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Fünf

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Eine Zeitlang vergaß ich Steiners Einladung. Mein Vater hatte das Schulgeld für das Frühjahrssemester bezahlt, und damit war die Geldnot erst einmal gebannt. Doch als ich ein paar Wochen später das Durcheinander auf meinen Schreibtisch aufräumte, fand ich die Visitenkarte wieder. Ich betrachtete sie eine Weile, überlegte, was sie für mich bedeutete, und dachte an Charlottes Warnung. Die Karte war cremeweiß, dick und teuer, die Schrift war zwar altmodisch, aber geprägt. Seine Kundschaft musste in der Tat wohlhabend sein.

Der Mann war mir nicht sonderlich sympathisch gewesen, aber sein Geld könnte sich auf lange Sicht als hilfreich erweisen. Wenn es eine Möglichkeit gab, meine Eltern nicht länger um das Schulgeld zu bitten, musste ich sie ergreifen.

Doch wenn ich ehrlich bin, ging es mir nicht nur um das Geld. Wäre es nicht schön, dachte ich, wenn jemand mein Talent und meine Fähigkeiten bewunderte? (Wie schuljungenhaft, von jemandem wie Ernst Steiner hören zu wollen, dass ich gut genug war!)

Die Bäume zeigten bereits erste grüne Spitzen, als wir an einem warmen Tag Ende März zum Zelten zu unserem Lieblingsplatz fuhren, einer kleinen Lichtung im Wald. Nachts war es dort ein wenig unheimlich, aber tagsüber war sie unser Königreich. Sie lag nicht weit von der Goethe-Eiche entfernt, deren Krone so gewaltig war, dass im Sommer die gesamte Studentenschaft des Bauhauses darunter Schatten gefunden hätte.

Wir fuhren alle sechs nach dem Unterricht dorthin. Auch wenn es wie ein Klischee klingt: Mit dem Rad durch die Straßen der Stadt zu fahren und dann hinauf in den Wald fühlte sich an wie fliegen. Zwischen den Buchenreihen öffneten sich immer wieder Wege, und es sah aus wie auf den Fotografien von Manhattan, die ich gesehen hatte: Straßenschluchten zwischen Wolkenkratzern, die sich nach hinten verjüngten. Eine Weile konnte ich mir einbilden, ich wäre ein New Yorker Taxi, das sich durch das Straßennetz fädelte, und der Wald eine Großstadt, erfüllt vom Geruch nach gebratenen Zwiebeln und der Luft aus den U-Bahn-Schächten.

Es wäre kein großer Umweg, dachte ich, beim Atelier vorbeizufahren und zu fragen, ob ich eine oder zwei Probeschichten machen könnte.

Von meinem Rad sah ich, wie Walter mich angrinste und Charlotte ebenfalls. Jenö war schon ein gutes Stück vor uns. In dem Augenblick liebte ich meine Freunde, ihre Gesichter, auf denen die vorbeiflirrenden Schatten der Bäume spielten, ihr Haar, das im Sonnenlicht schimmerte. Es gab Geschichten von Pilgern, die in den Wald gegangen waren, um den Beginn des Frühlings zu feiern, und diese Feste hatten in wilden Orgien geendet. Unser heiliger Trupp bestand zwar nur aus sechs Leuten, aber hoffen durfte man ja.

Die mächtigen Buchen im Wald loderten gen Himmel wie ein Feuer, kirschrot, zartgrün und rostbraun. Ihre Rinde war so weich, dass man mit einer Münze seinen Namen hineinritzen konnte. Im Herbst leuchtete der Wald in allen Goldtönen, und im letzten Licht der Abendsonne schimmerten die Buchen manchmal violett, blau oder purpurn. Im Winter knarrten die Äste im Wind, aber im Sommer ließ er die Blätter sirren, als stünde der Wald unter Strom.

An der Abzweigung sagte ich den anderen, ich würde nachkommen. Charlotte warf mir einen Blick zu, sagte aber nichts.

