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Sieben

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Während der ersten Tage fragte ich mich, was das Fasten wohl mit Charlotte machen würde. Ich wusste, sie würde die Dinge auf die Spitze treiben wollen, es lag nicht in ihrer Natur, etwas einfach geschehen zu lassen. Im Stillen hoffte ich, unsere leeren Mägen würden uns zueinander treiben. Vielleicht würden wir unsere Atemübungen machen, ein paar Kerzen anzünden, und dann würden wir im magischen Licht eines Fastennachmittags schließlich im Bett landen, zu schwach, der Versuchung auch nur einen Augenblick länger zu widerstehen. Wir würden uns herumwälzen und gemeinsam den Gipfel stürmen.

Überall sah ich Anzeichen, die diese Phantasie nährten, aber vielleicht waren sie auch nur das Werk meines hungernden Geistes. Die Amseln fielen mir als Erstes auf. Ihr Gesang war so süß, als würde Charlotte selbst mir ein Ständchen bringen. Dann ließ sie immer öfter Sachen bei mir, Taschen, Notizbücher und sogar Kleidungsstücke – Zeichen, dass sie nach und nach bei mir einzog. Weitere Zettel von ihr und alle Ps rot geschrieben. Vielleicht hatte Meister Itten recht: Wenn in dieser mittelalterlichen Stadt ein Paradies erstehen konnte, dann tauchte es möglicherweise auch in einer Ecke meines Zimmers auf.

Nach einer Woche begann ich zu vibrieren. Selbst wenn in meinem Zimmer ein Feuer im Ofen brannte, zitterten meine Hände, und ich fröstelte am ganzen Körper. Eines Morgens wachte ich auf und fragte mich, ob meine Sinne sich tatsächlich geschärft hatten. Ich lag einfach nur da und sah zu, wie Charlottes Laterne über mir im Luftzug hin und her schwankte. Gleichzeitig spürte ich die wunderbare Wärme der Decke und die ungleichmäßigen Sprungfedern der Matratze. Ich döste vor mich hin und ließ mich von einem angenehmen Traum zum nächsten treiben, während die Laterne wie ein vollkommener kleiner Planet über mir schwebte. Wenn diese Träumerei ein Ergebnis des Fastens war, dann träumte ich nur zu gern weiter.

So ließ sich das Leben durchaus ertragen. Gut, ich musste oft daran denken, was Kaspar jetzt wohl heimlich verdrückte (Krapfen, Blutwurst, Knödel), aber ich war konzentrierter. Es war, als hätte das Fasten alle überflüssigen Teile meines Gehirns ausgeschaltet. Ich brachte Stunden damit zu, mich auf Meister Ittens Unterricht vorzubereiten, und dachte dabei, wie gut mir mittlerweile gelang, was er von uns forderte, nämlich das wahre Wesen des Materials zu begreifen. So konnte ich ohne weiteres im Atelier ein alter Meister sein und am Bauhaus ein Modernist.

Charlottes erste Eskalation ließ nicht lange auf sich warten, aber zu meiner Überraschung geschah sie anderswo und ohne mich.

Obwohl ich im dritten Stock wohnte, hörte ich Frau Kramer sehr gut, als sie durchs Treppenhaus rief: »Herr Beckermann! Besuch für Sie!« Auch Charlottes Stimme war unten im Flur zu hören. Erstaunlicherweise mochte meine Vermieterin sie sehr gerne. Während Charlotte die Treppe hochkam, dachte ich: Heute ist der Tag, heute kommen wir zusammen. Meine Haut kribbelte vor erregter Vorfreude.

Doch nichts hätte mich auf den Anblick vorbereiten können, der mich erwartete, als ich die Tür öffnete. Charlotte hatte sich die Haare abrasiert. Ihr Kopf war vollkommen kahl, und ihr Blick erschien mir noch undurchdringlicher als sonst. »Ich war gerade bei Jenö«, sagte sie etwas atemlos. »Es ist an der Zeit, über das Fasten hinauszugehen.«

»Was meinst du damit?«

»All diese Haare.« Sie zupfte an einer von meinen Locken. »Das ist doch nur Schnickschnack!« Sie kam in mein Zimmer und sah sich um, als rechnete sie damit, hier noch jemanden vorzufinden. »Oh«, sagte sie, als sie die Laterne entdeckte, und runzelte die Stirn. »Mir war gar nicht aufgefallen, dass du die behalten hast.«

Ich berührte ihren kahlen Schädel. »Hast du das für Meister Itten getan?«

»Lehrt euch nicht die Natur, dass es für einen Mann eine Schande ist, wenn er langes Haar trägt?«

Ich sah sie verwirrt an.

