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Sechs
ОглавлениеSteiner behielt recht, was seine Zeitplanung anging. Nachdem die Badeszene fertig war, folgte in meiner ersten Schicht im Atelier eine liebliche deutsche Landschaft: Wiesen, Berge, Schafe, Bauern und so weiter. Dazu Schwäne, die mit langen Hälsen und mächtigen Schwingen durch die Lüfte flogen, und Kinder, die im Fluss planschten. Das Bild war für eine reiche Dame aus Zürich mit großen Brüsten, sagte Steiner, und sie würde mit Schweizer Franken bezahlen, also »richtigem« Geld.
Die Bilder waren kitschig, und wir hatten sehr wenig Zeit, aber mir gefiel die Arbeit sofort. »Gut gemacht«, sagte Steiner um vier Uhr morgens zu mir, nachdem ich die planschenden Kinder mit Lichtern versehen hatte. »Die sehen so richtig schön drall aus.« Ich war kaum fertig, da wurde das Bild schon abgeholt, obwohl die Farbe noch gar nicht trocken sein konnte.
Von da an arbeitete ich ein- oder zweimal in der Woche bei ihm, und ich merkte bald, was für einen hohen Ausstoß das Atelier hatte. Alle paar Tage kamen neue Aufträge herein, und Steiner hatte eine Gruppe von Arbeitern (es war nie von Künstlern die Rede), die rund um die Uhr für ihn malten, damit der Kurier die Bilder in den frühen Morgenstunden abholen konnte. Oft tauchte der Kurier auch mitten in der Nacht auf, und niemand wusste, warum die Bilder noch vor Tagesanbruch verschickt werden mussten. Er hieß Leo, und sein Gesicht war so glatt wie ein Boxhandschuh.
Ich habe keine Ahnung, wann Steiner schlief, da er immer im Atelier zu sein schien, ganz gleich, ob ich für die Tag- oder Nachtschicht eingeteilt war. Er organisierte alles von seinem Büro aus und brüllte uns Anweisungen zu, während unablässig das Telefon klingelte und neue Aufträge hereinkamen. Die Mark verlor in absurdem Tempo an Wert, aber es gab immer mehr Amerikaner, die idyllische Flussszenen wollten, Bauernhöfe und Sonnenuntergänge, Mädchen mit endlosen Zöpfen und stillende Mütter mit üppigem Busen.
Außerdem wurden die Bilder durch den Wechselkurs billig.
Zu meiner Überraschung nahmen die anderen Arbeiter kaum Notiz von mir, und abgesehen von ein paar neugierigen Blicken wurde ich sofort in ihren Kreis aufgenommen. Bald folgten die ersten herablassenden Bemerkungen über das Bauhaus. Wie sich zeigte, hielten sie uns für sensationell dumm. Als ich ihnen erklärte, dass uns der Gestaltungsprozess wichtiger war als das Ergebnis, erntete ich nur Gelächter. »Das«, spottete ein massiger Mann namens Daniel, »sagen die Leute, wenn sie kein Talent haben.«
Endlich verdiente ich eigenes Geld. Steiner bezahlte mich direkt am Ende jeder Schicht, indem er mir einen dicken Stapel Scheine in den Fahrradkorb legte. Ich schrieb meinem Vater und teilte ihm mit, dass ich seine Unterstützung nicht mehr bräuchte, ich hätte eine Teilzeitstelle gefunden und sei entschlossen, mein Studium an der Schule, die er so verabscheute, selbst zu finanzieren. Er antwortete mir nicht, schickte allerdings auch kein Geld mehr. Bestimmt dachte er, ich würde bald wieder ankommen und betteln, und in der Tat kam mir der Gedanke, dass es vielleicht ein wenig voreilig gewesen war, jegliche weitere Unterstützung abzulehnen.
Es tat gut, wieder für mein Talent geschätzt zu werden. Wie schon mein Lehrer damals sagte Steiner, ich hätte ein Händchen für Licht. Bei Meister Itten hätte ich damit keinen Blumentopf gewinnen können. Wenn ich auf die Anweisung, einen Himmel zu malen, einen Himmel gemalt hätte, hätte er mich ausgelacht. Aber hier draußen im Waldatelier ging es nicht um Einzigartigkeit und Individualität. Hier war nur eine kitschig überhöhte Abbildung gefragt, und ich war überrascht und auch ein wenig beschämt, wie sehr mir nicht nur die altmodischen Bilder gefielen, die wir malten, sondern auch das Gefühl der Wertschätzung. Meister Itten mochte mich nicht, aber das war mir egal. Ich hatte einen anderen Meister gefunden.