Ernst Steiners Atelier befand sich am Waldrand, ein Stück von der Straße zurückgesetzt. Als ich mit dem Rad über den Kiesweg fuhr, sah ich Steiner zu meiner Überraschung auf den Eingangsstufen der großen Holzhütte sitzen. Er hatte wieder den Arbeitskittel an und säuberte etwas mit einem alten Lappen. Im ersten Moment erkannte er mich offenbar nicht, doch dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ah, Sie sind’s!«

Wieder fiel mir auf, wie massig sein Schädel war und vollkommen haarlos, wie bei einem Baby. »Ich komme wegen der Stelle«, sagte ich unsicher. Ich fragte mich, ob er wohl meinen Zeichenblock sehen wollte; ich hatte extra ein paar dottergelbe Sonnenuntergänge und kugelige Schafe gemalt. Er würde mich doch bestimmt nicht einfach drauflos malen lassen, ohne sich vorher meine Arbeit angeschaut zu haben.

»Ich dachte, Ihre Freundin hätte Ihnen davon abgeraten hierherzukommen.«

»Ich könnte das Geld gut gebrauchen«, erwiderte ich und ärgerte mich sofort. Ich wollte nicht zu gierig wirken. »Und ich würde gerne malen.«

Steiner warf den Lappen weg und bedeutete mir, ihm zu folgen. Er öffnete die Tür, und wir betraten einen großen Raum, in dem lauter Männer in Overalls – Frauen gab es hier nicht – gleichzeitig an mehreren Bildern arbeiteten: grellbunte Ölschinken, die, wie Steiner mir erklärte, bei amerikanischen Sammlern und preußischen Junkern großen Anklang fanden. Überall lagen Sägespäne, und die Fenster waren stumpf vor Staub. Als wir in sein Büro gingen, kamen wir an zwei Männern vorbei, die gerade eine besonders kitschige Szene malten: Frauen, die, beschienen von geradezu kindlichen Sonnenstrahlen, im goldenen Wasser eines Flusses pummelige Babys badeten.

»Die sind gut, nicht wahr?«, sagte Steiner grinsend.

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Das Bild war scheußlich, aber wer Kitsch mochte, fand es wahrscheinlich schön. Auch in seinem Büro gab es nichts, was auf wirkliche Kunst hinwies, nur Aktenordner und Hauptbücher. Wir hätten ebenso gut in der Schuhfabrik meines Vaters stehen können.

Steiner schlug ein großes Notizbuch auf und zeigte mir eine Skizze von einem Teich, an dem sich mehrere Frauen entkleideten, um zu baden. Es war genauso geschmacklos wie das Zeug, das bei meinen Eltern an den Wänden hing.

»Können Sie morgen kommen? Dann holt der Kurier es ab.«

»Aber das ist doch nur eine Skizze!«

»Drei Männer in Nachtschicht, und Sie machen morgen den Rest. Das ist im Nullkommanichts fertig.«

Ich willigte ein, obwohl ich seinen Optimismus, was den Zeitplan anging, nicht nachvollziehen konnte.

»Was ist Ihre Spezialität?«, fragte er, und sein Blick wanderte zu meinem Mund.

Ich wusste nicht, was er hören wollte, doch dann fiel mir etwas ein, das ein Lehrer mir mal gesagt hatte. »Ich bin gut mit Licht.«

»Na, das passt doch. Wie heißen Sie eigentlich?«

»Paul Beckermann.«

Mit ausladender Handschrift schrieb er meinen Namen auf die Fläche, die, wie mir inzwischen klar war, der golden leuchtende Morgenhimmel werden sollte. »Dann«, sagte er grinsend, »gehört all das Ihnen.«

Ich brauchte nicht lange, um vom Atelier zur Lichtung zu radeln. Von hier oben konnte ich kilometerweit über die samtigen Felder Thüringens blicken. Zu meinen Füßen lag Weimar, und direkt hinter dem Bauhaus verwandelte die Stadt sich wieder in Grün.

Im Wald war es immer kühler als in der Stadt, und ich fand meine Freunde an einem Lagerfeuer vor. Walter pflückte Laub von Jenös Schuhsohlen, und Charlotte unterhielt sich mit Irmi, die gerade in ein Zimmer ihr gegenüber am Fürstenplatz gezogen war.

