Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1) - Nadja Losbohm - Страница 11
6. Kapitel
Оглавление„Komm zurück, Michael!“, hörte ich die Stimme meines Vaters hinter mir brüllen. „Hast du Angst, ich ertränke dich in dem Bach? Ich verspreche dir, ich tue es nicht.“ Natürlich! „Als ich sagte, ich hätte genug, meinte ich damit, das Elend in unserem Haus ansehen zu müssen. Ich kann den Anblick nicht ertragen. Ich werde uns beide von hier fortbringen. Wir beginnen ein neues Leben an einem anderen Ort.“
Und das sollte ich ihm glauben nach allem, was er mir vor wenigen Augenblicken offenbart hatte? Nach all der Verachtung und Abneigung für mich, die ich in seinen Augen, in seinem Gesicht gesehen hatte? Nein. Ich konnte ihm nicht glauben. Ich wagte es nicht, ihm zu glauben. Vielleicht würde er mich nicht heute umbringen, aber es würden viele Tage folgen, es würde mehr Möglichkeiten geben, wo er es würde tun können. Ich würde mich nicht eine Minute lang bei ihm sicher fühlen, nur noch mit Angst leben vor seiner Rache.
Ich lehnte mich um den Baum herum, hinter dem ich mich versteckte, und hielt Ausschau nach meinem Vater. Ich suchte langsam die Gegend ab, achtete auf sich bewegendes Blätterwerk, lauschte auf knackende Geräusche verursacht durch die Schritte eines Mannes, der durch das Unterholz schlich. Weder konnte ich meinen Vater sehen noch hören. Vor Erleichterung atmete ich tief durch und zog meinen Kopf wieder hinter den Baum. Auch wenn er mich noch nicht gefunden hatte, ich konnte hier nicht bleiben.
Ich ging auf die Knie und krabbelte zwischen Büschen und Farnen, Sträuchern und Moos umher und gelangte zu einem riesenhaften Stein, einem Megalith. In diesem Wald gab es viele von ihnen. Manche waren klein, andere groß und wieder andere gewaltig. Einige waren Bestandteile von Grabanlagen, andere dienten als Markierung einer Grenze. Dieser hier lag auf dem Boden wie ein steinerner Tisch und war trotz allem hoch genug für mich, um mich vollständig zu verbergen. Ich glaube, man hätte mich selbst dann nicht gesehen, wenn ich gestanden hätte. Aber ich wollte es lieber nicht ausprobieren. Somit blieb ich auf dem Waldboden sitzen und nahm mir eine Verschnaufpause. Der leichte Wind, der wehte, kühlte angenehm mein erhitztes Gesicht. Die Blätter der Bäume wisperten über mir. Es wirkte alles so friedlich, so normal, als wäre nichts geschehen und ich würde mich nicht vor meinem wahnsinnigen Vater verstecken, der mir nach dem Leben trachtete. Als ich so dasaß und mir diese Dinge durch den Kopf gingen, kam mir all das plötzlich urkomisch vor. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war mir auf einmal nach Lachen zumute. Das konnte nur bedeuten, dass ich dabei war, meinen Verstand zu verlieren. Ich werde verrückt. Meine Maman ist tot, mein Vater hält mich für einen Dämon und ich werde verrückt, dachte ich. Ich legte den Kopf zurück und lehnte ihn gegen den Megalith. Meine Lippen bogen sich nach oben. Mein Mund öffnete sich. Ein irres Gelächter wanderte meine Kehle hinauf. Es steckte in meinem Rachen; es war kurz davor, aus mir herauszubrechen.
Äste knackten.