Außerdem war Meister Itten offensichtlich so begeistert von Charlotte, dass es keinen Sinn hatte, um seine Aufmerksamkeit zu buhlen. Vielleicht hing es damit zusammen, dass sie beide Ausländer waren und sich schon deshalb näherstanden. Er verbrachte im Unterricht immer mehr Zeit mit ihr als mit allen anderen, und manchmal trafen sie sich auch privat, und er unterwies sie darin, was sie essen, wie viel sie schlafen und wie sie ihren Körper in Form halten sollte.
Eines Mittags, als Charlotte von einem solchen Treffen kam, wirkte sie gedankenversunken und zugleich aufgeregt. Während wir die Treppe in der Schule hinuntergingen, die mit farbkräftigen konstruktivistischen Wandbildern bemalt war, sagte sie, der Meister hätte ihr vorgeschlagen zu fasten. Er meinte, Essen dämpfe die Sinne, und durch das Fasten würde unsere Farbwahrnehmung geschärft. Die wahre Form der Dinge träte zutage. Der Hunger würde ein Paradies in unserem Herzen eröffnen. Außerdem würde das Fasten auch unserer Seele guttun.
Ich sah zu, wie Charlotte zielstrebig in die Kantine ging, offensichtlich fest entschlossen, auch die anderen davon zu überzeugen, bei ihren Plänen mitzuziehen. Als ich mir mein Essen holte (vegetarisch und mit reichlich Knoblauch gewürzt), dachte ich daran, wie sie morgens an der Bandsäge gestanden und fasziniert die glühende Naht zwischen der Säge und dem Metall betrachtet hatte. Vielleicht stellte sie sich so etwas in ihrem Innern vor: einen scharfen, klaren Blick, der alles durchdrang.
»Ich weiß nicht«, sagte Irmi, nachdem sie sich den Vortrag über Hunger und das Paradies angehört hatte. »Das klingt nicht sehr verlockend.«
»Wir erlangen eine neue Transparenz. Meister Itten sagt, erst dann werden wir uns selbst erkennen, und die wahre Gestalt unserer Wünsche wird sichtbar. Durch das Fasten werden wir zu besseren Künstlern«, schloss Charlotte ein wenig lahm.
»Und all das mit Zitronenwasser und trocken Brot?«, fragte Kaspar. »Was ist mit Absinth? Damit finden wir doch viel schneller Transparenz.« Er hatte Charlotte sehr gern, aber einige Aspekte des Bauhaus-Lebens waren ihm suspekt. Er hielt nichts von den Festen, verweigerte sich Ittens Vegetarismus und belächelte spöttisch die Körperwahrnehmungsübungen.
»Er hat gesagt, das hätte ihn als Künstler am stärksten geprägt.«
»Schön für ihn. Aber deshalb muss ich das ja nicht machen.«
»Du und deine ewige Trägheit«, sagte Charlotte und stupste ihn an. »Probier doch mal was Neues aus.«
»Meister Itten ist verrückt!«
»Meister Itten ist weltberühmt!«
»Ich finde, wir sollten es machen«, sagte Jenö aus heiterem Himmel.
Charlotte und Irmi sahen ihn überrascht an. Vermutlich hatte Charlotte eher mit meiner Unterstützung gerechnet als mit Jenös, aber ich hatte bisher noch gar nichts dazu gesagt. Tatsächlich fand ich ihre Idee schrecklich und in Anbetracht der Tatsache, dass die Menschen überall in Deutschland hungerten, außerdem geschmacklos.
»Warum?« fragte Walter. »Kennst du die wahre Gestalt deiner Wünsche nicht?«
»Es kann sicherlich nicht schaden.«
Nun, da Jenö eingewilligt hatte, konnte Walter sich nicht dagegenstellen. »Na ja, warum nicht? Vielleicht bringt es uns ja wirklich weiter. Und ich könnte ein bisschen Inspiration durchaus gebrauchen.«
Walter tat sich in Ittens Unterricht genauso schwer wie ich. Wir schafften es wohl beide nicht, uns von den Regeln zu lösen, die wir in der Schule gelernt hatten. Und wie bei mir richtete sich seine Hingabe auf ein anderes Ziel.
»Paul?« Charlotte sah mich mit ihren klaren Augen unverwandt an.
