inmitten von Speisen saß. Ich hätte es ihm gern gleichgetan. Mein Magen knurrte und die wunderbaren Gerüche sorgten dafür, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief. Doch obwohl ich Hunger hatte, war mir auch schlecht und ich hatte Kopfschmerzen. Außerdem war ich müde und es fröstelte mich. Kein Wunder. Ich trug ja noch immer die vom Regen durchnässten Kleider. Was Nahrung anging, war dieser Raum der Himmel auf Erden, aber in Hinblick auf trockene Kleidung war er ein Alptraum. Da mein Vater sich nur für sein eigenes leibliches Wohl interessierte und von mir keinerlei Notiz zu nehmen schien, musste ich mich um mich selbst kümmern. Ich lief hinüber zu einer Ecke, in der mehrere Säcke Getreide standen. Ich band einen von ihnen auf und stieß ihn um. Das Getreide rieselte aus ihm heraus und verteilte sich über den Boden. Als der Sack leicht genug war, damit ich ihn anheben konnte, schüttelte ich den Rest der Körner heraus, zog ihn mit mir unter die Stiege und legte mich dort zum Schlafen hin. Der leere Getreidesack diente mir als Decke und spendete mir wenigstens ein bisschen Wärme.