Читать книгу Diese goldenen Jahre - Naomi Wood - Страница 13
Neun
ОглавлениеWir fasteten seit einer Woche, als ich etwas sah, das mich an meiner Wahrnehmung zweifeln ließ.
Es war nach einer Nachtschicht in Steiners Atelier. Wir hatten an einer Himmelfahrt Christi gearbeitet, mit glühendem Heiligenschein und lauter drallen Putten. Das Bild war für eine jüdische Bank in Hamburg bestimmt, sagte Steiner lachend, damit die Kunden sich dort wohler fühlten. Die Arbeit war nicht weiter schwierig, weil das Licht so überzeichnet und grotesk war, und Steiner erlaubte mir, ein wenig früher zu gehen.
Sobald ich am Stadtrand ankam, fuhr ich direkt zur nächsten Bäckerei. Sie war nicht so gut wie die in der Nähe meines Zimmers, aber bis ich dort gewesen wäre, hätte ich für das Geld nur noch ein halbes Brot bekommen. Wie die anderen Kunden schob ich mein Rad in den Laden, um die Geldstapel aus dem Fahrradkorb schaufeln zu können, und der Bäcker scherzte wie immer, dass ihm der Korb lieber wäre als das Geld.
Der Bäcker schenkte mir einen Kaffee ein – oder genauer gesagt Muckefuck – und schnitt mir das Schwarzbrot, das mein Frühstück und Abendessen sein würde, in Scheiben. Er behandelte uns Maler immer sehr freundlich, wir waren seine ersten Kunden des Tages, und ich glaube, ihm gefiel unsere Gesellschaft so früh am Morgen.
Als ich gerade den letzten Schluck Kaffee trank, sah ich Jenö draußen an der Bäckerei vorbeigehen. Obwohl es erst halb fünf und noch dunkel war, konnte ich ihn im Schein der Ladenbeleuchtung ganz deutlich erkennen. Er sah aus, als quälte ihn etwas. Im ersten Moment wollte ich hinauslaufen und ihn fragen, was los war, da ich mir nicht erklären konnte, was er um diese Zeit in dieser Gegend machte, doch etwas an seiner Miene ließ mich zögern. Er wirkte so in sich gekehrt, dass ein Gespräch vielleicht nicht das Richtige wäre. Und so sah ich ihm nur nach, bis er um die Ecke und Richtung Innenstadt verschwand. Er war so in Gedanken versunken, dass er mich nicht bemerkt hatte, obwohl ich direkt am Schaufenster gestanden hatte, nur eine Armeslänge entfernt.
Ich ging zu Bett, ohne weiter über Jenös überraschendes Auftauchen nachzudenken. Es war noch so früh, und ich hatte solchen Hunger gehabt, dass ich annahm, ich hätte ihn mir nur eingebildet, ein Geist in den leeren Straßen.
Nach der langen Nacht verschlief ich den halben Samstag. Unter der Decke war es auch am einfachsten, nicht ans Essen zu denken. Jedes Mal wenn ich aufwachte, wunderte ich mich, dass Charlotte nicht neben dem Bett stand und mich fragte, ob ich es richtig fand, dass ich wegen der Arbeit bei Steiner einen ganzen Tag meines Lebens verpasste. Wir verbrachten meist die Wochenenden zusammen, fertigten Arbeiten für den Unterricht an, radelten durch den Wald oder gingen an der Ilm spazieren. Ich tippte ihre Laterne an, die über mir hing, und hoffte, sie würde Charlotte herbeizaubern.
