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Zehn

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Die ganze Geschichte war seltsam. Ich hatte noch nie erlebt, dass Jenö ohnmächtig wurde, und obwohl er bisweilen recht schweigsam sein konnte, fand ich es merkwürdig, dass er sein Handeln überhaupt nicht verteidigt hatte. Er hatte sich lediglich für seine Überreaktion entschuldigt. Trotzdem ging ich davon aus, dass es ein Missgeschick war. Die Polizei würde doch sicher nicht zwei junge Kunststudenten wegen einer kleinen Schlägerei verhaften. Und so verbrachte ich den Sonntag damit, mich auf Meister Ittens Unterricht vorzubereiten.

Am nächsten Tag sollten wir die Eigenschaften von Zeitungspapier erforschen, herausfinden, in welcher Form es am belastbarsten war und wie sich das auf eine dreidimensionale Struktur übertragen ließe. Vormittags versuchte ich mich an verschiedenen Bearbeitungstechniken, probierte aus, wie ich das Papier falten, schneiden und in verschiedene Richtungen biegen konnte. Aber ich war mit meinen Gedanken nicht bei der Sache. Immer wieder dachte ich über Walters Geschichte nach. Der Vorfall hatte sich um Mitternacht ereignet, aber ich hatte Jenö erst morgens um halb fünf bei der Bäckerei gesehen. Was hatten sie dazwischen getan? Und was war mit Walters Brille geschehen?

Am Nachmittag machte ich mich auf die Suche nach meinen Freunden, aber sie waren weder im Bauhaus noch im Park, und ich nahm nicht an, dass sie ausgerechnet jetzt, wo wir brav wie die Chorknaben sein sollten, in den Wald gefahren waren, um dort herumzualbern. Und wenn doch, hätten sie mich eingeladen mitzukommen.

Ich ging zu Walter, dann zu Charlotte, doch sie waren beide nicht zu Hause. Schließlich versuchte ich es bei Irmi. Kaspar war bei ihr, aber sie sagte, die anderen hätte sie den ganzen Tag nicht gesehen. Sie sei morgens »aus einer Laune heraus« in die Kirche gegangen, und Kaspar würde rechtzeitig gehen, bevor es dunkel wurde. Ich sah hinüber zu Charlottes Zimmer, aber dort waren die Vorhänge zugezogen.

Ich machte mich auf den Heimweg und fragte mich, warum ich der Letzte gewesen war, der von der Sache erfahren hatte. Was hatte Walter gesagt? »Tut mir leid, wenn ich mich wiederhole.« Vielleicht war es einfach nur Pech, irgendjemand musste schließlich der Letzte sein.

Wie immer tauchten die Huren unten auf der Straße auf – für sie gab es keinen freien Tag –, und ich hörte Musik aus Frau Kramers Wohnung, einen Wiener Walzer, der klang, als gehörte er in ein anderes Jahrhundert. Mich überkam eine melancholische Stimmung. Alles war aus dem Gleichgewicht geraten.

Ohne Beschäftigung fühlte ich mich einsam. Ich sehnte mich danach, etwas zu essen, rief mir jedoch mein Ziel in Erinnerung: eine neue Sicht zu erlangen, einen Zustand der Transzendenz. Ich dachte, es würde mir schwerfallen einzuschlafen, aber vielleicht war ich noch müde von der Nachtschicht am Freitag, denn nach einem Schluck heißem Zitronenwasser schlief ich überraschend schnell ein.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich so wach und klar wie schon lange nicht mehr. Ich aß eine Scheibe Brot und trank eine Tasse von Frau Kramers fadem Kaffee. Im Bauhaus würde wegen des Vorfalls im Badehaus natürlich die Gerüchteküche brodeln, und ich hatte keine Lust darauf, weshalb ich mich erst im letzten Moment auf den Weg machte.

Als ich in der Schule ankam, waren fast alle aus dem ersten Jahr bereits in der Werkstatt. Merkwürdigerweise hatte unsere Gruppe sich geteilt: Jenö, Walter und Charlotte saßen auf der einen Seite, Kaspar und Irmi auf der anderen. Ich weiß nicht, warum ich nicht zu Charlotte hinüberging und mich stattdessen zu Irmi und Kaspar gesellte.

»Dieser blöde Jenö«, sagte Irmi, als ich mich zu ihnen setzte. »Wie sich herausgestellt hat, ist dieser Sommer mit dem hiesigen Richter befreundet. Die zwei sind geliefert.«

Kaspar, der wie immer ganz in Schwarz gekleidet war, nippte an einem Kaffee. »Doch nicht wegen ein paar Faustschlägen.«

»Anscheinend ist Sommer grün und blau.«

»Wer sagt das?«

»Er war heute Morgen hier, um mit dem Direktor zu sprechen.«

»Jenö wird von seinem Vater bestimmt auf dem Hof zum Arbeiten verdammt«, sagte Kaspar. »Ich will auf keinen Fall in mein altes Leben zurück, lieber sterbe ich.« Das wunderte mich, denn Kaspar, der aus Berlin kam, schien nach allem, was er erzählt hatte, ein ziemlich aufregendes Leben gehabt zu haben, bevor er nach Weimar gekommen war. Er würde nicht zu Tee und Stollen in Dresden zurückkehren wie ich oder in irgendein westfälisches Kaff wie Walter.

