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Eins
ОглавлениеEngland
Walter ist tot. Irmi hat mich mitten in der Nacht angerufen, um es mir mitzuteilen. Sie klang bestürzt und verstand nicht, warum ich es nicht auch war. »Er war dein Freund, Paul«, sagte sie. »Wie kannst du so gleichgültig bleiben?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich.
Walter, der Unberechenbare, der Unsympath – im Grunde war er ebenso wenig mein Freund wie Jenö, der schon vor Jahrzehnten in London untergetaucht ist. Warum sollte ich traurig sein, dass Walter tot ist? Sein Leben bestand nur aus eigennützigem Verrat und gedankenloser Gehässigkeit, und als ich Berlin endgültig verließ, hatte ich jeden Kontakt zu ihm abgebrochen.
Ich empfand nichts, was mich nicht weiter überraschte.
Jetzt ist die Hälfte unserer Clique tot: Walter durch den Schlaganfall; Kaspar, den sie mit seinem Flugzeug über Alexandria abgeschossen haben; und Charlotte, die in Buchenwald gestorben ist, nur wenige Kilometer nördlich von Weimar, wo diese Geschichte beginnt.
Ich denke jeden Tag an Charlotte. Die Erinnerungen an sie sind wie Stromschläge. Manchmal sitze ich mit dem Pinsel in der Hand vor einer Leinwand, und dann durchzuckt mich plötzlich ein Schmerz, selbst nach all dieser Zeit. Fast dreißig Jahre sind seit ihrem Tod vergangen; vierzig, seit wir zusammen in Berlin gelebt haben. Jetzt besucht sie mich in meinen Träumen, beim Mittagessen oder wenn ich in der Badewanne liege. Ich sehe sie an ihrem Webstuhl sitzen, in ihren Männerkleidern durch den Tiergarten schlendern oder wie sie kurz vor der Razzia erklärt, dass sie Deutschland nicht verlassen wird.
Von mir aus hätte Walter dreimal sterben können, wenn sie dafür verschont geblieben wäre. Aber was nützen diese Gedanken schon. Ich gebe ihm die Schuld an ihrem Tod. Er hätte Ernst Steiner bitten können, sie aus dem Lager herauszuholen, er hätte mit den richtigen Leuten reden können. Es hätte in seiner Macht gestanden. Aber vielleicht war es sogar sein letzter, krönender Schachzug, sie dort in dem Wald sterben zu lassen, wo wir sechs im Sommer so oft kampiert hatten, bevor wir mit unseren Rädern durch das flirrende Helldunkel der Bäume in die Stadt zurückfuhren. Damals in diesen ersten goldenen Jahren am Bauhaus.
Jeder von uns würde das, was geschehen ist, anders erzählen, und ich kann meine Subjektivität nicht leugnen. Mir ist klar, dass die Geschichte im Rückblick von Kummer gefärbt ist: Mein Glück erscheint strahlender, und der Schmerz hat den schweren Zeiten vielleicht mehr Tiefe verliehen. Manchmal beneide ich mein jüngeres Ich, dann wieder erscheint mir die Vergangenheit wie eine Ruine.
Dies ist mein Bericht darüber, was wir in den zwanziger Jahren erlebt haben, einem Jahrzehnt voller Glanz und Tragik. Doch wenn ich diese Geschichte erzähle, muss ich ehrlich und unvoreingenommen sein. Und ich muss ein Geständnis ablegen. All die Jahre habe ich Walter die Schuld gegeben, doch dabei habe ich die Augen davor verschlossen, was ich getan oder vielmehr nicht getan habe, um Charlotte zu retten.
Ein Freund von mir meinte einmal, ein Geheimnis sei wahrlich schändlich, wenn es niemals in Worte gefasst werden könne, und das Schweigen werde mit Scham erkauft. All die Jahre habe ich geschwiegen, doch nun soll damit Schluss sein. Als Charlotte und ich zusammen in Berlin lebten, gab es einen Augenblick, als auch ich sie hätte retten können. Walter stellte mich vor die Wahl, alle Fakten lagen auf dem Tisch – und ich entschied mich, nichts zu unternehmen. Es war keine hastige, übereilte Entscheidung. Ich dachte zwei Wochen lang darüber nach.
Wenn Walter Charlotte getötet hat, dann habe auch ich sie getötet.