»Erster Brief an die Korinther.«

»Ich wusste nicht, dass du so bibelfest bist.«

»Meine Kindheit war voller Wunder«, erwiderte sie. »Und was du auch nicht weißt, Paul, ist, dass ich eine Besessene bin.«

»Doch, das wusste ich. Wer hat dich rasiert?«

»Jenö.«

»Heute Morgen?«

»Ja, habe ich doch eben gesagt. Na los, Paul!« Charlotte sah mich voll aufgeregter Erwartung an.

Ich blickte auf die Uhr: Es war kurz vor zwölf. Dabei hätte ich schwören können, dass es erst neun war. Während ich Feuer machte, holte sie Schere und Rasiermesser aus ihrer Tasche, breitete auf dem Fußboden vor dem Waschbecken Zeitungen aus und stellte einen Stuhl darauf. Dann ließ sie das Handtuch knallen wie ein Matador. »Sind Sie bereit, Herr Beckermann?«

Bevor ich antworten konnte, schnitt sie bereits drauflos. Die Locken, die meine Mutter immer geliebt und als meine »Pracht« bezeichnet hatte, fielen auf das Zeitungspapier. Charlotte schnippelte sich methodisch voran. »Wusstest du, dass Nonnen nur durch Atemübungen ihre Menstruation unterdrücken konnten? Sie waren die wahren Meisterinnen des Fastens. Viel besser als die Mönche, die Starkbier tranken, um den Hunger zu mildern. Die Nonnen aßen während der Fastenzeit gar nichts, und sie waren diejenigen, denen Jesus und die Muttergottes am häufigsten erschienen. Das kann doch kein Zufall sein, oder?«

»Sind sie dir auch schon erschienen?«

»Nein. Aber ich habe Jesus mal im Traum gesehen.«

»Und was hat er gesagt?«

»Nichts. Er hat nur die Hand auf meine Stirn gelegt, und als ich aufwachte, war die Stelle ganz heiß.« Sie nahm meine Hand und legte sie sich auf die Stirn. »Den ganzen Tag über fühlte ich mich auf angenehme Weise leer.« Sie lächelte. »Von da an war ich geradezu besessen von Margareta von Cortona. Ich beschloss, in ein Kloster einzutreten und Nonne zu werden, wovon mein Vater allerdings wenig hielt. Aber es ist genau, wie Meister Itten sagt: Es geht nicht darum, allem zu entsagen, sondern mehr Raum zu schaffen, um besser sehen zu können.«

Ich erzählte ihr nicht, dass meine Mutter vor ein paar Jahren auch eine Offenbarung gehabt hatte. Während der Fastenzeit hatte sie eine Vision, wie der Schützengraben, in dem mein Bruder hockte, von einer britischen Granate getroffen wurde. Danach hielt sie mehrere Tage lang Wache und aß nichts, überzeugt davon, dass sie ihn dadurch am Leben erhalten konnte. Und Peter hatte tatsächlich überlebt – wenn auch um einen hohen Preis.

Charlotte griff nach dem Rasiermesser, das wohl Jenö gehörte. Meine Locken waren so schnell verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. »Glaubst du, Walter ist in Jenö verliebt?«

»Ja, natürlich«, erwiderte ich.

»Und meinst du, Jenö weiß es?«

»Ich glaube, er ignoriert es, damit sie Freunde sein können.« Ich sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, während sie mit dem Rasiermesser um mein Ohr fuhr. »Was ist mit Irmi und Kaspar?«

Sie lächelte, als wüsste sie etwas, das sie nicht verraten wollte. »Sie ist zu ernst für ihn.«

»Aber Kaspar ist der ernsteste Mann, den ich kenne!«, protestierte ich.

»Er will, dass du das denkst. In Wirklichkeit ist er ein Clown.«

In dem Moment rutschte ihr das Messer weg, und ich spürte, wie ein Blutstropfen meinen Hals hinunterrann. »Charlotte, kannst du …«

»Hm?«

Ich stellte mir vor, wie ich mit dem Kinn auf das Waschbecken knallte, mir die Zunge aufplatzte und mein Mund sich mit Blut füllte. Mir wurde übel, und ein bräunlicher Schleier schob sich vor meine Augen. Ich versuchte, ihn wegzublinzeln, aber es half nichts. »Kannst du das wegmachen?«

Charlotte tupfte das Blut mit einem Taschentuch weg. »Entschuldige, Paul, das hatte ich vergessen.« Sie drehte den Wasserhahn auf. »So, alles weg.«

Mir war schummrig, und ich wartete darauf, dass sich der Schleier vor meinen Augen verzog. Wieder hörte ich das Schaben des Rasiermessers. Während sie weitermachte, hielt ich mich am Waschbecken fest und konzentrierte mich, so gut es ging, auf die kalte, glatte Oberfläche unter meinen Händen. Ich konnte kein Blut sehen, seit ich als Kind miterlebt hatte, wie ein Freund sich auf dem Spielplatz einen Nagel aus dem Fuß gezogen hatte und das Blut überallhin gespritzt war.

