Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1) - Nadja Losbohm - Страница 12

7. Kapitel

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Am Rande des Waldes angekommen ließ mein Vater meine Beine los und trat ein paar Schritte aus dem Dickicht heraus. Er verharrte dort stillschweigend. Nur sein Schnaufen war zu hören. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. War es mir erlaubt, mich zu rühren? Erwartete er von mir, dass ich aufstand und selbstständig weiterging?

„Rosalie“, flüsterte er.

Ich sah, wie sich seine Schultern hoben und senkten, als er schwer ein- und ausatmete. Ihr Name so zärtlich von ihm ausgesprochen – all seine Liebe für sie steckte darin. Ich hielt mich an einem Baumstamm fest und zog mich an ihm hoch. Mühsam kam ich auf die Beine und lehnte mich an das Holz. Für einen Moment beobachtete ich meinen Vater, wie er sich unser Haus in der Ferne ansah, in dem seine Ehefrau und meine Mutter bereits am Verwesen war. Es war erstaunlich mitanzusehen, wie sein Gesicht vor Liebe und Sehnsucht nach ihr überzufließen schien. Plötzlich sah er ganz anders aus. Er kam mir fremd vor.

***

Ich habe nie verstanden, was meine Mutter an meinem Vater fand. Doch sie musste etwas in ihm gesehen haben, was mir bis heute verborgen geblieben ist. Vielleicht war es genau das, was sich in jenem Moment in seinem Gesicht zeigte, was neu für mich war und er nur ihr offenbart hatte? Hatte ich ihn schon jemals so gesehen? Nein. Noch nie. Vielleicht hatte es eine Zeit gegeben vor mir, in der er anders, freundlich und liebevoll gewesen war? Vielleicht hatte er sich erst mit der Geburt seines Kindes verändert? Wenn das der Grund ist, wieso ein Mann sein weiches Herz gegen eines aus Stein eintauscht, dann ist die Vaterschaft etwas, über das ich froh bin, nie erfahren zu haben und nie erfahren werde. Doch was ich in jenem Augenblick verstand, war, dass nicht nur ich den wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren hatte, sondern auch er.

***

„Es tut mir leid“, hauchte ich. Mein Vater zuckte beim Klang meiner Stimme zusammen. Er wandte sich zu mir um und betrachtete mich. Es schien, als würde eine Art Schleier vor seinen Augen hängen, der sich nur langsam hob und sich ihm die gnadenlose Realität zeigte. In ihr gab es keine Rosalie Ryan, keine liebende Gefährtin mehr. In ihr gab es nur mich, seinen verhassten Sohn, den dämonischen Jungen, der seine Mutter im Stich gelassen hatte. Die Verwandlung, die in dem Gesicht meines Vaters vor sich ging, war gewaltig und angsteinflößend.

***

Ich erinnere mich noch heute daran, wie sich seine Mimik veränderte, sich sein Blick verwandelte. Niemals wieder habe ich solch einen Wechsel von Emotionen bei einem Menschen beobachten können. Liebe wurde zu Hass, Sehnsucht zu Abscheu. Fürsorge zu Verachtung. Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man mit nur einem einzigen Blick vermittelt bekommt, man sei nicht einen Deut wert? Wissen Sie, wie es ist, wenn man in den Augen des anderen lesen kann, für wie gering er einen erachtet, wie abscheulich er einen findet und einen am liebsten zertreten würde wie ein lästiges Insekt? Haben Sie eine Vorstellung davon, was so etwas in der Seele eines Menschen, eines Kindes anrichten kann? Es zerbricht einen. Man fängt an zu glauben, man ist nicht die Luft wert, die man atmet. Man glaubt, man hätte nichts Gutes verdient und dass aus einem selbst heraus nichts Gutes kommen kann. Man zweifelt an seinem Dasein. Wieso bin ich hier? Wozu? Wo gehöre ich hin? Dieser schlechte Glaube ist wie ein Monster, das seine Krallen in das Fleisch schlägt und nicht mehr loslässt. Die Krallen wachsen und graben sich tiefer, bis sie in der Seele angekommen sind, dort Wurzeln schlagen und eins mit einem werden. Sie lassen niemals von einem ab. Auch nicht als Erwachsener. Diese Monster tragen immer das Gesicht des Peinigers. Meines hatte das Gesicht meines Vaters, doch es sollte später ein weiteres bekommen.

