Читать книгу Die Ankündigung - Nancy Mehl - Страница 19
Оглавление8
Auf der Rückfahrt zum FBI-Büro war Kaely schweigsam. Noah machte deutlich, dass er gern über das Gesehene geredet hätte. Sie aber brauchte erst einmal Zeit, um es zu verarbeiten. Schließlich schwieg auch er. Einen gekränkten Eindruck machte er aber nicht, sodass sie auf sein Verständnis hoffte.
Kaely musste sich eingestehen, dass sie sich in diesem Moment Alex an ihre Seite gewünscht hätte. Er kannte sie. Wusste, was ihr jetzt helfen würde. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr da war. Von Anfang an hatte sie ihm klargemacht, dass für sie nur die Arbeit zählte. Einzig und allein. Dass sie nicht mehr sein konnten als Kollegen. Nicht, solange sie nicht gelernt hatte, Menschen zu vertrauen, solange sie nicht wirklich in ihr Herz sehen konnte. So weit war sie noch nicht – trotz all der Fähigkeiten, die sie mit der Zeit entwickelt hatte. Manche Leute waren geschickte Lügner. Bis dahin, dass sie ihre eigenen Lügen für wahr hielten. Diese Menschen waren am schwersten zu durchschauen.
Sie konnte nicht riskieren, das gleiche Schicksal zu erleiden wie ihre Mutter – die an einen Mann geglaubt hatte, den es eigentlich gar nicht gab, der hinter seiner Maske ein ganz anderer war. Dieses Risiko war ihr zu groß. Im Moment jedenfalls war sie dazu noch nicht bereit – vielleicht würde sie es auch niemals sein. An diesem Punkt in ihrem Leben hatte sie nur ein Ziel: die Welt von Männern wie ihrem Vater zu befreien. Dafür stand sie morgens auf. Dafür lebte und atmete sie. Für etwas anderes war kein Platz. Auf einmal spürte Kaely, dass sie sogar ein wenig wütend auf Alex war. Wütend, weil er Schwäche gezeigt hatte. Wütend, weil er seinen Gefühlen nachgegeben hatte.
Kaely versuchte gegen die Emotionen anzukämpfen, die in ihr aufstiegen und ihr Herz schneller schlagen ließen. Sie warf einen Seitenblick auf Noah.
Mit angespanntem Kiefer, die Augenbrauen zusammengezogen, schaute er geradeaus. Er hatte beide Hände am Lenkrad, wirkte aber nicht so, als würde er es krampfhaft umklammern. Sein Gesichtsausdruck war konzentriert, nicht verärgert. Offensichtlich dachte er nach. Gut. Vermutlich versuchte er die Eindrücke vom Tatort zu verarbeiten. Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihm sagen sollte, dass seine Grübelei Zeitverschwendung sei. Aber man konnte ja nie wissen. Manchmal kamen Leute auf Dinge, an die sie nie gedacht hätte. Eine andere Perspektive. Doch in diesem Fall war es anders. Kaely wusste genau, womit sie es hier zu tun hatten, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wer dahintersteckte. Sie musste zugeben, dass es ihr Angst machte – ein Gefühl, mit dem sie nur schwer umgehen konnte. Deshalb kämpfte sie unablässig dagegen an. Tagsüber gelang ihr das gewöhnlich ganz gut, nachts aber überkam die Angst sie oft leise und ohne Vorwarnung. In den Albträumen, die Kaely immer wieder plagten, zeigte sie ihr Gesicht.
»Wann kommt unsere Spurensicherung in den Park?«, unterbrach Noah die Stille.
