Читать книгу Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1) - Nadja Losbohm - Страница 7

2. Kapitel

Оглавление

Als ich für meine Mutter Wasser vom Bach holen sollte, damit sie das Geschirr säubern konnte, protestierte ich und meinte, ich hätte mich noch nicht ganz erholt. Alles, was sie dazu sagte, war: „Wer am Morgen nach einer Nacht voller Bauchweh und Übelkeit schon wieder Süßigkeiten naschen kann, der kann auch zum Bach laufen und Wasser für seine Mutter holen, meinst du nicht, chéri?“ Dann tätschelte sie meine Wange und lachte, als ich grimmig dreinblickend mit den Eimern in den Händen loszog. Auch wenn ich ihr Ein und Alles war, an der Nase herumführen konnte ich sie nicht. Sie wusste ganz genau, wann ich keine Lust hatte und nur so tat als ob.

Den Weg mit den leeren Eimern hinter sich zu bringen, ist ein Leichtes. Doch wenn die Behältnisse bis an den Rand mit Wasser gefüllt sind, verlangsamt es den Träger und der Weg zieht sich mit jedem Schritt mehr in die Länge, und die Eimer werden schwerer. Ich schaffte es schließlich doch, das Wasser zu meiner Mutter zu bringen, und strahlte sie überglücklich an, als ich das Haus betrat. Wenn ich aber dachte, sie würde mich dafür loben und mich von weiteren Arbeiten freisprechen, lag ich falsch. Sie sprach kein Wort der Anerkennung aus, sondern scheuchte mich gleich wieder nach draußen, um die Hühner zu füttern.

Maman!“, klagte ich, aber sie ließ sich nicht erweichen.

„Nun geh schon, Michael. Du weißt, es ist deine Aufgabe“, sagte sie.

Als auch das getan war, schlurfte ich zurück zu unserem Haus, in der Erwartung, gleich den nächsten Auftrag zu erhalten. Wenig begeistert trat ich daher ein und stellte mich wie ein Soldat vor meine Mutter, bereit, den nächsten Befehl in Empfang zu nehmen und auszuführen. Zu meiner Überraschung kam dieser nicht. Dafür erhielt ich einen sanften Kuss auf meinen dunklen Haarschopf und ein gehauchtes Merci, mon chéri. Verwundert hob ich meinen Kopf, strich mir ein paar Haarsträhnen, die mir über die Augen gefallen waren, zurück, und sah endlich das wunderbare Lächeln meiner Mutter, auf das ich den ganzen Morgen gewartet hatte. Sie so zu sehen, war das Schönste, was es in meiner kleinen Welt gab. Es war sogar noch herrlicher als der Buchweizenkuchen! Dies war das letzte Mal, dass ich sie so strahlend sah.

Der Klang von Pferdehufen, die über harten, trockenen Boden galoppieren, ertönte völlig unerwartet. Meine Mutter hielt abrupt in der Bewegung inne und ließ das Tuch, mit dem sie den Tisch abwischte, los.

„Ist es Papa?“, fragte ich und wollte zur Tür eilen, um nachzusehen, als meine Mutter mich am Arm packte und zurückhielt. Ich sah zu ihr auf und las die Antwort auf meine Frage von ihrem Gesicht ab: Es war nicht mein Vater.

„Du bleibst, wo du bist, Michael!“, sagte sie und drängte mich zurück ins Zimmer.

Ich tat, wie mir geheißen wurde, während sie zum Fenster ging und nach draußen sah. Ich hörte sie leise fluchen und war entsetzt, solche Worte von ihr zu hören. Meine Maman fluchte nie! Aber das hier war eine Situation, in der es für sie in Ordnung war, es zu tun.

Hastig wirbelte meine Mutter herum und fing an, den Tisch beiseitezuschieben. Mit großen Augen sah ich dabei zu. Ich verstand nicht, was los war. „Maman, wer ist da?“, fragte ich.