Sofort schloss ich meinen Mund und nahm den Kopf vor. Mit großen Augen starrte ich vor mich hin und lauschte. Im Unterholz knackte es abermals. Es war ganz in der Nähe. Mein Körper versteifte sich. Ich wagte es nicht, Luft zu holen aus Angst, man könnte es hören. Ich vernahm andere Geräusche, die ich nicht recht zuzuordnen wusste. Ich hörte ein Ächzen und Stöhnen. Anzeichen von Anstrengung. Zunächst konnte ich mir keinen Reim auf sie machen, doch auf einmal war ich mir des Steins in meinem Rücken nur allzu bewusst. Ich runzelte die Stirn und überlegte. Konnte es wirklich sein, dass…? Wenn es so war, hätte ich keine Chance davonzukommen, egal in welche Richtung ich lief. Und wenn ich einfach sitzen blieb, wie groß war die Möglichkeit, dass er mich, hockend hinter dem Stein, nicht fand? Sie war verschwindend gering. Die erste Option schien mir, wenn auch nur sehr wenig, attraktiver. Bevor ich noch länger darüber nachgrübeln konnte, stemmte ich mich mit den Armen hoch, stellte die Füße auf und zählte bis drei. Dann rannte ich los. Einfach gerade aus. Nur weg von meinem Vater, der den Megalith erklommen hatte.
Ein markerschütternder Schrei gellte durch den Wald. Vögel, die in den Wipfeln der Buchen und Eichen gesessen hatten, wurden aufgescheucht und flogen davon. Im Rennen warf ich einen Blick über meine Schulter. Mir stockte der Atem, als ich sah, wie mein Vater von dem riesigen Stein sprang. Mir spielten meine Sinne sicherlich Streiche, doch ich glaubte, er würde vom Wind getragen und fliegen. Seine Beine waren gestreckt. Die Arme, zunächst hoch über seinem Kopf, senkten sich langsam wie die Flügel eines Adlers. Für einen Moment schien er in der Luft zu schweben. Dann begann sein Sinkflug, und er landete mit beiden Füßen auf der Erde, als hätte er nie etwas anderes getan. Er wankte nicht; sein Stand war fest wie der eines Baumes. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ihm in die Augen. Der Zorn, der aus ihnen sprach, traf mich mit solch einer Wucht, dass mir die Luft aus der Lunge getrieben wurde. Ich japste und versuchte Sauerstoff in meinen Körper zu ziehen. Mir wurde schwindelig. Ich taumelte von links nach rechts. Die Bäume tanzten plötzlich um mich herum. Meine Ferse blieb an irgendetwas hängen, und ich verlor vollends das Gleichgewicht. Meine Arme ruderten wild umher und suchten nach Halt. Doch da war nichts, was mich vor dem Fall bewahren konnte. Ich landete hart auf dem Waldboden und blieb auf dem Rücken liegen. Meine Augäpfel rollten in ihren Höhlen herum. Sie wussten nicht, wo oben oder unten war. Das Laub der Bäume drehte sich im Kreis. Das Sonnenlicht schimmerte zwischen ihnen hindurch. In meinen Ohren rauschte es. Ich wusste nicht, ob es das Blut war, das durch meine Adern hindurchfloss, oder der Wind in den Buchen und Eichen. Ich stöhnte leise. Mein Kopf rollte auf dem Waldboden von einer Seite auf die andere. Mein Schädel pochte, und ich hatte große Schmerzen. Ich musste ganz schön heftig mit ihm aufgekommen sein.
***
Heute nehme ich stark an, dass ich damals eine Gehirnerschütterung hatte. Ich bin zwar kein ausgebildeter Arzt, doch ich habe in meiner Funktion als der Lehrer einiges an medizinischem Wissen sammeln können. Es ist unbedingt notwendig, auch auf diesem Gebiet unterrichtet zu werden, schließlich bin ich die erste und oftmals einzige Person, an die sich die Jäger wenden können, wenn sie Beschwerden haben. Und glauben Sie mir, da gibt es viele! Kratzwunden von Krallenmonstern, Bisswunden durch Vampire, Schürfwunden, Knochenbrüche, Verstauchungen, Prellungen, ausgerenkte Schultergelenke, Platzwunden nach wirklich harten Nahkämpfen und eben auch Gehirnerschütterungen, um zurück zum Thema zu kommen. Ich erinnere mich an die Symptome, die ich in dem Wald als Kind hatte, und bin sicher, dass ich mir eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte.
