Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1) - Nadja Losbohm - Страница 14
9. Kapitel
ОглавлениеIch warf mich von einer Seite auf die andere, doch mein sogenanntes Nachtlager wurde dadurch auch nicht bequemer. Der Boden war schlichtweg zu hart. Mir fehlte ein Kissen für den Kopf. Außerdem war mir nach wie vor übel, in meinem Schädel pochte es unentwegt und meine feuchten Kleider klebten auf meiner Haut. Mittlerweile war unter ihnen eine unangenehme Wärme entstanden, die mich an die Schwüle erinnerte, die vor einem Gewitter im Hochsommer herrscht. Man wusste bei solchen Witterungsbedingungen nie, was man tun sollte: frieren oder schwitzen? Genauso ging es mir jetzt. Doch dies war noch nicht alles, was mich vom Schlafen abhielt. Hinzu kam das immer wiederkehrende Gemurmel meines Vaters, das von der anderen Seite des Raumes zu mir herüberdrang. Er faselte etwas von: „Der Boden ist geheiligt. Vor der Nacht bin ich sicher.“ Ich hatte keine Ahnung, was diese Worte zu bedeuten hatten, aber es war recht interessant, dass er davon sprach, dass er sicher war und nicht wir. Hatte er diese Sätze gesprochen, kehrte für eine Weile Ruhe ein. Ich atmete erleichtert aus und wagte mich an einen neuen Versuch, Schlaf zu finden. Doch dann ertönte meines Vaters Stimme abermals und ließ mich zusammenfahren. Dieses Schauspiel hielt nun schon die halbe Nacht an. Als er anfing, zum tausendsten Male dieselben Worte zu murmeln, setzte ich mich auf und lugte hinter der Stiege hervor, um nach ihm zu sehen. Er saß noch immer vor dem Regal, wo er sich niedergelassen hatte, umklammerte die Amphore mit dem Cidre darin und starrte zu mir herüber. Der Schein der Kerze neben ihm zeichnete dunkle Schatten auf sein Gesicht und verlieh seinen Augen einen unwirklichen Schimmer und Ausdruck, sodass sie wirkten, als wären sie nicht von dieser Welt. Während er mich beobachtete, wiegte er seinen Oberkörper vor und zurück. „Der Boden ist geheiligt. Vor der Nacht bin ich sicher“, sagte er.
„Wieso fürchtest du die Nacht?“, wollte ich von ihm wissen. Mein Vater hörte prompt damit auf, vor und zurück zu schaukeln, und gab einen langgezogenen Seufzer von sich. Dann schüttelte er den Kopf, und als er seinen Blick wieder auf mich richtete, war der entrückte Ausdruck in seinen Augen verschwunden. „Wieso fürchtest du die Nacht?“, wiederholte ich meine Frage für den Fall, dass er sie in der Welt, in der er zuvor gewesen war, nicht gehört hatte. „Du hast so oft unter freiem Himmel geschlafen, wenn du weggefahren bist. Ich dachte, du wüsstest, wie es ist, nachts draußen zu sein.“
Mein Vater schnaubte. „Ich habe nie in der Wildnis geschlafen. Ich habe mir stets ein Dach gesucht, unter dem ich sicher war. Nur wer den Tod freiwillig sucht, bleibt in der Dunkelheit draußen“, antwortete er.
„Wieso das?“, fragte ich. Neugierig geworden, kam ich weiter hinter der Treppe hervor und hoffte auf Erklärungen. Doch ich wurde enttäuscht. Mein Vater schien zu denken, er habe bereits zu viel preisgegeben und hielt den Mund. „Was ist da draußen?“, versuchte ich es erneut, ihn zum Sprechen zu bewegen, aber er war schon wieder in das Schaukeln verfallen und in seine eigene Welt eingetaucht. „Papa?“
„Still jetzt! Ich will nichts mehr hören“, sagte er streng, setzte die Amphore an die Lippe und nahm einen ordentlichen Schluck. Als er genug getrunken hatte, stellte er das Gefäß beiseite, wischte sich den Mund ab und lehnte den Kopf zurück gegen das Regal. „Vor der Nacht bin ich sicher, bin ich sicher. Vor der Nacht bin ich sicher, sicher, sicher“, flüsterte er.
