Читать книгу Diese goldenen Jahre - Naomi Wood - Страница 12
Acht
ОглавлениеEngland
Im Sommer ist das Licht hier kaum zu gebrauchen. Es ist, als würde es durch einen Schleier hereinfallen, lässt gerade Linien krumm erscheinen und nimmt den Farben die Kraft. Das liegt an der Seeluft. Ganz anders als in unserer Wohnung damals in Kreuzberg, wo der Staub von der Gießerei die Fensterscheiben trübte. Charlotte hat immer gesagt, ich reagiere sehr empfindlich auf das Wetter, und das stimmt: Ein sonniger Tag kann in meinem Herzen einen Palast öffnen. Er ist nur nicht so gut zum Malen.
Ich lebe jetzt schon so lange in England, dass ich mich eigentlich daran gewöhnt haben müsste. In manchen Jahren male ich nur im Winter und verbringe den Sommer damit, das Meer und die Fischerboote zu betrachten, Männer, die wasserperlende Netze mit schillernden Fischen einholen. Und während ich allein in meinen Gummistiefeln umherstreife und so tue, als wäre ich Paul Brickman, ein Engländer wie alle anderen, bilde ich mir ein, ich wäre glücklich. Es ist beinahe genug.
Der Ausblick erinnert an ein Steiner-Bild: rollende Wellen, öliges Sonnenlicht und dralle Kinder. Ich habe in vielerlei Hinsicht Glück gehabt: Ich war zu jung, um in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, und in den dreißiger Jahren konnte ich aus Deutschland fliehen, weil Irmi mir Geld geliehen hat. Nein, ich möchte mein Leben mit niemandem tauschen. Walter mit seinem Lamento über Goethe; Charlotte und ich im Sonnenschein an der Ilm; Meister Ittens Zitronenlektion – all diese Erinnerungen sind mir kostbar.
Mein Haus hier ist komfortabel und geräumig. Alles hat seinen Platz. Wobei ich nicht viel besitze. Eine einfache Küche und ein Wohnzimmer, darüber mein Schlafzimmer und ganz oben das Atelier, perfekt ausgerichtet für das ergiebigere Winterlicht. An den Wänden des Ateliers hängen Fotos aus dem Dessauer Bauhaus: eins von uns auf einem Balkon und eins vom Metallischen Fest. Daneben ein Wandbehang von Charlotte, der bei der Razzia in Berlin beschädigt wurde. Er macht den nüchternen Raum ein wenig freundlicher. Einen ihrer Wandbehänge zu betrachten ist wie Musik zu hören. Das Garn singt.
Abgesehen von seiner Schlichtheit verrät das Haus nicht, woher ich komme. Es gibt keine Breuer-Stühle und keine Brandt-Lampen. Mit seinen Schaukelstühlen, sanft getönten Wänden und Holzmöbeln entspricht es eher dem Shaker-Stil als dem Bauhaus. Im Wohnzimmer hängt ein Bild, das ich sehr mag: Concetto Spaziale (Bianco) von Lucio Fontana, eine zerschnittene Leinwand. Ich glaube, genau darauf hatte Charlotte abgezielt, als sie anfing, große Löcher in ihre Arbeiten hineinzuweben, eine spezielle Technik, die sie in Dessau ausprobierte. Wenn sie am Leben geblieben wäre, hätte sie vielleicht in dieser Richtung weitergemacht: im Gewebe Raum schaffen. Immer wenn ich den Fontana anschaue, denke ich an das Leben, das sie vielleicht gehabt, und an die Arbeiten, die sie vielleicht erschaffen hätte.
Irmi ruft wieder an. Ihre Stimme klingt voll und ein wenig verspielt, obwohl es um ernste Dinge geht. Wir haben schon vor langer Zeit aufgehört, über unsere Clique zu sprechen, weil es jedes Mal zu Spannungen führte, aber jetzt gibt es kein anderes Thema. Walter ist tot, und Irmi muss sich um alles kümmern. Sie fragt, ob ich zur Beerdigung komme, nächste Woche in Mitte.