***

Ohne Vorwarnung kam mein Vater auf mich zugeschossen, beugte sich hinunter und legte sich mich über seine Schulter. Kopfüber hängend trug er mich fort und lief über den sandigen Pfad zwischen unseren Feldern vom Wald hin zu unserem Haus. Meine Lage war nicht besonders förderlich für mein Befinden. Mit meinem Kopf nach unten und dem heftigen Auf und Ab, als mein Vater rasch seinen Weg bestritt, kehrte die Übelkeit erbarmungslos zurück. Ich spürte, wie mir die Galle in die Kehle stieg. Mein Mund wurde trocken. Ein unangenehmes Kribbeln kroch meinen Rücken hinauf und gelangte zu meinen Kieferwinkeln. Immer, wenn ich kurz davor war, mich zu übergeben, war es so. Ich klopfte meinem Vater auf den Rücken. „Papa, lass mich runter. Ich muss mich übergeben!“, sagte ich. Ich strampelte mit den Beinen und versuchte, mich irgendwie zu befreien.

„Halt den Mund und zappele nicht so herum!“, befahl er mir.

„Papa, bitte. Ich muss kotzen. Lass mich los!“, schrie ich und strampelte und schlug noch fester auf ihn ein. „Ich meine es ernst. Ich muss gleich…“ Doch da war es schon zu spät. Ich würgte und gab alles von mir, was noch in mir war. Viel war es nicht. Wie sollte es auch? Ich hatte bereits dreiviertel meines Mageninhalts im Wald gelassen. Meinen Vater schien das alles nicht zu interessieren. Ihm war es egal, dass ich ihm auf das Hemd und die Rückseite seiner Beinkleider spuckte. Wie besessen lief er weiter und weiter, immer sein Ziel vor Augen.

Die Zeit zog sich in die Länge. Mir erschien der Fußmarsch zu unserer Hütte unendlich weit. Irgendwann jedoch kamen wir an, und mein Vater setzte mich ab. Als ich wieder mit beiden Beinen auf der Erde stand, taumelte ich zunächst. Ich musste mich erst wieder daran gewöhnen, richtig herum auf der Welt zu sein. Es dauerte eine Weile, bis die Felder, der Pfad und die Bäume aufhörten, sich zu drehen und an ihren Plätzen blieben, wo sie hingehörten. Wenn meine Mutter und ich mich an den Händen gefasst und wir uns im Kreis gedreht hatten, hatte es mir nichts ausgemacht, wenn sich alles rings um mich bewegt hatte. Jetzt war ich mehr als froh, dass es vorüber war und alles stillstand. Der Einzige, der nichts von Stillstand und Ruhe wissen wollte, war mein Vater. Hinter mir hörte ich das Knirschen des Sandes unter seinen Schuhen, als er sich von mir entfernte. Langsam wandte ich mich herum. Die Welt begann sich abermals zu drehen. Für einen Moment geriet ich aus dem Gleichgewicht. Ich machte einen Ausfallschritt zur Seite und konnte mich fangen. Breitbeinig stand ich da. Meine Füße scharrten im Sand und krallten sich verzweifelt am Boden fest. Ich sah meinem Vater, der auf unser Haus zuging, hinterher. Stirnrunzelnd beobachtete ich, wie er nicht direkt zur Tür lief, wie ich vermutet hatte, sondern zur linken Seite der Hütte ging, wo in einer Holzkiste etliche Kienspäne lagerten. Diese vierkantigen langen Stücke werden aus den Baumstämmen der Kiefer gemacht, die reich an Harz sind und somit gut brennen. Es war eine einfache Lichtquelle, die für die ärmere Bevölkerung, zu der auch wir gehörten, erschwinglich und dadurch weit verbreitet war. Wir besaßen so viele Kienspäne. Meine Mutter hatte einmal gescherzt, wir könnten die gesamte Bretagne damit versorgen. Aus irgendeinem Grund hatte mein Vater nie gewollt, dass uns das Licht ausgeht. Wieso? Dass er sich vor der Dunkelheit fürchtete, bezweifelte ich. Er schlief unter freiem Himmel, wenn er in die Stadt fuhr, um dort unsere Wolle zu verkaufen. Wer so etwas tut, fürchtet die Finsternis nicht. Aber vielleicht gab es andere Ängste, von denen ich nichts wusste. Nun jedenfalls nahm er mehrere Kienspäne aus der Holzkiste heraus. Er klemmte sich drei unter die Arme, vier weitere trug er in den Händen. Er lief eilig zur Haustür. Als er in ihrem Rahmen stand, betrachtete er sich für einen kurzen Moment das Loch, das in der Tür klaffte. Er schenkte ihm nicht viel Aufmerksamkeit. Für ihn war es nicht von Bedeutung. Doch bei mir löste es eine Welle der Panik aus. Sah ich das Loch an, sah ich Henry und dessen von Narben entstelltes Gesicht vor mir. Ich begann zu zittern und umschlang mich selbst mit meinen Armen, als könnte es helfen, die Kälte zu verscheuchen. Ich wandte mich in sämtliche Richtungen und hielt Ausschau nach dem Schurken mit den blauen Augen. Zum Glück jedoch konnte ich nirgends jemanden ausmachen und sah wieder zu meinem Vater hinüber, der mittlerweile vom Anblick des Inneren des Hauses gefesselt schien. Wie angewurzelt stand er dort und rührte sich eine lange Zeit nicht. Ich wusste, was er dort sah: Maman. Tot. Auf dem Boden. Wie froh ich doch war, ihr Kleid heruntergezogen zu haben. So musste sowohl sie als auch er nicht diese Schmach ertragen. Es wäre ihnen beiden wohl unangenehm gewesen. Wie lange war es her, dass ich neben ihr gesessen und ihr den Rock um die Beine gelegt hatte? Einen halben Tag oder doch einen ganzen? Ich weiß es nicht mehr.

