Читать книгу Die Ankündigung - Nancy Mehl - Страница 6
ОглавлениеProlog
Er stand in der Mitte seines Geheimkabinetts und starrte auf die unzähligen Zeitungsausschnitte an den Wänden. Der modrige Geruch von altem Papier wirkte wie eine starke Droge, die seinen Hass schürte. Immer wieder ballte er die Hände zur Faust. Entsetzliche Geschichten standen ihm vor Augen. Bilder von Menschen, bevor sie einem widerwärtigen Mörder zum Opfer fallen sollten, der in Des Moines vor zwanzig Jahren Furcht und Schrecken verbreitet hatte. Lächelnde Frauen auf Führerscheinfotos oder Familienbildern. Da wussten sie noch nicht, dass ihre Tage gezählt waren. Sie ahnten noch nichts von den Gräueln, die ihnen bevorstanden. Nichts deutete darauf hin, dass sie schon bald wieder abgelichtet werden würden – diesmal von Polizeifotografen, die ihre Arbeit taten, als sei ein Blutbad Routine. So etwas konnte niemals Routine sein.
Er trat näher und betrachtete ein Foto des Monsters, das schließlich hinter Schloss und Riegel kam. Ed Oliphant. Ehemann, Vater, Kirchgänger. Er hatte manches gemein mit Dennis Rader, dem berüchtigten Serienmörder, der Wichita in Kansas über viele Jahre in Atem gehalten hatte. Aber im Gegensatz zu Dennis bereute Ed seine Taten bis heute nicht. Natürlich glaubten viele Fachleute Rader seine sogenannte Reue nicht. Sie nahmen es ihm nicht ab, dass ihm seine furchtbaren Verbrechen wirklich leidtaten. Bestimmt bedauerte er nur, dass sie ihn gefasst hatten. Aber anders als Rader hatte Ed die Familien der Opfer niemals um Entschuldigung gebeten.
Er riss Eds Bild von der Wand und starrte in seine Augen – seine abgrundtief bösen Augen. 14 Menschenleben hatte dieser Mann offiziell auf dem Gewissen. Nach Ansicht vieler Fachleute noch mehr. Zwar waren nicht alle seine Opfer tot. Einige von ihnen lebten noch – schwer gezeichnet von Ed Oliphant. Er spuckte auf Eds Bild, heftete es wieder an die Wand und wischte sich angewidert einen Rest Spucke am Hosenbein ab.
Der Lumpenmann. Serienmörder sollten eigentlich keine Spitznamen bekommen. Das stachelte nur ihr Ego an. Erst nach dem siebten Mord kristallisierte sich durch Aussagen von Freunden und Angehörigen der Opfer langsam heraus, dass alle Opfer vor ihrem Tod Kontakt zu einem Obdachlosen gehabt hatten. Ein junges Mädchen hatte Ed auf eine Frau zugehen sehen, die dann 24 Stunden später tot aufgefunden wurde. Die Zeugin sprach von einem »Lumpenmann«. Daher der Name. Seine anfängliche Tarnung war geschickt gewählt, weil Obdachlose quasi unsichtbar waren. Sie wurden von den meisten Leuten ignoriert, sodass Ed es lange Zeit schaffte, sich vor aller Augen zu verstecken. Was für eine grausame Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Menschen, die ihn beachteten und ihm freundlich gesinnt waren, zu Opfern wurden.
Kaum hatten die Ermittler begonnen, nach einem Mann in Gestalt eines Obdachlosen zu fahnden, änderte Ed sein Vorgehen und verkleidete sich als Polizist. Er erkannte, dass die verängstigten Bürger von Des Moines inzwischen äußerst misstrauisch gegenüber Fremden waren. Ein Polizist hingegen galt als vertrauenswürdiger Freund und Helfer, der für Sicherheit sorgte. Zu Unrecht, was Ed Oliphant betraf. Sein Plan ging auf und machte es ihm leicht, sein grausames Spiel weiterzutreiben. Den Spitznamen »Lumpenmann« aber wurde er nie los. Er haftete ihm sogar noch in der Gerichtsverhandlung an. Einem Profiler vom FBI gelang es irgendwann, Ed das Handwerk zu legen. Der Mann vermutete richtig, dass Ed sich als Polizist ausgab. Mit diesem entscheidenden Hinweis konnten die Behörden die Fahndung eingrenzen und Ed schließlich festnehmen.
