Читать книгу Die Ankündigung - Nancy Mehl - Страница 8
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ОглавлениеAls sie dem Serienmörder roten Perlwein einschenkte, fragte sie sich, ob er ihn wohl an Blut erinnerte. Sie schob ihm das Glas hin, aber er beachtete es gar nicht. Kaely lächelte. Das hatte sie sich schon gedacht.
»Du erwürgst deine Opfer, weil du kein Blut sehen kannst«, stellte sie fest. »Du hast dich an ihren Lebensmitteln bedient. Weil du knapp bei Kasse bist, kam es dir gelegen, wenn der Kühlschrank voll war. Aber du hast nur Käse, Obst, Gemüse, Desserts, Joghurt und solche Dinge genommen.« Sie tippte an den Sockel des Weinglases. »Du bist also Vegetarier, aber kein Veganer.«
Sie zog das Weinglas weg und schob ihm ein anderes hin – diesmal mit Weißwein. Im Dunkel streckte er die Hand danach aus.
Kaely blätterte die Seiten der Akte durch, die sie mitgebracht hatte. Dann lehnte sie sich zurück und starrte auf den Stuhl gegenüber. Er war weiß und männlich. Zwischen 25 und 35. Er hatte keinen hohen Posten, war schüchtern und zurückhaltend. Im Umgang mit Menschen vermutlich sehr unbeholfen. Und doch verfolgte er eine Absicht. Nur welche? Seine Opfer konnten verschiedener nicht sein. Ein erfolgreicher schwarzer Rechtsanwalt, eine arme lateinamerikanische Künstlerin, ein weißer Collegestudent. Dass sie zum Opfer wurden, lag also nicht in ihrer Natur. Was immer ihn trieb, sie zu bestrafen, musste mit ihrem Tun zusammenhängen. Er war zornig auf die Menschen, die er tötete, empfand aber keine Lust am Töten an sich. Fühlte sich nicht gut dabei. Wenn er seine Opfer von hinten erwürgte, brauchte er ihnen nicht in die Augen zu sehen. Danach legte er sie auf den Rücken und faltete ihnen die Hände über dem Brustkorb. Das war ein Zeichen von Reue.
»Ich bin verwirrt«, sagte sie. »Es gibt keine Verbindung zwischen deinen Opfern. Unterschiedliches Geschlecht. Unterschiedliche Ethnien. Sie wohnen weit voneinander entfernt. Du scheinst dich nicht auf ein bestimmtes Gebiet zu konzentrieren.«
»Du bist verwirrt?«, flüsterte er. »Das ist ja was ganz Neues.«
»Pst!«, zischte sie. »Ich sage dir, wann du den Mund aufmachen darfst.« Kaely runzelte die Stirn. Die Regeln waren eindeutig. Sie durften nur dann sprechen, wenn sie es ihnen gestattete.
Ein Aufruhr am rechten Nachbartisch weckte ihre Aufmerksamkeit. Ein rundlicher Herr mit gerötetem Gesicht und seine eher hagere Ehefrau blickten finster zu ihr herüber. Sie hatten gerade den Kellner kommen lassen und beschwerten sich lautstark.
»Was ist das eigentlich für ein Laden hier?«, herrschte der Mann ihn an und zeigte dabei mit dem Finger auf Kaely. »Sie lassen hier Verrückte rein? Werfen Sie sofort diese Frau raus!«
Louis Bertrand, der Inhaber des Restaurant d’André, eilte herbei. Er blickte entschlossen und gestikulierte wild mit den Händen, als führten sie ein Eigenleben. »Diese Frau ist nicht verrückt, Monsieur. Das ist Kaely Quinn, die berühmte Profilerin vom FBI. Dies ist ihr Tisch, und sie darf kommen und gehen, wann immer sie möchte.«
»Aber das ist untragbar!«, schimpfte der Mann und wurde immer röter. Kaely machte sich langsam ernsthaft Sorgen um seinen Blutdruck.