Von der anstrengenden Fahrt bergauf war mir ein wenig schwindelig. Die Bäume verschwammen vor meinen Augen, aber die Flammen des Feuers waren so deutlich zu erkennen, als hätte ein Kind einen Rand um sie gemalt. Ich konzentrierte meinen Blick darauf, um mein Gleichgewicht wiederzufinden, doch dann sah ich im Feuer einen Schwarm Krähen, der sich ausbreitete und wieder hineingesogen wurde. Ich nahm meinen eigenen Geruch wahr, er war stechend und animalisch.

»Wo ist Kaspar?«, fragte ich.

»Wieder umgekehrt«, sagte Walter und tätschelte seinen Bauch. »Der Ärmste hat die Steigung nicht geschafft. Wo warst du?«

»Ich hatte noch was zu erledigen.«

Drei Zelte waren bereits rund um das Feuer aufgebaut. Ich fragte mich, mit wem ich mir eins teilen würde. Wahrscheinlich mit Walter; Jenö allein und die beiden Frauen zusammen.

»Wie geheimnisvoll«, sagte Irmi.

»Nicht unbedingt«, entgegnete Charlotte.

Ich holte Steiners Visitenkarte heraus und warf sie ins Feuer. Charlotte lächelte, aber wir wussten beide, dass es nur eine Geste war.

»Und, wie gefiel dir die Flusslichtung im Abendrot?«, fragte Walter, und die anderen lachten.

Alle wussten also bereits Bescheid. »Schon gut, schon gut, ich geb’s ja zu, ich bin ein unverbesserlicher Romantiker.«

»Charlotte meint, dich würde womöglich der ›Imitationsimpuls‹ überkommen.«

»Klingt ansteckend«, sagte Jenö. »Wie die Grippe.«

»Es sind bloß Ölschinken, und dafür gibt’s einen Haufen Geld. Ihr werdet mich noch beneiden, wenn ich demnächst in meinem eigenen Auto durch die Stadt fahre.«

»Ich finde das nicht weiter schlimm«, meinte Irmi. »Warum denn nicht? Vor allem wenn es so leicht verdientes Geld ist.«

»Bald kann er uns dann porträtieren«, spottete Charlotte. »Ich sehe es schon vor mir, wie die Ahnengalerie in einem alten Schloss.«

»Der Erste, der nett zu mir ist, bekommt ein Geschenk.«

»Und das wäre?«, fragte Jenö.

»Ich werde nett zu dir sein«, sagte Irmi.

»Dann wirst du das Erlesenste bekommen, was man von Steiners Geld kaufen kann: Champagner, italienische Trüffel, neue Kleider und Schuhe.«

Irmi lachte. Während wir uns unterhielten, rückte sie näher an mich heran. Ihr Haar war zu einem komplizierten Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing. Sie hatte ein breites Lächeln und kleine Zähne mit einem etwas dunkleren Rand. Ihre grauen Augen waren wechselhaft wie das Wetter, ganz anders als Charlottes unergründlicher Blick. Walter hatte die beiden mal wenig schmeichelhaft als »Granit und Kristall« bezeichnet, allerdings hatte ich nie erfahren, wem er welches Material zuordnete.

Als es dunkel wurde, erzählte Jenö eine Geistergeschichte. Sie war eher für Kinder gedacht und relativ harmlos, es ging darin um einen Jungen, der allein im Wald lebte und jeden hereinließ, der klopfte und ihn als seinen Sohn bezeichnete, auch den Mann mit der Axt. Ich beobachtete Charlotte, während sie zuhörte, ihre Miene zeigte keinerlei Regung. Ich stellte mir vor, wie sie genauso konzentriert in der Oper in Prag saß oder die lebenden Modelle an der Karls-Universität studierte. Hatte irgendjemand anders sie je so geliebt, wie ich sie liebte? Ich glaubte nicht, dass das möglich war.

»Wusstet ihr«, sagte Walter, als Jenö geendet hatte, »dass der Geist von Charlotte von Stein hier im Wald umgeht?«

»Unsinn«, sagte Irmi.