Er trat ein paar Schritte nach rechts, bis er vor einem Familienbild der Oliphants stand. Marcie, Eds Ehefrau. Bescheiden, still, freundlich. Angeblich hatte sie damals keine Ahnung, mit welchem Monster sie verheiratet war. Er glaubte ihr nicht. Auch Jessica, ihre Tochter, wollte nichts gewusst haben. Er fluchte bei dem Gedanken. Leute, die sie als Kind kannten, beschrieben sie als aufgeschlossen und kontaktfreudig – als ein intelligentes Mädchen mit einer gesunden Portion Neugier, das in der Schule glänzte. Wie konnte sie so ahnungslos gewesen sein? Bestimmt hatte sie es gewusst. Hatte nur einfach nichts gesagt. Hatte Menschen einfach sterben lassen.
Er starrte ihr Bild an. Ein Engelsgesicht, umrahmt von kastanienbraunen Locken. In ihren großen Augen lag ein argloser Blick. Ein bezauberndes Lächeln. Aber auf späteren Fotos, nachdem die Wahrheit ans Licht gekommen war, wirkte sie verändert. Ein Schatten lag über ihren einst so unschuldigen dunklen Augen. Ihr Lächeln war erloschen. Die Leute meinten, ihre kindliche Unbekümmertheit sei einer entschlossenen Wachsamkeit gewichen. Er wusste es besser. Sie litt unter der Last ihrer Schuld. Denn sie hätte ihren Vater aufhalten können. Menschenleben hätten gerettet werden können.
Nach der Verhandlung zog Marcie mit Jessica und ihrem jüngeren Bruder Jason nach Nebraska und heiratete irgendwann wieder. Er fragte sich, wie sie jemals wieder einem Mann vertrauen konnte. Glaubte sie wirklich, Männer wie Ed seien eine Seltenheit? Er schnaubte. So mancher Mann hatte seine Geheimnisse. So manche Angehörige sahen erst dann hinter die Fassade, wenn die grausame Wahrheit ans Licht kam. So war der Mensch nun einmal: hartherzig, voller Falschheit, Hass und Egoismus. Etwas anderes zu behaupten, wäre naiv.
Zum großen Leidwesen ihrer Mutter ging Jessica nach dem College zum FBI. Dann absolvierte sie in Quantico/Virginia eine Ausbildung zur Verhaltensanalytikerin – genau wie die Männer, die zur Verhaftung ihres Vaters beigetragen hatten. Jetzt lebte Jessica in St. Louis. Wegen ihres schlechten Rufs als Tochter eines Serienmörders hatten sie sie versetzt. Aber das FBI konnte es sich nicht leisten, sie zu entlassen. Sie wurde dort gebraucht. Denn sie hatte eine seltene Begabung, dem Bösen auf die Spur zu kommen. Es ging ihr um Gerechtigkeit – als ob es so etwas überhaupt gäbe! Anscheinend glaubte sie, sie könnte etwas von dem Schaden wiedergutmachen, den ihr Vater angerichtet hatte. Aber Ed Oliphant und seine Tochter würden damit nicht so leicht davonkommen.
Für das Blutbad, das er auf der Welt angerichtet hatte, gab es keine Wiedergutmachung. Und Jessica konnte niemals die böse Saat ausreißen, die tief in ihr Herz gepflanzt worden war. Niemand konnte unbeschadet auf so engem Raum mit dem Bösen leben. Und dies, ohne überhaupt etwas davon zu bemerken. Ed Oliphants Gräueltaten trieben auch in Jessica ihre Blüten. Davon war er fest überzeugt. Er war sich sicher, dass ihr Wunsch, dunkle Machenschaften aufzudecken, aus ihrem Verlangen herrührte, für ihre Schuld zu büßen. Aber er hatte nicht die Absicht, mit ihr in diesem Punkt gnädig zu sein. Das Böse musste mit der Wurzel beseitigt werden.
Er lachte leise in sich hinein. Jessica war längst nicht so schlau, wie sie glaubte. Er würde sie herausfordern. Ihren selbstgerechten Feldzug durchkreuzen und die Dinge in Ordnung bringen. Die Sünden des Vaters mussten an seinem Kind heimgesucht werden. Und er würde das Urteil fällen. Auf Gott war da kein Verlass. Er und Gott gingen schon seit Jahren getrennte Wege. Diese Tür war für immer versperrt.
Er setzte sich an den klapprigen Tisch in der Mitte des Zimmers und öffnete sein Notizbuch. Er hatte seinen Plan klar vor Augen und wusste, wie er ihn in die Tat umsetzen würde. Er hielt den Schlüssel zur Zerstörung von Ed Oliphants Tochter in der Hand – der Frau, die sich heute Kaely Quinn nannte.
Er lächelte in sich hinein. So etwas wie Euphorie stieg in ihm auf. Es war so weit. Das Psychospiel konnte beginnen.