Am Nachmittag begann ich zu zeichnen, was ich schon lange nicht mehr getan hatte. Meine Pension lag an einer engen Kurve, wo die Prostituierten der Stadt oft standen und auf Kundschaft warteten. Im Haus gegenüber trafen sich donnerstags die Kommunisten und dienstags die Anhänger der NSDAP, wobei Letztere deutlich zahlreicher waren als Erstere. Von meinem Fenster aus konnte ich den Alten Friedhof sehen, auf dem viele berühmte Männer begraben waren, außerdem die russisch-orthodoxe Kirche und die Statue eines behelmten Kriegers mit erhobenem Schwert. Ich kannte seinen Namen nicht, aber er gefiel mir, vielleicht weil ich mich selbst darin erkannte: ein Mann, bereit zur Tat.
Den ganzen Nachmittag zeichnete ich die Frauen unten auf der Straße. Obwohl es mir eine Muse nahm, freute ich mich immer, wenn eine von ihnen einen Kunden fand. Ich stellte mir das Essen vor, das sie sich hinterher leisten konnte, und fragte mich, ob sie bei den Männern dachte: »Da ist mein Frühstück« und »Da ist ein Schnitzel«.
Als ich später jemanden die Treppe heraufkommen und meinen Namen rufen hörte, nahm ich an, es wäre Charlotte, die mir erklären wollte, warum sie erst so spät kam. Doch als ich die Tür öffnete, stand Irmi da. »Paul«, stieß sie atemlos aus. »Wo warst du?«
»Hier«, antwortete ich. »Was ist denn los?«
»Den ganzen Tag?«
»Ja. Wieso?«
»Es ist etwas passiert. Mit Jenö und Walter. Sie haben Ärger gekriegt. Vielleicht kriegen wir alle Ärger.« Irmi sah auf meine Glatze. »Ich weiß nicht, warum ihr euch alle die Haare abrasieren musstet. Das macht alles nur noch schlimmer. Zieh dir was über, wir müssen los.«
Wir liefen die Treppe hinunter, und als wir unten auf der Straße ankamen, riss meine Vermieterin ihr Fenster auf und rief mir zu: »Schluss mit dem Lärm, Herr Beckermann! Ich dulde dieses Gepolter im Haus nicht!«
»Ja, Frau Kramer!«
Ich fragte mich, ob Jenös eigenartiges Auftauchen vor der Bäckerei etwas mit dem Ärger zu tun hatte, von dem Irmi sprach. »Wohin gehen wir?«, fragte ich sie, als ich sie eingeholt hatte.
»Zum Bauhaus natürlich.«
Vor der Dunkelheit draußen leuchtete die Kantine wie eine Bühne. Walter und Jenö saßen mit gesenkten Köpfen an demselben Tisch, wo ich Monate zuvor zum ersten Mal mit Charlotte gesprochen hatte. Charlotte und Kaspar holten sich gerade etwas zu essen aus dem Selbstbedienungsbereich. Da es noch nicht Zeit für das Abendessen war, war außer uns niemand da. Ich fühlte mich ausgeschlossen und fragte mich, was die anderen ohne mich gemacht hatten, kam mir dann aber albern vor und riss mich zusammen. »Was ist los? Hören wir mit dem Fasten auf?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Irmi. »Sie haben mir nur gesagt, dass ich dich holen soll.« Ich wunderte mich ein wenig, denn normalerweise ließ sich Irmi nicht zum Laufburschen machen.
»Wir haben doch gerade erst damit angefangen.« Ich dachte an das Hochgefühl am Fluss und daran, was ich vielleicht noch erleben würde. Ich wollte noch nicht aufhören.
Hier im Licht der Kantine war Jenös Gesicht besser zu sehen. Er hatte Blutergüsse am Kinn und auf der einen Wange. Morgens in der Bäckerei hatte ich nichts davon bemerkt, aber möglicherweise waren sie da noch zu frisch gewesen. Seine großen Hände, die auf dem Tisch lagen, waren aufgeschürft und ein wenig geschwollen. Vielleicht war er in eine Schlägerei geraten. Vielleicht hatte ihn jemand im Schwan provoziert. Vielleicht sogar einer von Steiners Männern. Walter war vollkommen unversehrt.