Es war wie eine Art Singsang, mit dem er sich selbst Mut zuzusprechen schien. Aber wozu brauchte er Mut, wenn er doch auf geheiligtem Boden sicher war, wie er so oft gesagt hatte? In dem Moment, in dem ich diesen Gedanken hatte, sah mich mein Vater an, und plötzlich begegneten mir in seinen Augen Zweifel und Angst. Das, woran er glaubte, war ins Wanken geraten allein durch die Tatsache, dass ich vor ihm saß. Ich war es, den er als die Nacht ansah. Doch diese Nacht war nun hier, auf dem geheiligten Boden der abgebrannten Kirche, obwohl es nicht möglich sein sollte. Zumindest glaubte mein Vater daran. Großartig! Nicht nur, dass ich seiner Meinung nach einen Dämon in mir hatte. Nein. Jetzt war ich auch noch die lebendige, atmende Nacht höchstpersönlich.
Seufzend kroch ich zurück hinter die Stiege und legte mich hin. Ich war es so leid, dem Irrsinn meines Vaters ausgesetzt zu sein und als Monster oder Kreatur des Bösen angesehen zu werden. Von mir aus, dachte ich und spürte, wie mich eine gewisse Gleichgültigkeit überkam, die auch Ruhe mit sich brachte. Ich konnte meinen Vater nicht vom Gegenteil überzeugen, dass ich nicht die Nacht war, und dass ich es geschafft hatte, den heiligen Boden zu betreten, half auch nicht dabei, ihn umzustimmen. Was auch immer er von dieser Wendung hielt, ich glaubte, letzten Endes fürchtete er sich mehr vor mir als ich mich vor ihm. Und was ich außerdem verstand, war, dass er mir schon früher etwas hätte antun können, wenn er es gewollt hätte. Ich war lange Zeit ohnmächtig gewesen. Doch anstatt mich zu erschlagen, den Wagen einen Abhang hinunterstürzen zu lassen oder mich irgendwo auszusetzen, hatte er mich in Ruhe gelassen und hierher gebracht, wo wir, nicht nur er, sicher waren, auch wenn sein Weltbild gerade dabei war einzustürzen.
Ich danke dir, Gott, dass Du mir geholfen hast, dies zu erkennen, dachte ich. Eine wohlige Wärme durchflutete mich, die wie eine Antwort auf meine Danksagung war. Ja, Gott war bei mir. Er hatte mich bis hierher beschützt. Er würde mich weiterhin beschützen. Ich hatte einen himmlischen Helfer, den Helfer schlechthin. Ich lächelte in der Dunkelheit und schloss die Augen. Und wenig später schlief ich ein.
„Steh auf! Es ist Zeit aufzubrechen.“ Auf die wenig freundlichen Worte folgte die unsanfte Berührung einer Schuhspitze, die mir ins Bein stieß.
Stöhnend setzte ich mich auf und rieb mir über die noch müden Augen. „Wie spät ist es?“, fragte ich meinen Vater.