Dieses Team leistete hervorragende Arbeit. Wenn der Polizei etwas entgangen war, fanden es gewöhnlich die Kollegen von der Spurensicherung. Kaely war froh, dass Chief Harper nichts dagegen hatte, dass sie den Tatort untersuchten. »Bestimmt sind sie längst dort.« Sie seufzte. »Ich weiß, dass sie sehr sorgfältig vorgehen, aber ich bezweifle trotzdem, dass sie eindeutig feststellen können, welche Spuren von diesem Kerl stammen und welche nicht. Ein öffentlicher Park ist der perfekte Schauplatz für einen Mord. Hunderte von Menschen gehen da jeden Tag durch. Spuren ohne Ende. Und bei dem Regen …«
»Es ist schon ganz schön spät«, meinte Noah leise. »Sollten wir nicht auf dem Weg zum Büro etwas zu essen mitnehmen?«
Essen. Das hatte sie völlig vergessen. Sie konnte notfalls auch einmal einen Tag ohne Essen auskommen, es war ihr aber klar, dass bei anderen Leuten drei Mahlzeiten am Tag ein Muss waren. Alex hatte früher deswegen oft mit ihr geschimpft. »Wenn ich nur dann essen würde, wenn du mal ans Essen denkst, wäre ich längst verhungert«, hatte er oft gesagt.
»Okay«, entgegnete Kaely. »Gute Idee.«
»Was möchten Sie? Oder sollen wir vielleicht lieber Du sagen? Jetzt, wo wir Teamkollegen sind?«
»Einverstanden. Und was das Essen betrifft: Mir ist alles recht. Du hast die Wahl.«
Er wandte sich ihr zu und lächelte. »Sicher?«
Seine blau-grauen Augen erinnerten sie an Gewitterwolken. Wie passend. Sie hatte das Gefühl, dass sich dahinter etwas zusammenbraute. Was es war, konnte sie nicht sagen, und das verunsicherte sie.
»Ja. Ich bin nicht so wählerisch.«
Nach einigen Minuten fuhr er auf den Parkplatz eines chinesischen Fast-Food-Restaurants.
»Das überrascht mich jetzt aber«, bemerkte sie. »Ich hätte bei dir eher auf fette Burger und Pommes getippt.«
Er lachte leise. »Alles zu seiner Zeit. Aber das ist tatsächlich mein Lieblingsrestaurant. Ich hoffe, du magst Chinesisch.«
»Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich esse hier drei- oder viermal in der Woche.«
Noah sah sie sichtlich erstaunt an. »Das ist nicht dein Ernst! Vielleicht bin ich ja hier derjenige, der die Leute durchschaut.«
Amüsiert nickte sie. »Vielleicht.«
Noah bestellte Orangenhähnchen und Rindfleisch nach Peking-Art mit gebratenem Reis, Kaely wählte Hühnerbrust mit Brechbohnen und Gemüse. Sie musste schmunzeln. Auch wenn die chinesische Küche gesünder war als Burger – Noah verleugnete auch hier nicht seine Vorliebe für Gebratenes. So viel Unterschied war da gar nicht zu fettem rotem Fleisch.
»Krabben-Rangun?«, fragte er.
»Für mich eins«, sagte Kaely.
Noah bestellte eine kleine Portion. Zwei für ihn. Eins für sie.
Kaely wollte ihm einen Zwanzig-Dollar-Schein in die Hand drücken, aber er winkte ab. »Beim ersten Mal geht’s auf meine Rechnung.« Er bezahlte am Drive-in-Schalter und steckte das Wechselgeld in seine Hosentasche.
»Danke«, sagte Kaely. »Das nächste Mal revanchiere ich mich.«
»Wie lange wird es wohl dauern, bis wir die Ergebnisse von der Spurensicherung haben?«, fragte er, während sie auf ihre Bestellung warteten.
»Wenn wir nachher beim Essen sitzen, haben wir bestimmt schon Fotos vom Tatort, eine Liste mit Beweisstücken, ein Video von den Schaulustigen und den Bericht des Gerichtsmediziners.«
»Gut, dass die städtische Polizei so bereitwillig mit uns zusammenarbeitet«, meinte Noah. »Nicht alle sind so kollegial.«
»Meist klappt es gut mit der Zusammenarbeit. Eigentlich ist es doch sowieso albern, um Zuständigkeiten zu streiten. Es sollte einzig und allein darum gehen, die Wahrheit herauszufinden.«
Noah schmunzelte. »Ja, da hast du wohl recht. Aber manchen Leuten geht es eben doch um die eigene Ehre. Irgendwie wollen wir doch alle derjenige sein, der den Schurken die Handschellen anlegt.«
»Ist es das, worauf du aus bist?«, fragte sie. »Ehre?«
Bei dem Blick, den er ihr daraufhin zuwarf, hätte sie ihre Frage am liebsten zurückgenommen. Er war nicht beleidigt. Er schien ehrlich verletzt zu sein.