***
Zum zweiten Mal in kürzester Zeit musste ich mich übergeben. Mir war furchtbar zumute. Nach Wegrennen war mir ganz und gar nicht mehr. Ich wollte einfach nur liegen bleiben und mich möglichst nicht bewegen. Meine Augenlider wurden schwerer; ich wollte am liebsten schlafen, mich ausruhen und von Maman träumen. Ich lächelte bei dem Gedanken an sie.
„Hoch mit dir!“ Hände packten mich an den Schultern und zerrten mich hoch. Prompt schlug ich die Augen auf und sah mich direkt meinem Vater gegenüber. War mir mein Interesse an einer Flucht vor ihm vor wenigen Momenten abhandengekommen, so war es nun wieder da! Egal wie schlecht es mir ging, aber mich ihm einfach so zu ergeben, ohne jeglichen Widerstand, war für mich keine Option. Ich wand mich in seinen Händen, schrie, schlug und trat um mich. Ich hörte, wie mein Vater vor Schmerz aufschrie. Innerlich jubelte ich. Ich musste ihn mit irgendeiner Gliedmaße getroffen haben. Ich war mir nicht sicher, mit welcher. Meine Augen waren geschlossen. Ich wehrte mich einfach blind. Mein Kopf schnellte vor, und ich schnappte mit meinen Zähnen nach dem Mann, der mich festhielt. Ich senkte den Kopf zu meiner Schulter und biss ihn in die Hand. Er jaulte wie einer der Straßenköter in der Stadt, die mit Füßen getreten werden, und ließ mich abrupt los. Ich landete auf meinem Hosenboden, ging schnell auf die Knie und krabbelte so schnell ich konnte von meinem Vater weg. Ich kam nur wenige Meter weit, als mich eine neue Welle der Übelkeit überkam. All die Aufregung, die hastigen Bewegungen und der angeschlagene Kopf waren zu viel auf einmal. Ich musste wieder brechen. Noch während ich dabei war, mir die Seele aus dem Leib zu kotzen, spürte ich, wie etwas an meinem Fuß zog. Ich wirbelte herum und sah die Hand meines Vaters, die sich um meinen Knöchel geschlossen hatte. Er umfasste auch noch den anderen und zerrte meine Beine in die Luft. Dann lief er los und schleifte mich durch den Wald.
„Lass mich los! Lass mich los, Papa!“, schrie ich und versuchte meine Beine zu befreien. Meine Bemühungen waren jedoch nutzlos. Ich hatte meine Kraft aufgebraucht. Mein Vater hingegen strotzte nur so vor Energie. Er war mir bei Weitem überlegen.
„Willst du sterben, Michael?“, fragte er mich plötzlich, blieb stehen und drehte sich zu mir herum, ließ meine Beine aber nicht los. Er deutete mit dem Kopf nach rechts und sah mich aufmerksam an. Ich folgte seiner stummen Aufforderung und sah das nicht weit von uns entfernt gelegene Ufer des Baches und die von der Sonne glitzernde Wasseroberfläche. Panik stieg in mir auf. Ich schüttelte rasch den Kopf, was einen erneuten Schwindelanfall auslöste. „Dann sieh endlich ein, dass es vorbei ist. Du kannst mir nicht entkommen“, sagte er. Dann wandte er mir wieder den Rücken zu und schleifte mich weiter durch den Wald. Ich wusste nicht, was das sollte, was er vorhatte. Hatte er vielleicht doch nicht gelogen, als er gesagt hatte, wir würden irgendwo anders ein neues Leben beginnen? Hatte ich überreagiert? Ich weiß nicht, wieso mein Vater mich nicht an Ort und Stelle umbrachte, so wie er es schon vor Jahren hatte tun wollen. Er hätte es tun können. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen. Wieso ließ er mich am Leben, wenn er mich so sehr verabscheute? Als er mich durch den Dreck zerrte wie einen Sack Kartoffeln, wollte ich um jeden Preis leben. Hätte ich geahnt, was mir bevorsteht, ich wäre lieber gestorben.