„Spät genug. Hoch mit dir!“, befahl er und stieß mich erneut mit dem Fuß an. Über Nacht schien er eine neue Art von Schikane gefunden zu haben, die ihm offenbar viel Vergnügen bereitete. Bevor er mir noch weitere blaue Flecken verpassen konnte, kam ich unter dem Getreidesack hervor und stand auf. Mein Vater entfernte sich von mir und lief hinüber zu den mit Essensvorräten gefüllten Regalen. Ich beobachtete ihn dabei, wie er sich ein Frühstück genehmigte in Form von Käse, Pökelfleisch und Quitten. Gierig schlang er alles hinunter, als gäbe es kein Morgen, und suchte sich zusätzlichen Proviant für unsere Weiterfahrt. Mein Magen knurrte, und ich verspürte einen Appetit auf die Köstlichkeiten, in dem ich ein Zeichen für meine Genesung sah. Ich hatte nach wie vor Kopfschmerzen, aber mir war nicht mehr schlecht. Ich fror auch nicht mehr. Selbst meine Kleider waren getrocknet. Alles in allem fühlte ich mich besser. In der Nacht hatte ich davon geträumt, krank geworden zu sein. Ich hatte mich auf dem Wagen meines Vaters liegen gesehen, hustend, niesend und im Fieberwahn. Selbst jetzt noch hörte ich meinen röchelnden Atem und überlegte, ob es wirklich nur ein Traum gewesen war oder ich tatsächlich gehustet hatte. Es hatte sich so echt angefühlt! Wenn dem so gewesen sein sollte, hatte Gott sein Versprechen gehalten, mich beschützt und geheilt. Ich fühlte mich bei Weitem besser als tags zuvor. Mit neuer Kraft machte auch ich mich daran, etwas zu essen. Als ich einen Bissen vom Käse nahm, glaubte ich erneut zu träumen, so gut schmeckte er. Ich hatte nie etwas Besseres gegessen.
„Wir müssen los!“, hörte ich meinen Vater hinter mir sagen. Immer noch kauend wandte ich mich um und fand ihn auf der Stiege stehend vor. Mit seinen Händen drückte er die Metalltür über sich auf. Quietschend öffnete sie sich, und ein erster heller Sonnenstrahl fiel in den Raum. Mein Vater kletterte weiter die Treppe hinauf und drückte gleichzeitig die Luke nach oben, bis sie schließlich krachend auf den mit Asche bedeckten Boden der Kirche fiel. Bei dem Geräusch zuckte ich zusammen, zog Kopf und Schultern ein und stöhnte, weil mir der Lärm in den Ohren wehtat. „Wir haben noch ein weites Stück des Weges vor uns. Komm jetzt!“, forderte er mich auf und sah, auf der obersten Stufe stehend, zu mir herüber. Das grelle Sonnenlicht strahlte ihn von hinten an, sodass ich nur seine dunkle Silhouette erkennen konnte. So ist das also? Es gab genügend Zeit, damit er sich satt essen und sogar Verpflegung für unterwegs einpacken konnte, aber für mich gab es nicht einmal so viel Zeit, wie es für einen Hahn braucht zu krähen? Innerlich ärgerte ich mich über sein Verhalten und wäre am liebsten trotzig dort geblieben, wo ich war. Aber ich wusste auch, dass es sinnlos gewesen wäre. Er hätte ohnehin seinen Willen durchgesetzt. Auf die eine oder andere Weise. Somit brach ich mir ein weiteres Stück Käse aus dem Laib heraus, angelte mir zwei Äpfel und eine Karotte und stopfte alles in meine Hosentaschen. Dann lief ich zu meinem Vater hinüber und folgte ihm nach draußen.
Die Sonne stand bereits hoch über den Wipfeln der Bäume und wärmte mein Gesicht. Es muss schon fast Mittag sein, dachte ich. Es war sicherlich um einiges später, als mein Vater geplant hatte. Natürlich gab er mir auch daran die Schuld, während ich der Meinung war, dass es sicher an dem vielen Wein lag, der ihn so schläfrig gemacht und ihm Mühe bereitet hatte aufzustehen. Selbstverständlich sprach ich meine Vermutung nicht laut aus. Grundgütiger, nein! Meines Vaters Stimmung war ohnehin auf ihrem Tiefpunkt angelangt, da brauchte es nicht noch weitere Provokation meinerseits. Stattdessen kletterte ich im strahlenden Sonnenschein an jenem Tag auf die Ladefläche unseres Wagens, lauschte dem lieblichen Gezwitscher der Vögel und dem Gemecker meines Vaters und dachte mir meinen Teil. Sein Gezeter ließ nicht einmal nach, als er auf den Bock stieg, die Zügel in die Hand nahm und die Pferde dazu antrieb, sich vorwärtszubewegen. Derweil schaute ich hinauf zum blauen Himmel, an dem keine einzige Wolke hing. Gelegentlich flog ein Vogelschwarm vorüber, und ich versuchte, mich damit zu beschäftigen herauszufinden, welcher Art sie angehörten. Natürlich bewegten sie sich viel zu weit oben, als dass man es erraten konnte. Also konzentrierte ich mich darauf, die unterschiedlichen Formationen zu bewundern, in denen die Schwärme flogen. Ob man daran ausmachen konnte, zu welcher Art sie gehörten? Weise Menschen hätten diese Frage sicher beantworten können, mein Vater hingegen nicht, ganz zu schweigen davon, dass ich es nicht einmal wagte, einen Laut von mir zu geben.