Mein Vater drehte den Kopf in meine Richtung und sah mich an. Dann blickte er auf die Kienspäne in seinen Händen hinunter und dann zu Maman ins Haus. Woran dachte er? Was hatte er nur vor? Sein Verhalten kam mir merkwürdig vor. Was auch immer in seinem Kopf vor sich ging, die Entscheidung war gefallen. Entschlossen ging er ins Haus und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich hörte, wie er darin umherpolterte. Langsam tat ich ein paar Schritte vorwärts. Meine Neugierde, was mein Vater trieb, wurde mit jedem Augenblick größer. Doch auch etwas anderes mischte sich darunter. Zuerst konnte ich es nicht zuordnen, doch dann begriff ich, dass es Sorge war. Sorge darum, dass er etwas tat, was nicht wieder rückgängig zu machen wäre. Diese Sorge ließ mich schneller laufen. Ich merkte kaum meinen pochenden Schädel oder die Übelkeit. Ein neuer Adrenalinschub schwächte die Beschwerden ab und ermöglichte es mir, rasch zur Haustür zu gelangen. Mein rechter Fuß setzte auf die Türschwelle auf. Ich zog den anderen Fuß gerade hinterher, als sich mir mein Vater in den Weg stellte und mich am Eintreten hinderte. Ich konnte nicht durch; ich konnte nicht sehen. Aber ich hörte und roch etwas. Geräusche drangen an meine Ohren. Es knackte und knisterte wie das Feuer in unserer Kochstelle. Es roch nach Verbranntem. Was genau da am Schmurgeln war, wusste ich nicht genau. Es waren viele verschiedene Gerüche, die sich miteinander vermischten. Ich strengte mich an, sie zu identifizieren. Ich erkannte den Geruch von brennendem Holz und Fleisch. Er erinnerte mich an den Geruch von brutzelndem Schweinefleisch. Aber dann bemerkte ich, dass der Duft zu stark war. Er war beißend. Er war bestialisch, sodass mir schlecht wurde. Meine Augen wurden größer. Ich sah zu meinem Vater auf. Finster blickte er zurück. Er legte eine Hand auf meine Schulter und schob mich zurück, weg von der Tür. Ohne Gegenwehr ließ ich mich von ihm herummanövrieren. Sobald wir einige Schritte von dem Haus entfernt waren, quoll eine schwarze Rauchwolke aus der Tür. Hinter dem Rücken meines Vaters wuchs sie an und stieg zum Himmel empor. Es kam mir vor, als hätte allein seine Präsenz dafür gesorgt, dass die Wolke in dem Haus geblieben war und sich erst hervorgewagt hatte, nachdem er gewichen war. Es war ein unheimlicher, ein unnatürlicher Anblick und Moment, und ich stellte mir die Frage, ob es möglich war, dass nicht nur in mir, wie mein Vater dachte, ein Dämon wohnte, sondern auch in ihm? Vielleicht hatte er ihn an mich vererbt und nur besser gewusst, wie man ihn vor anderen verbirgt? Auf mich wirkte er in jenem Moment wie der Herrscher über Feuer und Rauch.