»Nicht für mich, Monsieur«, stellte Louis ungerührt fest. »Aber Sie sind untragbar. Ich fordere Sie auf, sofort mein Lokal zu verlassen. Ihr Essen geht auf meine Rechnung.«
Der Mann schäumte vor Wut und fing an zu fluchen. Seine Frau, der die ganze Sache offensichtlich höchst peinlich war, packte ihre Handtasche, stand auf und stolzierte aus dem Gastraum. Der Mann aber protestierte weiter. Wütend und fassungslos, die Augen weit aufgerissen, deutete er immer wieder auf Kaely. »Aber sie spricht mit sich selbst. Da ist doch niemand!«
Kaely wäre am liebsten im Boden versunken. Eigentlich hatte sie ihre ganz eigene Methode gar nicht vor anderen Leuten anwenden wollen. Sie war nur so in die Akte versunken gewesen und hatte dabei völlig vergessen, dass sie sich in der Öffentlichkeit befand.
»Es ist mir egal, was sie tut, Monsieur. In meinem Restaurant ist sie jederzeit willkommen.« Louis packte den Mann am Arm und zog ihn auf die Füße. »Sie hat den Mörder meines Sohnes überführt und Andrés Ruf wiederhergestellt. Sie wird mit Respekt behandelt, n'est-ce pas? Wenn Ihnen das nicht passt, dann gehen Sie bitte, oui? Und setzen Sie niemals wieder einen Fuß über meine Türschwelle!«
Kaely seufzte leise. Schon oft hatte sie wegen ihrer Methode bei ihren Kollegen Kritik einstecken müssen. Nervös sah sie sich im Raum um. Auch andere Gäste starrten sie an, wenngleich offenbar keiner die Absicht hatte, Louis’ Zorn auf sich zu ziehen. Es war ihr äußerst unangenehm, den Inhaber so in Verlegenheit zu bringen. Er wollte sich erkenntlich dafür zeigen, dass sie zur Ergreifung des Mörders seines Sohnes beigetragen hatte. Aber sie wollte auf keinen Fall sein Geschäft schädigen. Sie würde sich besser hier nicht mehr blicken lassen. Um Louis’ willen.
Kaely lächelte dem Inhaber kurz zu und konzentrierte sich wieder auf ihre Akte, während Louis den wütenden Mann zum Ausgang führte.
»Er ist nicht der Einzige, der dich für verrückt hält, stimmt’s?«, wandte der Serienmörder leise ein.
»Nein, aber das bin ich ja gewöhnt. Und jetzt sei endlich still. Ich kann nicht mehr mit dir reden.«
Sie blätterte gerade noch einmal die Akte durch, als Louis an ihren Tisch trat. »Es tut mir leid, dass der Mann sich so unmöglich benommen hat. Das wird nicht wieder vorkommen, ma chère amie. Was möchten Sie denn heute gerne speisen?«, fragte er.
»Ich nehme Nizzasalat mit Lachs, Louis.«
»Eine gute Wahl. Délicieux. Und zu trinken einen Eistee?«
Sie nickte.
Früher hatte Louis immer gemeint, ein bisschen Wein könne ihr nicht schaden. Sie hatte eigentlich auch nichts gegen Wein, mied aber aus Angst vor Kontrollverlust Alkohol und Drogen jeder Art. Ihre Mutter war süchtig nach Schmerzmitteln gewesen, als Kaely 17 war. Zum Glück kam sie später davon los, aber den Kampf ihrer Mutter hautnah miterleben zu müssen, hatte in Kaely den Entschluss reifen lassen, Medikamente nur wenn unbedingt nötig zu nehmen. Langsam zog sie das Wasserglas, das sie als Weinglas für ihren unsichtbaren Tischgenossen verwendet hatte, wieder auf ihre Seite.
»Und für …?« Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Stuhl ihr gegenüber.