Plötzlich stoppte der Wagen, wodurch ich schlagartig aus meiner Trance geholt wurde, in die mich das stete Gerüttel und der vorüberziehende Himmel hatten fallen lassen. Ich schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. Mein Blick klärte sich, und ich entdeckte, dass die Sonne bereits weitergewandert war. Ihr veränderter Stand verriet mir, dass es mittlerweile Nachmittag sein musste.
„Du wirst still sein, Michael. Wenn du etwas Dummes sagst oder tust, ändere ich meine Meinung und werde dich gleich hier und jetzt los. Hast du das verstanden?“, flüsterte mein Vater, ohne sich zu mir herumzudrehen.
Seine Worte verwirrten mich. Ich wusste nicht, was los war und verstand nicht, wie er auf die Idee kam, ich könnte etwas Dummes sagen oder tun. Das hatte ich doch hinter mir, und in den letzten Stunden hatte ich mich meinem Erachten nach tadellos benommen. Wieso sollte ich nun etwas daran ändern? Doch dann hörte ich die Stimme eines Mannes, der einen Gruß rief, und ich zählte eins und eins zusammen. Wir waren auf jemand Fremdes gestoßen und mein Vater fürchtete, ich könnte demjenigen durch ein Wort oder eine Tat zu verstehen geben, was er mit mir vorhatte. Der Tonfall, mit dem er die Drohung ausgesprochen hatte, ließ aber keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte. Ich glaubte ihm und traute es ihm zu, dass er sie Wahrheit werden lassen würde, sollte ich irgendetwas versuchen. Ich traute es ihm ebenfalls zu, dass er nicht nur mir etwas antun würde, sondern auch demjenigen, auf den wir getroffen waren. Dafür wollte ich nun wirklich nicht verantwortlich sein. Erst recht nicht, als ich mich erhob, an meinem Vater vorbei schaute und sah, dass es ein einfacher Bauer und dessen Frau waren, die sich uns winkend näherten.
„Seid gegrüßt, Reisende. Woher kommt ihr, und wohin wollt ihr?“, fragte der Mann lächelnd. Er hatte ein rundes Gesicht mit grünen wachsamen Augen, einer Knollnase und einem dunklen Schnauzbart darin, in dem sich einige silberne Härchen zeigten. Auf seinem schwarzen Haupthaar saß ein heller breitkrempiger Hut. Er trug ein weißes Leinenhemd und dunkelbraune Beinlinge, die mit schwarzen Binden umwickelt waren, und schwarze Lederstiefel: die typische schmucklose Kleidung der einfachen Bevölkerung.
„Wir kommen aus der Nähe von Auray, und wir wollen nach Guingamp“, antwortete mein Vater. Ich sah ihn von der Seite an und staunte darüber, dass er log, ohne rot zu werden. Nun, ich war nicht sicher, ob alles, was er gesagt hatte, falsch war, aber eines stimmte auf keinen Fall: Wir stammten nicht aus Auray! Nicht einmal aus der Nähe. Was den anderen Ortsnamen anging – von dem hatte ich noch nie gehört. Dem Bauern allerdings schien er geläufig zu sein.