Ich war der Einzige, der sich noch nicht geäußert hatte, und ich wollte keine Missstimmung zwischen uns heraufbeschwören. Charlotte war begeistert von ihrem Plan, und dann würde ich eben mitmachen, wenn auch nur um ihretwillen. »In Ordnung«, sagte ich ohne großen Elan. »Lasst uns heute Abend damit anfangen.«
»Gut. Irmi, bist du auch dabei?«
Irmi nickte.
»Schwarzbrot und Zitronenwasser zum Frühstück und Abendessen«, sagte Charlotte. »Sonst nichts.«
Kaspar verzog das Gesicht.
»Einverstanden?«
Er zuckte nur mit den Schultern.
»Bon appétit«, sagte sie und hob einen Löffel Eintopf zum Mund. »Das ist dann wohl für eine Weile unsere letzte Mahlzeit.«
Einige Tage später saßen wir bei Irmi auf dem Fußboden im Kreis und machten eine von Meister Ittens Atemübungen. Wir sollten zehn Sekunden lang ein- und dann fünf Sekunden lang ausatmen. Mir war schwindelig, und schon seit einer Weile flirrte alles um mich herum.
In den ersten Fastentagen hatten meine Gelenke zu schmerzen begonnen. Meine Haut sah matt aus, das Weiße in meinen Augen war grau und meine Zunge aufgedunsen. Obwohl ich so gut wie nichts aß, roch ich ständig nach Kantine. Ich hatte schon mehrmals daran gedacht, das Fasten abzubrechen.
Aber Charlotte war so voller Energie und so offensichtlich begeistert, dass ich dabeiblieb. Vielleicht hatte sie ja recht, und ich würde wirklich alles ganz neu sehen – obwohl ich die wahre Gestalt meiner Wünsche bereits sehr genau kannte. Außerdem bedachte uns Meister Itten mit wohlgefälligen Blicken. Jetzt gehörten wir alle zu seinen Auserwählten, nicht nur Charlotte.
Obwohl wir während der Atemübung eigentlich die Augen geschlossen halten sollten, sahen Kaspar und ich uns immer wieder an, und wir hatten Mühe, nicht zu lachen. Kaspar konnte nicht still sitzen, er änderte ständig seine Haltung oder spielte mit seinen Locken. Obwohl er nur Schwarz trug und gern Nietzsche zitierte, war er keineswegs ein Nihilist. Im Gegenteil, er war sinnlich und voller Appetit, und ich wusste, dass er während der vergangenen Tage heimlich etwas gegessen hatte, um bis zum Abend durchzuhalten. Ich konnte ihn gut verstehen. Er machte nur wegen der anderen mit, und wäre ich nicht so verliebt in Charlotte gewesen, hätte ich bestimmt auch gemogelt.
Als wir fertig waren, öffnete Jenö das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. »Sieh mal«, sagte er zu Charlotte. »Von hier aus kann man dein Zimmer sehen.«
Sie trat zu ihm. »Oh, stimmt! Bald wirst du alle meine Geheimnisse kennen, Irmi. Ich werde die Vorhänge zuziehen müssen.«
Walter streckte sich auf dem Sofa aus und betrachtete Jenö. So, wie er dalag – ein Bein angezogen, den Kopf in die Hand gestützt –, stellte man ihn sich fast zwangsläufig nackt und auf einem Ölgemälde vor. »Wie lange sollen wir eigentlich von vier Scheiben Schwarzbrot am Tag leben?«
»Meister Itten meinte, zwei Wochen wären gut, drei noch besser.«
»Es hat keinen Zweck!«, sagte Kaspar. »Spätestens um zwei kriege ich nichts mehr auf die Reihe.«
»Sag das mal den Arbeitslosen«, entgegnete Walter.
»Jetzt spiel hier nicht den Moralapostel.«
Die zwei hatten eine merkwürdige Beziehung. Obwohl sie sich immer wieder gegenseitig stichelten, war ihre Zuneigung zueinander spürbar. Kaspar war jedem gegenüber offen; Walter, Jenö und ich waren zurückhaltender.