»Schon gut, Louis. Ich weiß, dass da niemand ist. Es ist nur … es ist eine Art, Hinweise durchzuarbeiten. Es … es tut mir leid, dass ich Sie in Schwierigkeiten gebracht habe.«
Der Gastwirt schwieg einen Augenblick, bevor er versicherte: »Sie könnten mir nie Schwierigkeiten machen, mon amie. Wir sind Freunde und werden es immer bleiben. Mein Haus steht Ihnen immer offen. Wenn Sie nicht gewesen wären, würden die Leute immer noch glauben, André hätte sich das Leben genommen. Der Beweis, dass er Opfer eines Serienmörders geworden ist, hat meinem Jungen seine Würde wiedergegeben. Das hat seiner Mutter – und auch mir – eine Last abgenommen. Wir werden Ihnen immer dankbar dafür sein.«
»Ich habe einfach nur meine Arbeit getan, Louis. Nicht mehr.«
»Für Sie war es vielleicht nur ein Job, ma chère, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel es mir bedeutet.« Mit einer Verbeugung wandte er sich um und ging zurück in die Küche. Kaely freute sich, dass das Restaurant d’André ein solcher Erfolg geworden war. Für Louis war es richtig heilsam. Er hatte sich mit Leib und Seele in seine Arbeit gestürzt und das hatte ihm ein Stück weit geholfen, mit seinem Schmerz fertigzuwerden.
Kaely wandte sich wieder ihrer Akte zu. Sie betrachtete die Berichte und Bilder, die vor ihr ausgebreitet lagen. Die Akte hatten sie per Eilboten aus Nashville kommen lassen, wo vor Kurzem drei Morde passiert waren. Wegen des Bundes-Serienmörderstatuts hätte Nashville auch vom FBI in Quantico Hilfe anfordern können. Aber der dortige Polizeichef hatte sich an Kaelys Vorgesetzten, Special Agent in Charge Solomon Slattery, den Leiter der FBI-Außenstelle in St. Louis, gewandt. Der Polizeichef hatte Solomon gebeten, Kaely als Erste die Akte prüfen zu lassen. Er befürchtete, dass es zu einem weiteren Mord kommen könnte, bevor das FBI genügend Personal bereitgestellt hätte.
Kaely las die Informationen noch einmal. Jedes der Opfer war zu Hause gestorben, erwürgt mit einem Gegenstand, der vom Tatort entfernt worden war. Der Gerichtsmediziner vermutete aufgrund der Würgemale eine Art Lederband, wollte sich aber nicht genauer festlegen. Nichts deutete auf Einbruch hin. Wer immer der Täter war – die Opfer mussten ihn freiwillig in ihre Häuser oder Wohnungen gelassen haben. Die Opfer kannten einander nicht und hatten auch sonst nichts gemeinsam. Der Täter musste jemand sein, von dem sie nichts Böses befürchteten. Vermutlich verkleidete er sich als Mitarbeiter eines öffentlichen Dienstleisters. Vielleicht jemand vom Stromanbieter, Kabelnetzbetreiber oder Wasserwerk. Aber die Opfer hatten unterschiedliche Anbieter für diese Dienste. Zwei davon waren zwar beim gleichen Stromversorger, aber einer lebte in einem Mietshaus, in dem alle Nebenkosten vom Eigentümer beglichen wurden. Natürlich hätte der Mörder seine Arbeitskleidung wechseln können, aber Kaely glaubte das nicht.
Er war zwar bis zu einem gewissen Grad organisiert, aber auch der Zufall spielte eine Rolle. Bei der Planung seiner Morde bewies er Organisation. Aber er konnte natürlich niemals sicher sein, ob die Leute zu Hause und für ihn erreichbar waren. Einer der Morde passierte, als ein Opfer einen Tag freigenommen hatte, um seine Mutter zum Arzt zu fahren. Das war eine spontane Entscheidung gewesen. Der Mörder konnte es unmöglich gewusst haben.
»Deine Vorgehensweise ist zwar immer gleich, aber was ist deine ganz persönliche Handschrift?«, flüsterte sie ihrem Gegenüber zu, so leise, dass niemand es mitbekommen konnte. »Was treibt dich dazu, Menschen zu töten?«
Sie bekam keine Antwort von ihrem Tischgenossen.