»Wird Sommer zur Polizei gehen?« Ich wusste, meine Frage klang naiv, aber ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass es so ernst werden würde.

»Irmi hat da eine Theorie«.

Irmi warf Kaspar einen Blick zu.

»So?«, fragte ich. »Was denn für eine?«

»Ach nichts.« Kaspars Bemerkung schien sie zu ärgern. »Nimmst du den beiden etwa ihre Geschichte ab?«

»Wieso nicht?«

»Ich habe noch nie erlebt, dass Jenö ohnmächtig geworden ist. Du ja« – sie stupste mich in die Rippen – »aber nicht Jenö.«

»Ach, Irmi«, sagte Kaspar und legte seine Hand auf Irmis. »Lass gut sein.«

Sie zog ihre Hand weg. »Paul glaubt auch nicht an den Quatsch. Stimmt’s, Paul?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Hat Walter noch irgendwas gesagt?«

»Nein. Ich meine, ich habe ihn seit Samstag nicht mehr gesehen.«

»Also, für mich ist das alles Kokolores.« Sie fuhr sich mit der stumpfen Seite einer Messerklinge über die Handfläche, und mir wurde ein wenig flau. »Ich glaube, in Wirklichkeit hat Walter sich geprügelt, und Jenö deckt ihn.« Und dann stieß sie ein kehliges Lachen aus und ließ das Messer fallen.

»Sieh dir Walter doch an«, sagte Kaspar trocken. »Das schmale Hemd könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«

Ich beobachtete die anderen eine Weile, solange Meister Itten noch nicht da war. Walter ließ Jenö nicht aus den Augen, doch der wirkte verschlossen. Seine Blutergüsse waren ein wenig blasser geworden. Charlotte hielt den Kopf gesenkt und kritzelte etwas auf ein Blatt Papier.

Meister Itten beachtete unsere Zersplitterung nicht, als er kurz darauf hereinkam. Er bat uns, die Augen zu schließen, und wir begannen wie immer mit unserer Meditation. Ich schaute, ob jemand heimlich herüberlinste, wie sonst auch, doch diesmal machte niemand mit, nicht einmal Kaspar. Er wollte sich wahrscheinlich keinen Ärger einhandeln.

Die Zeit verging nur langsam. Ich blickte mich im Raum um, doch alle saßen reglos da. Ich hatte den seltsamen Eindruck, wir bestünden alle aus ganz feinem Staub, und der geringste Luftzug würde uns auseinanderwehen. Wenn die Polizei Jenö holte, würde sie auch Walter holen. Wie leicht es wäre, uns aus unserer Besonderheit herauszureißen – ein paar Faustschläge, und Jenö würde wieder bei seinen Eltern auf dem Bauernhof arbeiten. Wie schnell sich all diese Schönheit auflösen könnte.

Kurz bevor der Meister sein Glöckchen schlug, schloss ich die Augen. Ich tat, als hätte ich Mühe, ins Hier und Jetzt zurückzufinden, doch Itten beachtete mich gar nicht, er sah Jenö an. »Sind Sie gestürzt, Herr Fiedler?«

Itten tat nur so arglos, bestimmt hatte er schon von dem Vorfall im Badehaus gehört. Ich nahm sogar an, dass der Direktor ihn beiseitegenommen und ihn gewarnt hatte. Keine privaten Treffen mehr und kein Fasten.

»Ja«, antwortete Jenö.

Während des Unterrichts versuchte ich immer wieder, Charlottes Blick zu erhaschen, aber sie war ganz in die Aufgabe versunken. Wir hatten eine Stunde Zeit, um aus mehreren Lagen Zeitungspapier etwas Neues zu erschaffen. Nach meinen Versuchen vom Tag zuvor entschied ich mich für ein Boot – diese Form war am besten geeignet, um die Eigenschaften des Materials zu nutzen. Alle werkelten still vor sich hin. Sogar Elena, Hannah und Eva – die drei Grazien, wie wir sie nannten – waren ruhiger als sonst und bastelten eine Art afrikanischen Hut, eine Jacke und eine dicke, klobige Halskette.

Der Meister ging im Raum umher und sprach über die Beschaffenheit des Zeitungspapiers und seine ungewöhnliche Stärke. »Wenn man es sechsmal faltet, ist es unzerreißbar. Wenn man es zusammenrollt und doppelt nimmt« – er warf Jenö einen Blick zu – »kann man damit einen Mann töten.«

Anschließend verwarf er alle unsere Schöpfungen zugunsten von Gerhards schlichter Konstruktion: Er hatte das Zeitungspapier einfach auf die Kanten gestellt. »Das ist es!«, rief Itten begeistert, sodass wir alle gleichzeitig innehielten und aufschauten. »Sehen Sie sich das an! Ein Material, das steif ist und dennoch biegsam genug, um auf seiner schmalsten Seite zu stehen. Alles andere« – sein Blick glitt über unsere Basteleien – »ist Müll.«

So viel zu meinem Boot.