Mein Mund klappte vor Entsetzen auf. Ein dummer Fehler, denn sofort suchte sich der Qualm einen Weg in meine Atemwege und brachte mich zum Husten. Unsanft schloss sich die Hand meines Vaters um meinen Oberarm und er schob mich vor sich her. Immer noch hustend ließ ich es geschehen, dass er mehr Abstand zwischen mich und das brennende Haus brachte. Wir mussten eine größere Entfernung hinter uns bringen, bevor die Luft etwas besser wurde und ich freier atmen konnte. Als wir mitten in unserem Feld standen, das unserem Haus gegenüberlag, ließ mein Vater von mir ab. Ich trabte noch ein paar Schritte weiter, bis mir auffiel, dass er nicht nach mir rief und verlangte, ich solle zu ihm zurückkehren. Ich blieb stehen und schaute mich nach ihm um. Unweit von mir stand er zwischen Ähre und Korn und blickte auf sein geschaffenes Werk: sein Haus, das vom Feuer fast gänzlich umschlossen war.

Er hat unser Zuhause in Brand gesetzt, schoss es mir durch den Kopf. Ich begriff erst jetzt wirklich, was er getan hatte. Wieso hat er das gemacht? fragte ich mich.

***

Überlegen Sie und ich doch zusammen. Wozu ist Feuer da? Was macht es? Jede Sache hat zwei Seiten: eine helle und eine dunkle. Feuer wärmt uns, wenn uns kalt ist. Es spendet uns Licht und versorgt uns mit warmen Speisen. Soweit die gute, helle Seite. Doch betrachten wir die andere, die dunkle Seite dieses Elements. Feuer zerstört. Es vernichtet beinahe alles, was sich ihm in den Weg stellt, und brennt ganze Dörfer nieder und reißt Brücken ein. Und genau das war es, was mein Vater tat: Er riss eine Brücke ein, eine Brücke zu unserem alten Leben. Er hatte mir gesagt, er wolle mit mir irgendwo anders von vorn anfangen. Unser Haus in Brand zu stecken, war seine Art, das, was geschehen war, hinter sich zu lassen. Diese Tat hatte etwas Endgültiges. Er hatte nicht vor, jemals wieder hierher zurückzukehren. Nicht an diesen Ort, nicht zu den Erinnerungen, die an ihm hingen, und nicht zu Maman.

***

Bei dem Gedanken an sie erstarrte ich. Sie ist noch da drin! Er hat sie ebenfalls angezündet. Sie steht wie das Haus in Flammen, dachte ich. Und das war auch der beißende Geruch nach verbranntem Fleisch gewesen, der mir zuvor aufgefallen war. Fassungslos sah ich meinen Vater an, dessen Rücken mir zugewandt war. Wie konnte jemand nur so grausam sein und seine eigene Frau verbrennen? Sie hätte eine angemessene Bestattung verdient, ein Grab mit einem Kreuz, auf dem ihr Name steht, und Blumen. Stattdessen bekam sie Rauch und Asche. Tränen stiegen mir vor Verzweiflung in die Augen. Ich wischte mir mit dem Handrücken über das Gesicht, um es zu trocknen. Lautstark zog ich die Nase hoch. Mein Vater hörte es und drehte sich zu mir herum. Als sich unsere Blicke begegneten, traf mich die Verachtung, die in seinen Augen stand, wie ein Schlag. Ich wagte nicht, mich zu rühren oder einen weiteren Ton von mir zu geben. Ich spürte, wie mir der Rotz aus der Nase lief und zu meinem Mund wanderte. Ich wollte ihn wegwischen, traute mich aber nicht.