Während sie die Akte Seite für Seite noch einmal durchblätterte, brachte eine Bedienung ihr Essen. Hastig raffte Kaely die Fotos zusammen und klappte ihre Unterlagen zu, damit die junge Frau die verstörenden Bilder nicht sehen konnte. Zu Beginn ihrer Ausbildung in der Abteilung für Verhaltensanalyse hatten Kaely solche Bilder auch schockiert. Nun waren sie einfach wie Teile einer Art Puzzle. Es war nicht so, dass die Opfer ihr egal wären. Ganz im Gegenteil. Aber anders konnte sie ihre Arbeit nicht tun. Sie arbeitete für die Opfer. Ihre Art der Sorge war es, ihnen Gerechtigkeit zu verschaffen. Wenn sie an ihren Schicksalen zerbrach, wäre niemandem geholfen. Mit der Zeit hatte sie gelernt, um sich selbst und ihre Gefühle eine Mauer zu bauen. Zwar bekam diese Mauer manchmal Risse, aber Kaely schaffte es immer, sie irgendwie zu reparieren.
Sie dankte der Bedienung und nahm einen Bissen Lachs. Köstlich, wie immer. Nachdem die junge Dame gegangen war, nahm ihr Tischgenosse einen Suppenlöffel, begann seine Suppe zu schlürfen und bekleckerte das Tischtuch.
»Du hast keine Manieren«, stellte sie leise fest. »Du bist einfach gestrickt. Was immer dein Motiv ist, es muss einfach sein. Nichts Kompliziertes.«
Während er seine Suppe hinunterschlang, erkannte sie, dass er wohl ein sehr einfaches Leben führte. Anspruchslos. Eine kleine Wohnung oder ein Zimmer in einer Pension. Er besaß ein älteres Auto, hielt es aber vermutlich sauber. Warf keinen Müll in die Landschaft. Mochte keine Unordnung. Schnell schrieb sie ihre Gedanken auf ihren Notizblock. Sie wollte aufhören. Erst zu Hause mit ihrer »Befragung« fortfahren, aber es ließ ihr keine Ruhe. Sie musste der Sache auf den Grund gehen. Als hätte sie keine andere Wahl, als weiterzumachen, bis sie die Antwort gefunden hatte.
An einem Tisch in ihrer Nähe beglich ein Gast gerade seine Rechnung. Kaely hörte die Frau zu der Bedienung sagen: »Könnte ich vielleicht eine kleine Tüte für die Reste haben? Die bekommt mein Hund.«
»Natürlich, Ma’am«, sagte die Bedienung und räumte ein paar Teller ab. »Ich bringe Ihnen gleich eine.«
Kaely nahm noch eine Gabel von ihrem Lachs. Aber noch bevor sie sie zum Mund geführt hatte, hielt sie in der Bewegung inne. Das war es! Sie legte die Gabel wieder hin und sah erneut die Akte durch. Noch einmal las sie sorgfältig den Bericht des Gerichtsmediziners; dann die Notizen der Spurensicherung. Tatsächlich! Alles da!
Schließlich blätterte sie noch einmal die Vernehmungsprotokolle durch. Freunde, Angehörige, Nachbarn. Nach und nach formte sich vor ihrem inneren Auge ein deutliches Bild. Kaely fixierte ihr Gegenüber.
Dort saß ein Mann. Mittelgroß, etwas untersetzt, Anfang 30. Blond, schiefe Zähne und ein T-Shirt mit einem Schriftzug darauf.
»Du bist es also!«, sagte Kaely lächelnd.
»Nein, ich bin’s nicht!«, widersprach der Mann. Zwiebelsuppe tropfte auf sein T-Shirt. Darauf war ein Pandabär abgebildet und darunter ein Schriftzug: Ich sorge nicht nur für Tiere. Tiere sind mein Leben.
»Im Ernst?«, seufzte Kaely.
Sie zog ein Handy aus ihrer Handtasche. »Solomon?«, sagte sie, sobald er abgehoben hatte. »Ich habe was für Sie im Fall Nashville.« Sie hielt einen Moment inne. »Sie bekommen von mir ein Profil, aber ich kann ihnen auch gleich den Namen des Unbekannten von Nashville sagen.«