»Wartet’s ab«, sagte Irmi, die mir verraten hatte, dass sie das Fasten wider Erwarten sehr spannend fand. »Die Welt hat schon ein wenig ihre Farbe verändert. Die Dinge werden klarer.«
»Und nehmen deine Wünsche eine neue Gestalt an, Irmi Schüpfer?«
Irmi sah mich an und errötete. »Nein.«
Jenö setzte sich neben Walter. Wir sprachen nie über sie als Paar, vielleicht weil sie beide Männer waren, aber über mich und Charlotte sprachen wir auch nicht. Ich nehme an, alles wurde einfach so akzeptiert, wie es war, außerdem sagte Jenö ohnehin nie viel. Oder vielleicht redete er nur nicht mit mir. Er nahm seinen Skizzenblock heraus und begann zu zeichnen.
»Hier steht« – Kaspar hielt ein Buch in der Hand – »dass ich zwischen zwei Verabredungen eine Woche vergehen lassen soll.« Kaspar ging ständig mit irgendwelchen Frauen aus, er hatte immer eine an seiner Seite. Er war manchmal launisch, aber er konnte auch sehr charmant sein, und diese Kombination fanden offenbar viele in der Weberei unwiderstehlich. »Ich lasse immer höchstens ein paar Tage vergehen.«
Walter hatte sich aufgesetzt und verfolgte interessiert Jenös Striche auf dem Papier. Er hätte nur eine winzige Bewegung machen müssen, um den Kopf auf Jenös Schulter sinken zu lassen.
»Seien Sie entschlossen in Ihrem Werben, aber nicht übermäßig leidenschaftlich«, fuhr Kaspar fort. »Sie sollten die Auserwählte keinesfalls mit Ihrer Zuneigung bedrängen. Was Sie als spielerischen Flirt betrachten, kann auf manche Frauen bedrohlich wirken. Du lieber Himmel, von wann ist denn das?« Er drehte das Buch um und suchte nach einem Datum. »Bin ich bedrohlich? Ich dachte immer, die Frauen wollen, dass ich weitermache.«
»Du bist so bedrohlich wie ein Teddybär«, scherzte Irmi. »Frag doch Paul, was du sagen sollst.«
»Wieso denn mich?« Ich sah sie überrascht an.
»Du gehst doch jeden Tag mit einer anderen Kaffee trinken.«
»Weil sie mich immer einladen«, erwiderte ich, obwohl ich wusste, wie albern die Ausrede war.
»Und das, wo du doch jetzt so viel Geld verdienst«, stichelte Charlotte.
Ich wurde rot. Charlotte machte oft Bemerkungen über meine Arbeit. Manchmal waren sie komisch, manchmal ernst. Sie meinte, solange ich dort war, würde ich niemals hier sein. Im tiefsten Innern wusste ich, dass sie recht hatte, aber die Bezahlung war einfach zu gut und die Befriedigung, nicht mehr auf die Unterstützung meines Vaters angewiesen zu sein, zu groß.
»Mann, hab ich einen Hunger«, sagte Kaspar und warf das Buch beiseite.
»Fühlst du dich nicht besser? Lebendiger?«, fragte Charlotte.
»Nein. Mir tut der Magen weh.«
»Gestern gab es einen Moment, da habe ich eine Amsel mit gelbem Schnabel gesehen«, sagte sie. »Auf dem Friedhof neben der russisch-orthodoxen Kirche. Ich konnte den Blick nicht von ihr lassen. Den ganzen Tag habe ich mich herumgeschleppt und mich gefragt, was das Ganze soll, genau wie ihr, aber dann gab es plötzlich nur diesen Vogel und sonst nichts. Es war, als würde ich mir eine Oper ansehen. Die wenigen Minuten kamen mir vor wie Stunden, und die ganze Zeit waren so viele Bilder in meinem Kopf: Was wäre, wenn ich die Flügel dieses Vogels hätte? Oder was würde passieren, wenn ich seine winzigen Knochen mit meiner Hand zerquetschte? Solche Visionen hätte ich mit vollem Magen nicht gehabt.«
»Du klingst schon genauso verrückt wie der Meister«, spottete Kaspar.
Jenö legte den Skizzenblock weg und ging in die Küche. Walter betrachtete die Zeichnung und warf mir einen merkwürdigen Blick zu. »Unser hübsches Paulchen«, sagte er. »In Uniform hättest du großartig ausgesehen.«
Ich griff nach dem Block. Jenö hatte mir seltsamerweise einen strengen Ausdruck verpasst, obwohl ich nichts Übles im Sinn hatte, erst recht nicht gegenüber Charlotte, die ich vermutlich überwiegend angesehen hatte, während er mich malte. Ich klappte den Skizzenblock zu. Mein Gesichtsausdruck war zu beunruhigend, um ihn länger anzusehen.