„Da habt ihr noch eine weite Strecke vor euch. Ihr seid in der Nähe von Loudéac. Ihr benötigt bestimmt noch zwei Tage für diese Reise“, erklärte er uns. Seine Frau, die mittlerweile zu ihrem Mann gestoßen war, nickte zustimmend. Auch sie hatte ein volles rundes Gesicht mit roten Wangen und Grübchen darin. Ihre blauen Augen leuchteten, als sie mich sah, und ihr Lächeln wurde breiter. Ich mochte sie sofort. Sie strahlte Freundlichkeit und Wärme aus. Alles, was ich bei meiner Mutter gehabt hatte. Am liebsten wäre ich vom Wagen gesprungen, zu ihr gelaufen und hätte mich an sie geschmiegt. Ihr runder Leib versprach Weichheit und Geborgenheit.
„Wenn du nicht so viel sabbeln würdest, wäre es sicher nur halb so viel Zeit“, murmelte mein Vater. Diese Unhöflichkeit raubte mir den Atem. Ich hoffte, der Bauer und seine Frau hatten die Worte nicht gehört.
„Was sagt Ihr? Ihr müsst lauter sprechen. Seit einer schweren Krankheit höre ich nicht mehr so gut“, meinte der Mann und tippte sich lachend an sein linkes Ohr. Ich beobachtete ihn genau, versuchte herauszufinden, ob er nur so tat als ob. Nach einer Weile kam ich zu der Überzeugung, dass er die Wahrheit gesprochen hatte. Aber was war mit seiner Frau? Sie klopfte sich die Hände an ihrer Schürze ab und schien mehr damit beschäftigt zu sein, ihre Haare zu richten, die durch die harte Arbeit durcheinandergeraten waren. Auch sie schien nichts von dem gehört zu haben, was mein Vater gesagt hatte. Ich konnte mich also entspannen. Wie war das gewesen? Nichts Dummes tun oder sagen? Mein Vater sollte sich besser selbst an das halten, was er anderen riet.
„Ich sagte: Wisst Ihr, ob es in Loudéac ein Wirtshaus gibt, wo wir einkehren können?“, fragte er.
Der Bauer nickte. „Ja, ja. Da gibt es ein Wirtshaus, aber es ist sehr kostspielig, eine Nacht dort zu verbringen und etwas zu essen zu kaufen.“
„Das lasst nur unsere Sorge sein, guter Mann“, erwiderte mein Vater, wohl darauf bedacht, nicht zu verraten, ob und wie viel Geld wir bei uns trugen. Er verhielt sich äußerst besonnen und vorsichtig. Das musste ich ihm lassen. Er wusste genau, was er tat, vertraute dem Fremden nicht.
„Ihr könnt gern für heute Nacht bei uns bleiben. Wir haben genügend Platz und reichlich zu essen. Und uns müsst ihr nichts dafür zahlen“, meinte der Bauer und lachte lauthals. Ich staunte über seine Herzensgüte, mit der er uns begegnete, obwohl er uns nicht kannte. „Es wird ohnehin bald dunkel. Dann könnt ihr den Weg nicht mehr erkennen. Unser Haus steht nicht weit von hier. Es würde uns sehr freuen, Gesellschaft zu haben“, redete der Mann weiter auf meinen Vater ein. Dieser schüttelte jedoch den Kopf und meinte, dass wir es schon schaffen würden, rechtzeitig dort einzutreffen.
„Eine kräftige Mahlzeit würde dem Jungen sicher guttun“, mischte sich nun die Bauersfrau ein und deutete auf mich. „Er sieht ein bisschen kränklich aus. Wann hast du das letzte Mal etwas Anständiges gegessen, Junge?“, fragte sie mich.