»Jenö, was ist passiert?«
Charlotte stellte einen Teller vor sich hin, setzte sich und begann zu essen.
»Charlotte, was ist los? Was ist mit dem Fasten?«
Wir sahen alle zu, wie sie ihren Eintopf löffelte. »Befehl vom Direktor«, sagte sie. »Wir müssen essen.«
»Der Direktor hat uns das Fasten verboten?«
»Er will nicht, dass wir mit diesen ›Albernheiten‹ weitermachen. Das Fasten ist beendet.«
»Aber es fing gerade an, spannend zu werden.«
Charlotte blickte zu Walter. »Erklär du es ihm.«
Walter rutschte auf seinem Stuhl hin und her, und erst da fiel mir auf, dass er anders aussah. Sonst lief er immer mit stolz erhobenem Kopf herum, als gehörte ihm halb Weimar, aber jetzt wirkte er ziemlich kleinlaut. »Es gab einen Vorfall im Badehaus«, sagte er und rückte sein Besteck gerade. »Tut mir leid, wenn ich mich wiederhole. Die anderen haben es alle schon gehört.«
»Warum habt ihr mich denn nicht eher geholt?«
»Zu beschäftigt«, sagte er. »Egal, ich mach’s kurz. Jenö ist in der Sauna ohnmächtig geworden. Da drin war es natürlich sehr heiß, und wir hatten wegen des Fastens nichts im Magen.«
»Du bist ohnmächtig geworden?«
Jenö gab nur einen unverständlichen Laut von sich. Seltsam, er schien mir gar nicht der Typ zu sein, der einfach umkippte. Ich schon, wenn ich Blut sah, aber doch nicht Jenö, dieser Schrank von einem Kerl.
»Ich bekam ihn nicht von der Stelle«, fuhr Walter fort. »Deshalb habe ich um Hilfe gerufen. Ein Mann kam herein und versuchte, Jenö mit Ohrfeigen wach zu kriegen, und als Jenö zu sich kam, dachte er wohl, er würde angegriffen. Jedenfalls gab es ein Gerangel.«
»Wie sieht der andere aus?«
»Schlimmer als ich«, sagte Jenö. Vielleicht tat ihm das Gesicht weh, und deshalb erzählte Walter die Geschichte. »Viel schlimmer.«
»Wann ist das passiert?«
»Letzte Nacht«, sagte Jenö.
»Um wie viel Uhr?«
»Spät.«
»Wann genau?«
»Warum ist das wichtig?«, fragte Kaspar, der es offensichtlich genoss, endlich wieder ganz offen essen zu können.
»Gegen Mitternacht«, sagte Walter. »Der Mann heißt Sommer. Er wohnt über der Schusterwerkstatt Reinhardt.«
Jenö tippte mit den Fingern auf den Tisch. »Kann sein, dass er Anzeige erstattet.«
»Aber es gibt doch keine Zeugen, oder?«, wandte Charlotte ein.
»Wem wird der Richter wohl glauben – einem gestandenen Bürger oder einem Studenten? Außerdem wäre es nicht sehr ehrenhaft, mich herauszureden. Ich habe ihm Verletzungen zugefügt, also bin ich auch verantwortlich.«
»Der Direktor spricht mit Herrn Sommer«, sagte Walter. »Er will versuchen, ihn zu überreden, keine Anzeige zu erstatten.«
»Es tut mir so leid«, brach es aus Jenö heraus. »Mir ist einfach die Sicherung durchgebrannt.«
Walter legte seine Hand auf Jenös. Es war das erste Mal, dass ich so eine Berührung zwischen zwei Männern sah. »Das lag an der Ohnmacht«, sagte er. »Natürlich hattest du nicht die Absicht, ihn zu verletzen.«
Jenö sah ihn forschend an. »Trotzdem. Das ist keine Entschuldigung.«
»Du bist ja ziemlich ungeschoren davongekommen«, sagte ich zu Walter.