»Tröste dich«, sagte Irmi. »Meins ist genauso misslungen.«

In dem Moment sehnte ich mich nach Ernst Steiners Komplimenten, und sei es für einen buttergelben Mond.

»Achtung, bitte«, sagte Itten. »Für die Gestaltungslektion nächste Woche möchte ich, dass jeder von Ihnen eine Person in voller Länge zeichnet. Der Körper endet nämlich keineswegs an der Brust. Sie dürfen Ihr Modell in so vielen – oder so wenigen! – Kleidern malen, wie Sie wollen und in jeder beliebigen Umgebung. Wir werden uns die menschliche Gestalt ansehen. Am Bauhaus geht es nicht ausschließlich um den Willen zur Abstraktion. Wir müssen uns auch den Launen des Organischen unterwerfen.«

Alle schmunzelten. Endlich einmal etwas, worin ich glänzen konnte! Das hatte die Arbeit bei Steiner bewiesen. Und ich konnte wiederum Charlotte beweisen, dass die beiden Schulen einander vielleicht doch ergänzten.

»Und jetzt bitte alles abbauen.«

Am Bauhaus wurde nichts verschwendet. Alle falteten ihre Basteleien auseinander und räumten die Zeitungen wieder weg. Ich lächelte, als ich sah, wie Elena ihre Kette heimlich in die Tasche steckte.

Als ich die Zeitungen in den Lagerraum zurückbrachte, hörte ich, wie Kaspar zu Irmi sagte: »Jenö ist schon mal bei so was erwischt worden. In München. Deshalb zahlen seine Eltern ihm das Studium hier. Damit es nicht noch mal Ärger gibt.«

Ich trat ein wenig näher zur Tür, damit ich die beiden besser verstehen konnte. »Charlotte hat ihm in der Kantine ganz schön den Kopf gewaschen«, sagte Irmi. »Von wegen Temperament und Selbstbeherrschung.«

Sie und Kaspar blickten zu Charlotte hinüber, die am Fenster stand und zum Ettersberg hinübersah. Dann gesellte sich Jenö zu ihr, und die beiden sprachen miteinander.

»Ich habe gesehen, wie sie sich heute Nacht rausgeschlichen hat.«

»Sie hat gegen den Hausarrest verstoßen?«, fragte Kaspar.

»Ja. Und sie ist nicht Richtung Bauhaus gegangen.«

»Hast du ihr etwa nachspioniert?«

»Nein, ich stand einfach zufällig am Fenster. Sie hatte eine große Tasche bei sich und einen Hut mit breiter Krempe auf. Wo mag sie wohl hingegangen sein?«

»Warum könnt ihr Walter nicht einfach glauben?«

»Mein lieber Kaspar«, sagte Irmi und kniff ihn in die Wange. »Du solltest weniger naiv sein und dich mehr für die Wahrheit interessieren.«

»Wie Nietzsche schon sagt: ›Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.‹«

»Ach, geh zurück ins Bett, du Schlaumeier.« Irmi stieß Kaspar mit dem Ellbogen in die Seite, gab ihm dann aber einen Kuss.

In dem Moment kam Walter in den Lagerraum. »Dummer Walter«, sagte er. »Hat wieder nicht zugehört.« Über seinem Arm hingen Streifen aus Zeitungspapier. Itten hatte ihn zurechtgewiesen, weil nicht die Rede davon gewesen war, das Material zu verändern. »Glaub ihnen nicht, was sie über Jenö sagen. Er wollte Sommer nicht schlagen. Es war ein Versehen.«

»Sie sagen, er hatte zu Hause schon mal Ärger wegen eines ähnlichen Vorfalls.«

»Selbst wenn das stimmt, diesmal wollte er mich verteidigen.«

»Gegen wen?«

»Keine Ahnung – er hat sich in seiner Ohnmacht wohl irgendwas eingebildet.«

Wir kehrten wieder in die Werkstatt zurück. Meister Itten war bereits gegangen.

»Meinst du, dieser Sommer erstattet Anzeige?«

»Hoffentlich nicht«, sagte Walter. »Das wäre schrecklich.«

Ich konnte nachvollziehen, wie er sich fühlte. Wäre es um Charlotte gegangen, wäre ich völlig außer mir gewesen.

Als ich zum Fenster hinübersah, war Charlotte verschwunden, und Jenö war ihr offenbar gefolgt. Ich wollte Walter – den unverletzten, unbebrillten Walter – zu einem Kaffee einladen, um aus ihm herauszubekommen, was wirklich im Badehaus passiert war, aber bis ich meine Sachen zusammengepackt hatte, war er ebenfalls fort.

Diese goldenen Jahre

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