Schließlich klärte sich mein Blick, und ich stand auf und betrachtete mich im Spiegel, ebenso kahl wie Meister Itten. Ich berührte erst ihren Kopf, dann meinen. »Wie seltsam wir aussehen«, sagte ich. »Wie Zauberer.«

Später gingen wir zum Park. Ich spürte die Luft an meiner Kopfhaut und Charlotte sicher auch an ihrer. Wir spazierten am Fluss entlang. Auf den Bänken saßen Mütter mit ihren Kindern und aßen Butterbrote, umringt von Tauben, die auf ein paar Brosamen warteten. Wir sahen eine Weile zu, wie die Kleinen ihnen Krümel zuwarfen, dann schlenderten wir weiter zur Brücke. »Ist dir warm genug?«, fragte ich.

Sie schaute aus ihrem orangefarbenen Schal heraus. »Geht so. Mir war nicht klar, wie gut Haare isolieren.«

»Du siehst aus wie ein Mönch.«

»Du auch.«

Wir legten uns ans Flussufer und sahen den Wolken zu, die über uns hinwegzogen. Ich fragte mich, was die anderen wohl machten. Jenö rasierte wahrscheinlich gerade Walters Schädel. Von Kaspar und Irmi hatte sie nichts gesagt – vielleicht hatten die beiden sich der Rasur widersetzt. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie vernünftiger waren als wir.

»Komm, wir spielen das Versteckspiel«, sagte sie. »Du bist der Schläfer.«

Das war ein Ritual zwischen uns. Einer schloss die Augen und zählte bis zwanzig. Der andere suchte sich ein Objekt, versteckte es in seiner Hand und beschrieb es mit drei Worten, und der Schläfer musste erraten, was es war. Ich öffnete die Augen. Ihre Hand war zur Faust geballt.

»Lichtbrechend. Farblos. Sehr nass«, sagte sie.

»Das sind vier Worte. Du schummelst.«

»Meinetwegen, dann eben nur nass.«

»Es ist nicht zufällig Wasser?«

Sie öffnete die Hand, und ein paar Tropfen fielen herab. »Wie hast du das bloß erraten?«

»Gut, jetzt bist du der Schläfer.«

Sie schloss die Augen und zählte.

Ich hielt ihr meine Faust hin. »Ummantelt. Gehackt. Schweinisch.«

»Würstchen?«, riet sie mit verwirrter Miene.

»Falsch.« Ich öffnete meine Hand. »Imaginäre Würstchen.«

»Das gilt nicht. Das Objekt muss hier sein. Greifbar.«

»Woher weißt du, dass es das nicht ist? Der ganze Fluss könnte doch voller Würstchen sein, wenn du nur imstande wärst, seine Einzigartigkeit zu erkennen.«

»Selbst Meister Itten würde davon ausgehen, dass der Fluss nur aus Wasser besteht.«

»Meister Itten sieht manchmal nicht, was direkt vor seiner Nase ist. Nimm doch nur mal meine Bilder.«

Ich hatte es kaum ausgesprochen, da bedauerte ich es bereits. Ich wollte nicht, dass wir wieder über Steiners Atelier stritten, nicht an einem so herrlichen Tag wie diesem. Und wie eine Geste der Götter rissen plötzlich die Wolken auf, und die Sonne ließ Juwelen aus Licht auf dem Wasser tanzen.

»Charlotte! Sieh doch nur!«

Die Bäume loderten gelb auf, das Gras dahinter schimmerte smaragdgrün, und die Ilm funkelte so hell, dass ich mich fragte, ob ich das Paradies nicht schon gefunden hatte.

Auch Charlotte schillerte in allen Regenbogenfarben, und zugleich wirkte sie fast durchsichtig.

In meinem Bauch breitete sich ein Gefühl der Freude aus, und gleichzeitig verspürte ich den seltsamen Wunsch, mein Inneres nach außen zu kehren, der Welt meine Nerven zu zeigen. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, alles zu wissen, alles zu spüren. Ich stand auf einem Gipfel. Da war mir klar, dass ich so lange wie nur möglich mit dem Fasten weitermachen würde, um zu sehen, was es noch an Geschenken bereithielt. Ich wollte mehr davon.

Selbst als die Wolken sich wieder vor die Sonne schoben, kümmerte es mich nicht, denn Charlottes Hand lag in meiner. Hier war es – das Paradies, mitten im Gestrüpp am Ufer der Ilm.

Diese goldenen Jahre

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