Ich holte Luft und setzte zu einer Antwort an, als mein Vater mir zuvorkam. „Es geht ihm gut. Habt Dank für das freundliche Angebot, aber wir wollen Euch nicht zur Last fallen. Lebt wohl“, sagte er, und bevor die beiden etwas erwidern konnten, gab mein Vater den Pferden die Zügel und wir fuhren davon. Er trieb die Tiere heftig an, als wären wir auf der Flucht vor dem Bauer und dessen Frau, die in der Ferne immer kleiner wurden.
Loudéac unterschied sich sehr von der Stadt, in die mich mein Vater früher mitgenommen hatte. Die Häuser waren zwar auf die gleiche Bauweise erschaffen worden, allerdings wurden sie hier durch befestigte Straßen aus Pflastersteinen miteinander verbunden, anstatt dass man durch aufgeweichte Erde, übersät von Abfall und tierischen und menschlichen Exkrementen, waten musste. Es gab links und rechts der Straßen schmale Rinnen, in denen aller Unrat entsorgt wurde und aus denen ein beißender, bestialischer Gestank aufstieg. Vom Wagen aus sah ich all das an mir vorüberziehen und dachte, wie froh ich war, dass ich nicht durch diese schwarzbraune Brühe gehen musste. Als mein Vater uns über die Pflastersteine fuhr, war es zunächst reichlich seltsam für mich, das Rütteln und Holpern zu spüren, das dafür sorgte, dass mein ganzer Körper kribbelte, und den Lärm zu hören, den die Räder bei der Fahrt über den harten und unebenen Belag verursachten. Doch nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt und schaute mir die Stadt an.
Menschen über Menschen tummelten sich in den Straßen und Gassen, sprangen unserem Wagen aus dem Weg, schauten aus den Fenstern ihrer Häuser und riefen sich einander zu. Bekannte trafen sich zufällig, plauderten ein wenig und zogen dann wieder ihrer Wege. In der Ferne hörte ich Metall auf Metall schlagen und dachte sofort, dass diese Klänge nur von einem Ort stammen konnten: der Schmiede. Es war herrlich, dieses bunte Treiben zu sehen, und ich staunte, wie lebhaft es immer noch war, obwohl der Abend bereits angebrochen war. Ich beobachtete gerade einen Töpfer und dessen Lehrling, wie dieser von seinem Meister gescholten wurde, weil er Ware zerbrochen hatte, als ich meinen Vater reden hörte. Ich dachte, er hätte mich gemeint. Doch als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich, dass er sich mit einem Einheimischen unterhielt, der ihm die Wegbeschreibung zum Wirtshaus gab. Mein Vater nickte und lenkte den Wagen in die angegebene Richtung. Der Töpfer verpasste seinem Lehrling eine schallende Ohrfeige. Dann bogen wir um eine Ecke und die beiden verschwanden aus meinem Blickfeld.
Wenig später saßen wir an einem runden Tisch, dessen Oberfläche klebrig und krümelig war, in Loudéacs einzigem Wirtshaus. Wären die Umstände anders gewesen, hätte mein Vater darauf verzichtet, mich in ein solches Etablissement zu bringen. Doch wir brauchten eine Unterkunft für die Nacht und etwas zu essen. Da war es zweitrangig, dass in dem Wirtshaus Männer Spiele mit Messern spielten, andere sich prügelten, ohne dass jemand dazwischen ging, und Frauen mit wilden Haaren und wenig Stoff am Körper sich über Tische hinweg legten, um den Männern schöne Augen zu machen. Ich sah auch erstaunt zu, wie sich einige der Damen auf die Schöße von betrunkenen Kerlen setzten und diese lachend ihr Gesicht im Busen der Frauen vergruben, die dies auch noch lustig fanden.
„Ist das hier auch heiliger Boden, der uns vor der Nacht beschützt?“, fragte ich leichtsinnigerweise meinen Vater. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. Nicht, wenn er die entblößten Beinen einer blonden Frau begaffte, obwohl meine Mutter noch nicht einmal eine Woche tot war. Hatte er sie etwa bereits vergessen?