Sie kniete sich auf den Boden, sah zu mir auf und sagte: „Böse Menschen.“ In ihren Augen standen Verzweiflung und pure Angst. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Sie fing an, die Bretter aus dem Boden zu lösen. Es dauerte nur ein paar Wimpernschläge und sie war fertig damit. Plötzlich lag vor uns ein Loch, ein Geheimversteck. Ich starrte die schwarze Öffnung ratlos an. „Vite!“, rief meine Mutter. Ich sah von dem Loch zu ihr. Sie winkte mich zu sich und bedeutete mir, in das Versteck zu gehen. „Vite!“ Dieses Mal schrie sie lauter, energischer, und ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte. Ich trat näher und betrachtete das Loch erneut. Ich sah zu meiner Mutter. „Bitte, Michael, beeil dich!“, flehte sie mich an Tränen standen in ihren Augen. Weinte sie wegen mir, weil ich ihr nicht gehorchte? Das hatte ich nicht gewollt. Da ich dachte, es würde an mir liegen, dass sie weinte, gab ich mir einen Ruck und kletterte in das Loch hinunter. Sobald ich dort unten hockte, stellte ich etwas fest. „Es ist nicht genug Platz, Maman.“ Als ich sie ansah, lächelte sie und nickte nur. Da begriff ich, dass sie mir nicht folgen würde. „Maman, nein!“, rief ich und wollte wieder nach oben klettern, doch mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, drückte sie mich wieder hinunter.

„Du bleibst, wo du bist, Michael!“, sagte sie streng. „Du rührst dich nicht und gibst keinen Laut von dir. Hast du das verstanden?“

Maman, bitte, bitte! Ich mache mich auch ganz klein. Dann kannst du dich mit mir hier unten verstecken. Bitte, Maman!“, flehte ich sie an und wand mich in ihren Händen.

Non, chéri!“, rief sie und schüttelte mich heftig. Ihre Härte machte mich sprachlos. Noch nie zuvor hatte sie mich so behandelt. Alles, was ich tun konnte, war zu nicken. „Du bist mein kleiner braver Michael“, sagte sie etwas sanfter und zwang sich zu einem Lächeln. Ich versuchte es zu erwidern. Es fiel mir schwer, und es fühlte sich falsch an. „Ich liebe dich, chéri. Du bist mein Stern. Für immer“, flüsterte sie und strich mir ein letztes Mal zärtlich über die Wange. Dann ließ sie mich los und begann, die Bretter wieder an ihren ursprünglichen Platz zu legen. Erst als nur noch ein Brett fehlte, fand ich meine Stimme wieder und sagte leise: „Ich liebe dich, Maman.“ Ich hoffte, sie hatte es gehört.