»Was hätte ich denn tun sollen?« Er blickte auf seine Hände. »Ich bin wohl kaum der Typ für eine Prügelei.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Irmi.
»Keinerlei auffälliges Verhalten«, sagte Charlotte. »Kein Fasten. Wir sind ab sofort ganz brav, am Bauhaus und in der Stadt.«
Walter räusperte sich. »Da ist noch etwas.«
»Was denn jetzt noch?«, fragte Irmi gereizt, und ich sah, wie Charlotte ihr einen Blick zuwarf.
»Wir haben Hausarrest.«
»Was?«, sagte Kaspar. »Wir alle?«
Walter nickte. »Der Direktor hat gesagt, alle sechs. ›Meister Ittens Jünger‹ hat er uns genannt. Wir dürfen uns nur im Bauhaus und in unseren Zimmern aufhalten und nach Anbruch der Dunkelheit auch nicht mehr rausgehen. Wir haben Arrest, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«
Kaspar warf sein Besteck auf den Tisch. »Na großartig.«
Walter senkte die Stimme. »Der Direktor fürchtet, dass es zu Vergeltungsmaßnahmen kommen könnte. Die Beziehungen zwischen der Schule und der Stadt sind nicht die besten. Ich glaube, er hat Angst, dass man uns zusammenschlägt.«
»Tut mir leid«, sagte Jenö erneut. »Das ist alles meine Schuld.«
Charlotte legte die Hände auf den Tisch. Ihr Teller war leer. Sie betrachtete Jenös Blutergüsse. »Wenn ich nicht mit dem Fasten angefangen hätte, wäre das nicht passiert. Es war eine dumme Idee.«
Ich sah, wie Walter seine Gedanken sortierte, mit Charlottes Zerknirschung hatte er offenbar nicht gerechnet. »Du kannst doch nicht dir die Schuld geben.«
»Du hast gesagt, es lag am Fasten, dass Jenö ohnmächtig geworden ist.«
Walter zuckte die Achseln. »Das Fasten, die Hitze – da sind mehrere Sachen zusammengekommen.«
»Es ist meine Schuld. Ich möchte helfen.«
»Danke, aber es gibt nicht viel, was wir tun können.«
»Was ist, wenn dieser Mann die Polizei einschaltet?«, fragte ich, um Charlotte von ihren Schuldgefühlen abzulenken.
»Dann ist hier Schluss für uns beide.«
»Was?«, rief Kaspar aus. »Das kann doch nicht sein!«
»Wir können nicht in Weimar herumspazieren und Leute zusammenschlagen, Kaspar. Das kann der Direktor nicht dulden.«
Ich stand auf. Ich hatte genug von den Diskussionen. Außerdem hatte ich keinen Hunger, und ich war nicht bereit, meine mühsam erkämpften Errungenschaften wieder aufzugeben. Es ging niemanden etwas an, was ich außerhalb des Unterrichts tat.
»Wo willst du hin?«
»Nach Hause. Wir stehen doch unter Arrest, oder?«
Ich dachte, Charlotte würde mitkommen, doch sie blieb, und so ging ich allein.
Im Türrahmen drehte ich mich noch einmal um. Aus der Distanz wirkten sie verloren und ein wenig töricht, als würde ich sie mit den Augen des Direktors oder der aufgebrachten Bürger Weimars sehen. Alle fünf starrten vor sich hin, keiner sah den anderen an. Vor kurzem noch hatten wir im Wald herumgealbert. Jetzt waren wir bedroht, und alles wegen Jenö und seinem verdammten Jähzorn.
Mit einem Mal blickte Walter zu mir, und da sah ich, wie ein verstohlener Ausdruck von Freude, ja fast Glück über sein Gesicht huschte. Da endlich begriff ich, warum Walter so anders aussah: Er hatte seine Brille nicht auf.