„Hör auf zu flennen! Reiß dich gefälligst zusammen!“, fuhr er mich an. Dann kehrte er mir wieder den Rücken zu und sagte: „Und sieh mich nicht an, als wäre all das meine Schuld. Ich sagte dir, du bist der Mann im Haus. Du hast in dieser Aufgabe versagt. Ich habe nichts anderes von dir erwartet. Du bist nicht mein Sohn. Du entstammst der Hölle.“ Über seine Schulter hinweg sah er zu mir nach hinten. „Schau dich nur an. Selbst jetzt versuchst du, mich zu behexen und zu verfluchen. Aber ich kenne dich. Ich bin wachsam und auf der Hut vor dir.“

Wirklich? Dann wollen wir doch mal sehen, wie wachsam du bist, dachte ich und rannte los.

So schnell ich konnte lief ich an ihm vorbei und jagte aus dem Feld heraus.

„Wo willst du hin? Komm zurück! Ich bin noch nicht fertig mit dir, Dämon!“, rief mein Vater mir nach. Seine Schritte, als er mir nachlief, donnerten über den harten, trockenen Boden. Ich hörte sein angestrengtes Schnaufen. Es kam näher und näher. Aber dieses eine Mal war ich schneller als er. Ich erreichte mein Ziel als Erster und sprang entschlossen durch die Tür in unser brennendes Haus. Sobald ich die Schwelle übertreten hatte, stieg mir der schwarze Qualm in die Augen, brachte sie zum Tränen und kroch in meine Nase. Ich fing an zu husten. Schützend hielt ich mir die Hand vor Mund und Nase und sah mich um. Die Sicht war eingeschränkt – über allem lag Rauch und in jeder Ecke loderten orange Flammen. Sie fraßen sich gierig durch das Holz und hatten sogar schon den Dachboden erreicht, auf dem ich einst geschlafen hatte. Ein lautes Knacken ertönte von jener Seite des Hauses und nur einen kurzen Augenblick später stürzte der Dachboden ein und landete krachend auf dem bereits lichterloh brennenden Schlafbereich meiner Eltern. Ich wich zurück und merkte nicht, dass ich dabei war, die Hütte zu verlassen. „Michael, komm her! Wenn du glaubst, du kannst mir auf diese Weise entkommen, täuschst du dich“, schrie mein Vater.

Ich drehte mich zu ihm. Er war nicht mehr weit von mir entfernt. Was glaubte er, wieso ich mich in das Haus begeben hatte? Um darin zu verbrennen? Um Selbstmord zu begehen? Wohl kaum. Mein Glaube war der Glaube meiner Mutter. Noch vor Kurzem hatte ich gedacht, es wäre auch sein Glaube. Mittlerweile bezweifelte ich es allerdings. Der Glaube meiner Mutter jedoch verbot mir, die Wahl des Freitods zu wählen. Selbstmörder kommen nicht in den Himmel, sondern ins Reich der Finsternis und Qualen. Ich war in mein Zuhause gegangen, um zu sehen, was ich für meine Mutter tun konnte, ob ich sie aus den Flammen retten konnte, um sie gebührend zu beerdigen. Mit meinen Augen suchte ich zwischen Rauch und Feuer nach ihr. Es erwies sich als schwerer als gedacht. Ringsum loderten die Flammen, umarmten und verschlangen alles, was sie finden konnten. Die Hitze brachte die Luft zum Flirren – sie schien regelrecht lebendig zu sein. Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und strengte mich an, in dieser irdischen Hölle etwas zu erkennen. Schließlich fand ich meine Maman und musste feststellen, dass es zu spät war, viel zu spät. Ihr Körper stand vollständig in Flammen. Ihre Kleider waren verbrannt und mit ihrer Haut zu einer schwarzen Masse verschmolzen. Sie hatte keine Haare mehr, und ihr Gesicht schien sich aufgelöst zu haben. Das war das letzte Bild, das ich jemals von meiner Mutter sah.