Es drang nur wenig Licht durch die schmalen Ritzen zwischen den Brettern zu mir hinunter. Ein lautes Schaben von Holz über Holz erklang. Schatten zogen über mir vorüber. Ich glaube, meine Mutter hatte den Tisch wieder über das Versteck gestellt. Als das Rumpeln aufgehört hatte, hörte ich ihre Stimme sagen: „Du musst leise sein, Michael. Was auch immer geschieht, du darfst auf gar keinen Fall einen Ton von dir geben. Wenn sie dich finden, chéri…“ Sie ließ das Ende des Satzes offen. Sie war eine kluge Frau; sie ahnte wohl, was geschehen würde. Ich tat es nicht. Ich war ein Kind, das nichts von der Welt wusste und welche Schrecken in ihr wüteten. Ich wusste nichts von Raub und Mord. Für mich war es nicht vorstellbar, was ein Mensch einem anderen antun konnte. Ich hatte schon Hässliches mit ansehen müssen, wie zum Beispiel die Schlachtung eines Huhns, als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter hatte nicht gewollt, dass ich es in dem Alter schon sah, aber mein Vater hatte darauf bestanden. „Irgendwann muss er es lernen“, hatte er gemeint. Ich hatte wochenlang Alpträume von einem kopflosen Huhn, das noch atmend und lebend über unseren Hof rannte. Doch das mit Abstand Grausamste, was ich je erlebt hatte, war der Gnadenschuss, den mein Vater vor einem Jahr einem Fohlen gab, das sich das Bein gebrochen hatte. Ich war der Meinung gewesen, dass es bestimmt heilen würde und versuchte, meinen Vater umzustimmen, versprach ihm, ich würde mich selbst um das Jungtier kümmern, bei ihm im Freien schlafen und es pflegen. Ich stieß damit bei ihm auf taube Ohren. Meine Mutter hatte mir damals erklärt, wieso er es tun musste. Aber auch wenn es uns mit einem schlecht zusammengewachsenen Bein nicht mehr hätte dienen können, hätte ich wenigstens noch einen Spielkameraden und Freund gehabt. Ich hatte keine Freunde, mit denen ich toben konnte. Das Einzige, was Freunden am nächsten kam, waren die Tiere auf unserem Hof. Andere Kinder sah ich nur ein- bis zweimal im Jahr, wenn mein Vater meine Mutter und mich an unseren Geburtstagen mit auf den Markt nahm, zur Feier des Tages sozusagen. Dann durften wir uns eine Kleinigkeit aussuchen: ein Stück Geschirr, eine seltene Süßigkeit oder ein Spielzeug. Natürlich waren diese Ausflüge etwas Großartiges und Aufregendes. Mir gingen jedes Mal die Augen über vor Staunen über die Menge an Menschen und Waren, die es dort gab. Viel interessanter war es, andere Kinder zu sehen, Jungen und Mädchen, die so alt waren wie ich. Oft genug hatte ich auf unserem Hof in unserer kleinen Welt das Gefühl, ich sei das einzige Kind auf der Welt. Aber wenn ich dann die anderen Kinder sah, wusste ich, dass ich nicht allein war. Trotzdem waren sie nicht die ganze Zeit bei mir; ich konnte keine richtige Beziehung zu ihnen aufbauen, nicht einfach zu ihnen hinüberlaufen, sie nicht besuchen und meine Geheimnisse mit ihnen teilen. Meine Mutter hatte über mein Argument nur gelächelt und mir versichert, dass ich noch viele tierische Spielkameraden finden würde. Das tat ich auch, aber an keinen von ihnen erinnere ich mich so gut wie an das Fohlen. In dem Loch hockend, überlegte ich, ob das, was uns bevorstand, damit vergleichbar war, was ihm passiert war. Je länger ich darüber nachdachte, desto unheimlicher wurde es mir. „Maman, ich fürchte mich“, sagte ich. Eine Weile blieb es still, und ich dachte schon, sie hatte mich nicht gehört. Doch dann sprach sie: „Ich auch, mein Liebling. Ich fürchte mich auch.“ Wieder Stille. Dann ihre Schritte, die im Haus umhergingen. „Sie kommen immer näher und näher.“ Ihre Stimme zitterte. Ihre Schritte entfernten sich von mir. Ich konnte nur erahnen, wo im Haus sie sich befand: im Schlafbereich, an der Haustür, bei der Kochstelle. Es rumpelte und polterte. Meine Mutter fluchte; sie rannte hin und her. Sie suchte nach etwas. Schließlich gab sie einen kleinen Freudenschrei von sich und sagte: „Oui, es ist besser als nichts.“ Was auch immer sie damit meinte. Ich hörte, wie sie durchs Zimmer lief. Ich vermutete, dass sie zum Fenster ging, durch das man unseren Hof und die Felder davor gut überblicken konnte. „Mon Dieu!“, hauchte sie. „Bete für uns, Michael. Bete für ein Wunder.“

Ohrenbetäubender Lärm kam auf. Stimmen ertönten. Schwere Schritte polterten über die Fußbodenbretter. Die Fremden waren im Haus.

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan (Band 1)

Подняться наверх