»Nein«, sagte er leise. »Um Ehre geht es mir nicht. Ich denke, es geht mir um … Gerechtigkeit.«
»Viel Gerechtigkeit gibt’s nicht auf der Welt.«
»Ich weiß, aber ich will mich trotzdem dafür einsetzen.«
Sie nickte. »Gut. Ich auch. Für Wahrheit und Gerechtigkeit.«
Er lachte. »Hört sich an wie eine Zeile aus einem schlechten Film. Plötzlich fühle ich mich wie ein Mitglied der Justice League.«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Was ist die Justice League?« Sein verwirrter Gesichtsausdruck amüsierte sie. »War ein Witz. So ahnungslos bin ich nicht, Noah. Aber sind wir nicht eher X-Men? Du weißt schon, die mit den Superkräften. Die schaffen, was kein anderer schafft.«
»Vielleicht. In deinem Fall zumindest.« Er musterte sie einen Augenblick lang. »Ich bin übrigens wirklich beeindruckt von dem, was du tust. So etwas habe ich noch nie erlebt.«
»Ich habe doch noch gar nicht angefangen.«
»Ich weiß. Aber beeindruckt bin ich trotzdem.«
»Das ist keine exakte Wissenschaft. Manchmal täusche ich mich auch.«
»Wenn das nicht so wäre, würde es mir Angst machen.«
Das Fenster des Drive-in-Schalters öffnete sich und eine Frau reichte ihnen ihre Bestellung. Noah nahm die Tüte entgegen und gab sie Kaely. Der verführerische Duft ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr Hunger war doch größer, als sie gedacht hatte.
Nach 10 Minuten erreichten sie das Büro. Kaely ging zielstrebig ins Konferenzzimmer. Noah folgte ihr. Sie schnappten sich jeder einen Stuhl und packten ihre Essensbehälter, Servietten und Gabeln aus.
»Ich hole noch etwas zu trinken aus dem Automaten. Was möchtest du?«
»Nur Wasser, danke.«
Nachdem Noah gegangen war, sprach Kaely ein Tischgebet und goss ein Päckchen Sojasoße über ihr Hühnchen mit grünen Bohnen. Noch bevor sie die erste Gabel zum Mund geführt hatte, klopfte es und die Tür ging auf. Es war Grace.
»Das hier ist gerade für Sie gekommen. Chief Harper hat es schicken lassen.« Sie legte einen großen braunen Briefumschlag auf den Tisch.
Kaely bedankte sich und Grace verließ den Raum. Gespannt öffnete Kaely den Umschlag von Chief Harper und nahm die Fotos vom Tatort heraus. Sie schätzte es sehr, dass der Polizeichef so bereitwillig Informationen teilte. Normalerweise wurde das FBI in solchen Fällen erst nach dem dritten Mord von der städtischen Polizei zur Unterstützung hinzugezogen. Da Chief Harper nicht stur auf seiner alleinigen Zuständigkeit bestand, war ihm ihre Hilfe willkommen. Und da hier eine FBI-Agentin bedroht wurde, hatte das Bureau ohnehin jederzeit das Recht, sich in die Ermittlungen einzuschalten. Dank der Zusammenarbeit zwischen FBI und der örtlichen Polizei konnten beide Behörden sich darauf konzentrieren, einen Mörder zu finden, anstatt sich um Zuständigkeiten zu streiten.
Viele Agenten sahen sich Fotos digital auf ihrem Laptop an, aber Kaely hielt lieber Papierbilder in ihren Händen. Sie war froh, dass der Polizeichef welche geschickt hatte. Als sie bei anderer Gelegenheit zusammengearbeitet hatten, hatte er ihr gestanden, dass es ihm genauso ging.
Noch einmal betrachtete sie die Leiche aus dem Park. Plötzlich erlebte sie ein Déjà-vu, das sie schier überwältigte. Sie sah diesen Tatort und dieses Opfer nicht zum ersten Mal. Jemand sandte eine Botschaft. Und diese Botschaft war allein für sie bestimmt.