»Doch, das stimmt«, entgegnete Walter. »Sie und Goethe sind damals oft hier im Wald spazieren gegangen. Sie war verheiratet, aber ihr Mann war viel auf Reisen, sodass sie sich mit Goethe treffen konnte, so oft sie wollte. Sie begegneten sich im Ilmpark, und er verliebte sich auf der Stelle in sie.«

Das Gefühl kannte ich: Charlotte und Charlotte, Goethe und ich, wir alle frisch verliebt im Park an der Ilm.

»Charlotte las seine Gedichte und gab ihm Anregungen. Er lobte sie für ihren wachen Blick und ihre Einfühlsamkeit. Sie waren enge Freunde, vielleicht auch Geliebte. Auf jeden Fall liebte sie ihn mehr, als sie ihren Mann je geliebt hat. Keine ihrer vier Töchter hatte überlebt, und sie sagte, mit ihm durch diesen Wald zu spazieren spende ihr Trost. Goethe hätte ihr kein ernsthafterer, treuerer Freund sein können, und er bezeichnete sie als seine Seele. Wenn man ihre Briefe liest … Sie sind so voller Zuneigung, dass man ihre Kraft auf jeder Seite spürt.«

Walter nahm seine Brille ab, putzte sie mit einem Taschentuch und blinzelte, bevor er sie wieder aufsetzte. Er bemerkte meinen Blick und lächelte, fuhr dann jedoch in ernstem Ton fort: »Eines Tages fuhr Goethe einfach weg, ohne Charlotte etwas davon zu sagen. Er schrieb ihr aus Venedig, erklärte ihr, er werde ein oder zwei Jahre fort sein. Charlotte war außer sich vor Kummer. Wie hatte er sie hier alleinlassen können? Ohne auch nur Lebwohl zu sagen? Seine Herzlosigkeit war unverständlich und unverzeihlich. Die ganze Zeit über wanderte sie durch diesen Wald und wartete auf seine Rückkehr. In dem Jahr schrieb sie eine Oper über Dido, die Aeneas verflucht und Rache geschworen hatte, weil er ohne sie von Karthago fortgesegelt war. Goethe bezeichnete seine Zeit in Italien als die glücklichste seines Lebens. Und während er von dem Land schwärmte, wo die Zitronen blühen, lief sie hier unglücklich zwischen den Buchen umher. Nach seiner Rückkehr wurden sie wieder Freunde, aber es war nie wieder so wie zuvor. Wie kann ein Mann, der so feinsinnig über die conditio humana schreibt, so grausam sein, sie hier zurückzulassen, ohne sich auch nur zu verabschieden?«

Wir schwiegen alle, überrascht von Walters nachdenklicher Stimmung; sonst war er eher sarkastisch und von sich überzeugt. Doch dann wandelte sich sein Ernst in Albernheit. »Wenn ihr aufmerksam lauscht, könnt ihr hören, wie die Bäume mit einer Frauenstimme – vermutlich Charlottes – klagen: Goethe, Goethe, Goethe!«

Und damit sprang er auf, umschlang einen Baum in leidenschaftlicher Umarmung und begann, sich daran zu reiben.

Jenö schüttelte den Kopf. »Du spinnst!«

»Das klingt nach einem Ölschinken für dich, Paul«, sagte Charlotte. »Dido und Aeneas. Oder Goethe und Charlotte unter der Eiche.«

Ich ignorierte sie, aber Walter ärgerte sich, dass die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt wurde. »›Hütet euch!‹, klagt Charlotte bis zum heutigen Tag« – seine Stimme klang hoch und hexenhaft schrill – »›hütet euch, ihr Männer mit wankelmütigem Herzen! Der Wald wird sich an euch rächen!‹«

Er ließ den Baum los, legte sich auf den Waldboden und ließ in einer Art seltsamem Beerdigungsritual Laub auf sein Gesicht fallen.

Auf einmal hörten wir in der Ferne Schüsse, und er sprang hastig auf. Verschiedene Klubs nutzten den Wald für Schießübungen. Walters Gesicht bekam im Feuerschein etwas Dämonisches. »Seht ihr? Der Wald fordert Blut!«

Charlotte warf eine Kastanie nach ihm. »Ach, hör schon auf, Walter!«

Und wir anderen lachten.

Diese goldenen Jahre

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