»Ich kann nicht.«
Ich will nicht dabei sein, wenn er beerdigt wird. Ich würde mich gezwungen fühlen, ihm zu verzeihen, oder Irmi mit ihrem unerschütterlichen Glauben an das Gute würde mich dazu drängen. Und ich könnte es nicht ertragen, wenn Jenö auch dabei wäre. Wir würden zu dritt dastehen, zusehen, wie der Sarg in die Erde gesenkt wird, und nicht wissen, wie wir um unseren Freund trauern sollen. »Ich kriege keine Einreiseerlaubnis.«
»Unsinn«, widersprach sie. »Du bist Sachse, natürlich lassen sie dich rein.«
»Aber vielleicht nicht wieder raus.«
»Du malst keine Traktoren und Arbeiter. Du bist für sie nicht interessant.«
Sie kann sagen, was sie will, nichts wird mich dazu bringen, zu Walters Beerdigung zu gehen.
»Es ist nicht seine Schuld, dass Charlotte im Lager gestorben ist, Paul.« Irmi war schon immer sehr direkt, hat nie um den heißen Brei herumgeredet.
»Er hätte sie da rausholen können.«
»So einfach war das nicht.«
»Er hätte nur mit Steiner reden müssen.«
»Ernst Steiner hatte damals einen hohen Posten.«
»Eben.«
»Das meinte ich nicht. Steiner konnte sich nicht erlauben, sich für eine einzelne Gefangene einzusetzen.«
»Bei Franz hat Walter es ja auch geschafft.«
»Das war 1937! Als sie dorthin kam, war vieles anders.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Es ist völlig egal, was du glaubst. Du warst nicht da, du warst in England. Und Jenö auch. Ihr habt keine Ahnung, wie es hier war.«
Geräusche in der Leitung. Ich frage mich, ob wir abgehört werden. Vielleicht ist das ein verbreitetes Gesprächsthema: wer was getan hat und wie viel Ausgewanderte dazu sagen dürfen. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Das stand auf einem Stickbild, das meine Mutter in unserem Wohnzimmer in Dresden aufgehängt hatte. Doch ich kann nicht anders, ich verurteile Walter, ich hasse Walter, und mein Hass hilft mir, mich besser zu fühlen. Damals, 1944, hätte er einen Hund, ein Pferd, eine Ratte besser behandelt als sie!
»Charlotte hatte recht. Er hat immer gegen sie intrigiert, versucht, ihr zu nehmen, was sie hatte. Sie im Lager zu lassen war sein letzter Racheakt. Verstehst du das nicht?«
Irmi seufzt. »Er war kein Ungeheuer, Paul.«
»Warum hat er dann nichts getan?«
»Ich weiß es nicht. Außerdem …«
Ich versuche, sie zu unterbrechen, aber sie lässt mich nicht zu Wort kommen.
»Nein. Du hörst mir jetzt zu. Walter ist tot! Es lässt sich nicht mehr ändern. Du hättest auch etwas tun können, aber das hast du nicht. Und Jenö und ich auch nicht. Dieser ganze Zorn ist doch sinnlos.« Im Hintergrund ist eine Stimme zu hören, vielleicht ist es ihr Mann Teddy. »Bitte. Komm doch wenigstens um meinetwillen, um der alten Zeiten willen. Ich würde dich so gerne sehen.«
»Tut mir leid, aber ich kann nicht.«
»Komm schon«, sagt sie in sanfterem Tonfall. »Ich bin pleite. Du schuldest mir immer noch hundert Mark für den Flug nach Amsterdam. Wie viel wäre das heute?«
»Ich überweise es dir.«
»Lass gut sein.« Ihre Stimme wird wieder hart. »Ich will dein Geld nicht, es sei denn, du kommst her.«
Weil ich nicht weiß, was ich darauf erwidern soll, lege ich auf und schaue hinunter auf den Strand, wo die Leute in der letzten Wärme des Tages ins Wasser tauchen.
Es ändert nichts, ob ich nach Berlin fahre oder nicht. Walter König kann ohne mich beerdigt werden.