Mein Vater löste den Blick von der blonden Frau und sah mich grimmig an. Er hob seinen Arm und ließ ihn vorschnellen – direkt auf mich zu. Abwehrend hielt ich meinen Arm vor mein Gesicht und wich zurück. Als der Schlag nicht kam, entspannte ich mich wieder auf meinem Stuhl und ließ den Arm sinken. „Wo ist dein Mut plötzlich hin? Zuckst vor mir zurück wie ein kleines Mädchen. Wenn du mir etwas sagen willst, dann tue es gefälligst geradeheraus“, grummelte er und schob sich einen Löffel Eintopf in den Mund, den er bestellt hatte. Die Suppe lief ihm aus den Mundwinkeln, rann ihm über das Kinn und tropfte auf sein Hemd. Er wischte sich mit dem Handrücken die Flüssigkeit ab und trocknete ihn an seiner Hose. Während er sich vollstopfte, hatte ich nur zwei Löffel von dem Eintopf herunterbekommen, an dessen Oberfläche große Fettaugen schwammen und aus dem mich etwas anblickte, das aussah wie Regenwürmer oder gar Rattenschwänze.
„Wie kommst du darauf, dass ich ein Dämon bin?“, fragte ich meinen Vater unverblümt, so wie er es verlangt hatte.
Er tunkte ein Stück Brot in sein Essen, wartete, bis es sich vollgesogen hatte und legte es sich auf die Zunge. Langsam schloss er den Mund und kaute genüsslich darauf herum. Noch während er mit seinen Zähnen das Brot zerkleinerte, beantwortete er mir meine Frage. „Ich brauche dich nur anzusehen“, er richtete seine Augen auf mich, „und weiß, dass es so ist. Alles an dir schreit nach Verderbtheit.“ Ich schluckte schwer bei diesen Worten. Ich sah meiner Mutter sehr ähnlich, aber in ihr hatte er nie einen Dämon gesehen. Was war so anders an mir? Traurig sah ich auf meinen Teller hinunter. Eine Blase stieg vom Boden an die Oberfläche auf und zerplatzte. Es hätte nicht noch eines weiteren Zeichens bedurft, um zu wissen, dass dieses Essen ungenießbar war. Die Gesellschaft tat ihr Übriges. Ich schob den Eintopf von mir und streckte die Hand nach dem letzten Stück Brot aus, das auf einem Teller in der Mitte des Tisches lag. Meine Fingerspitzen berührten es bereits, als mir mein Vater das Stück vor der Nase wegschnappte. „Du wirst bald weitaus weniger als das zwischen die Zähne bekommen. Gewöhne dich am besten schon jetzt daran“, meinte er, wischte mit dem Brot seinen Teller ab und verschlang es mit einem hämischen Grinsen im Gesicht.
„Stimmt es? Fahren wir nach Guingamp?“, fragte ich ihn.
„Pah!“, rief er aus. „Glaubst du wirklich, ich hätte dem Trottel unseren Weg verraten? Wir reisen nicht nach Guingamp“, teilte er mir mit. Auch wenn es mich schmerzte, aber ich glaubte, das war das erste Mal seit unserem Aufbruch, dass mein Vater die Wahrheit sagte.
„Und wohin fahren wir dann?“
„Das wirst du früh genug erfahren. Isst du das noch?“, fragte er mich und deutete auf meinen vollen Teller. Ich schüttelte den Kopf und schob angewidert den Eintopf zu ihm hinüber. Wie konnte er diesen Fraß nur essen? „Wenn ich fertig bin, gehen wir schlafen. Ich habe dem Wirt eine Münze mehr bezahlt, damit er uns morgen früh weckt. Wir brechen bei Tagesanbruch auf“, verkündete er. „Am Abend werden wir an unser Ziel gelangen und du…“ Er ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen, aber ich wusste, was er sagen wollte: Ich würde in mein neues Heim kommen und weggesperrt werden. Er würde mich endlich los sein.