***

Es hat lange gebraucht, bis ich mich wieder an sie erinnerte, wie sie davor gewesen war: schön, rein, glücklich und lachend. Gelegentlich taucht ihr verbranntes Abbild vor mir auf; ich werde es wohl nie ganz vergessen können. In solchen Situationen muss ich mich dazu zwingen, an ihr engelsgleiches Antlitz zu denken. So musste ich sie in Erinnerung behalten und nicht anders. Dies ist ein langer, sehr langer Lernprozess, den ich durchschreiten musste und dessen strikte Umsetzung mir nicht immer gelingt. Aber es ist besser geworden.

***

Die Flammen, die meine Mutter in einer alles verzehrenden Umarmung hielten, schlugen höher. Sie rückten immer näher und würden bald auch mich erreicht haben. Für meine Mutter konnte ich nichts mehr tun. Aber was war mit mir? Was konnte ich machen? Ja, ich sehnte mich nach Maman, wollte bei ihr sein. Mein Vater hatte weiß Gott was mit mir vor. Dass ich hier nun starb, umgeben von dickem Rauch und hungrigem Feuer, war dennoch keine Lösung. Sich zu ergeben ist einfach. Das Kämpfen ist der schwierige, schmale Weg, auf dem nur wenige freiwillig gehen. Meine Mutter war ihn gegangen. Sie hatte mich mit ihrem Leben beschützt und es für mich hingegeben. Sie wollte, dass ich lebte. Wollte ich es ihr so danken, indem ich in den Flammen umkam?

„Ich liebe dich, Maman“, flüsterte ich hinter der Hand, mit der ich mein Gesicht bedeckte. „Ich werde dich niemals vergessen. Vergiss du mich auch nicht“, sagte ich. Bevor ich den Ort, an dem mein Leben begonnen hatte, verließ, machte ich einen Satz nach vorn in Richtung Fenster. Mein Arm streckte sich nach dem auf dem Fensterbrett liegendem Buch und Rosenkranz aus. Meine Mutter hatte dieses Buch geliebt. Es war ihr Leitfaden für das Leben gewesen und ein Trost in schweren Zeiten. So oft hatte sie mir daraus vorgelesen und mich damit viele wunderbare Dinge gelehrt, die mich geführt und mir den Weg gewiesen haben bis heute. Das Feuer hatte die Heilige Schrift bereits erreicht. Seine Flammen leckten schon an dem Einband. Er begann zu glühen und graue Rauchfahnen stiegen von ihm auf. Mit jedem verstreichenden Augenblick rückten die Flammen weiter vor. Sie eroberten das Buch für sich. Ich griff danach. Das Feuer biss mich in die Hand wie die spitzen Zähne einer Schlange. Ich spürte den Schmerz deutlich und zog meine Hand zurück. Die Bibel war verloren, aber der Rosenkranz nicht. Das Kreuz baumelte vom Fensterbrett. Ich schnappte es mir und konnte wenigstens diesen Gegenstand vor der Zerstörung bewahren, der meiner Mutter so wichtig gewesen war. Um den Schatz in Sicherheit zu bringen, rannte ich schleunigst aus dem brennenden Haus. Mit einem beherzten Sprung nach draußen rettete ich den Rosenkranz und mich. Ich brachte schnell großen Abstand zwischen unser Haus und mich. Ich sah nicht, wo ich hinlief. Meine Augen waren nur auf die Kette in meinen Händen gerichtet. Ich klammerte mich an ihr fest, als wäre sie meine Rettungsleine. Ich hängte mir die Holzperlen um den Hals und versteckte sie unter meinem Hemd. Dieses kleine, aber bedeutende Erinnerungsstück gehörte nun mir. Ich würde auf es aufpassen und nie wieder hergeben.

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1)

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