Читать книгу Diese goldenen Jahre - Naomi Wood - Страница 7
Drei
ОглавлениеIn diesem Winter erstarrte Weimar im Frost. Mit Raureif überzuckert wirkte die Stadt wie verzaubert. Wenn es dunkel war, konnte man durch die mit Kopfstein gepflasterten Straßen schlendern und in die warm erleuchteten Fenster der alten Häuser schauen, und es war leicht, von Geheimnissen und Zaubertränken, Hexen und Gespenstern zu phantasieren. Die Butzenscheiben zerteilten das Licht wie der Diamant eines Verlobungsrings, und alles funkelte in der Kälte.
Weimar wird für mich immer einen besonderen Zauber haben. Nördlich vom Bauhaus und südlich vom Ettersberg gelegen, war sie die hübscheste Stadt, die ich je gesehen hatte. Es gab kaum ein gewöhnliches Gebäude, und nahezu jedes hatte einst einen Dichter oder Philosophen beherbergt. Frauenfiguren, Engel und Löwen schmückten die Häuser, sodass Weimar – besonders wenn die Weihnachtsbeleuchtung die oberen Stockwerke erhellte – uns zu beobachten schien.
Obwohl die Einwohner uns nicht mochten, uns misstrauten, ja bisweilen sogar hassten, liebte ich die Stadt: die klassizistischen Häuser in Zartrosa, Zitronengelb und Lindgrün, den Duft der auf Kohlenfeuer gerösteten Maronen, die Gingkobäume, deren Früchte im Sommer stanken, und die grün angelaufenen Statuen von Goethe und Schiller vor dem Theater, wo drei Jahre zuvor die Verfassung der neuen Republik unterzeichnet worden war. (Allerdings gab es selbst im reichen Weimar Männer in viel zu dünnen Mänteln, Suppenküchen, Schlangen von Arbeitslosen, Bettlerinnen und Kinder, die im Abfall nach Essbarem suchten, aber ich war so fasziniert von all der Schönheit, dass ich sie zunächst kaum wahrnahm.)
Es war mir ein Rätsel, wieso das Bauhaus ausgerechnet hier gegründet worden war, an einem so überaus konservativen Ort. Immerhin waren wir weit genug vom Zentrum entfernt, sodass die Leute uns mehr oder weniger ignorieren konnten. Die Schule befand sich in einem gelben Jugendstilbau, der ganz schlicht gehalten war, ohne Schnörkel oder Putten. Die Fassade wurde beherrscht von großen fabrikähnlichen Fenstern, die knapp über Augenhöhe begannen, sodass man von außen nur die Scheitel der Studierenden sehen konnte und anhand der Frisur erraten musste, wer dort saß.
Diesen Winter über gehörten wir ganz Meister Itten. Unser Unterricht fand in den großen Werkstätten statt, und dort erforschten wir die wahre Natur unserer Materialien. Der Meister forderte uns immer wieder auf, intensiver hinzuschauen, er war geradezu besessen von der Reinigung des Sehens. »Die Welt ist nur ein Abklatsch, solange sie nicht wahrhaft gesehen wird«, sagte er, während er barfuß in der Werkstatt umherging. »Schmerz wird Sie mehr Schönheit sehen lassen.«
Ich verstand noch nicht so recht, was das bedeutete. Charlotte und die anderen schienen es schneller zu begreifen. Zu Hause in Dresden war ich von meinen Kunstlehrern für meine malerischen Fähigkeiten gelobt worden, und es war irritierend, hier nicht als besonders talentiert zu gelten. Aber genau deshalb war ich hierhergekommen. Oder zumindest redete ich mir das ein.
Itten hatte ganz eigene Kriterien, nach denen er Arbeiten beurteilte. Einmal sollten wir beispielsweise unsere Eindrücke von der Somme malen. Max, der dort gewesen war, malte erschöpfte Männer mit Bajonetten. Willem hingegen, der nie einen Fuß nach Frankreich gesetzt hatte, durchbohrte sein Papier sechsmal mit dem Bleistift. Der Meister zog Willems »Bild« vor und schenkte Max’ figürlicher Darstellung kaum einen Blick.
Es gab eine Menge Zitronenlektionen. Wir ertasteten Glas mit der Zunge, arrangierten Texturen von Leder, Fell und Blechdosen, kratzten einander mit Stahlwolle, erschnupperten den Unterschied zwischen Sägespänen und geschmirgeltem Treibholz. Erst gegen Ende des Tages kamen wir zum Malen, im Stehen, mit angehaltenem Atem, mit Musik, nach einer Meditation, mit der linken Hand, mit der rechten Hand und nach Gymnastikübungen, alles in der ungeheizten Werkstatt. Nur um zu sehen, was dabei herauskam.
Während des ganzen Semesters war ich aufs angenehmste abgelenkt. Wie konnte ich Charlotte gefallen? Wie konnte ich sie zum Lächeln bringen? Wie konnte ich ihr bei ihren Arbeiten helfen? Wie konnte ich sie beeindrucken, ohne allzu beflissen zu wirken? Ich wollte ihr noch nicht verraten, wie stark meine Gefühle für sie waren, weil es sie womöglich abschrecken würde. Aber es gab vielversprechende Anzeichen, dass sie in mir mehr als nur einen Freund sah. Manchmal strich sie mir eine Haarsträhne hinters Ohr, oder sie legte mir Zettel in die Brotdose, mit Skizzen von nackten Frauen, Nachrichten, in denen alle Ps rot geschrieben waren, oder dem Porträt eines Mannes mit Schmachtlocke, der niemand anderes sein konnte als ich. Die kleinste Geste erfüllte mich wochenlang mit Glück.
Unser Miteinander war ein ständiger zarter Flirt: Lippen, die sich beinahe berührten, Hände, die einander beim Spaziergang streiften, ein unablässiges, vorsichtiges Suchen nach der Haut des anderen. Waren wir zusammen, war alles wunderbar; waren wir getrennt, verzehrte ich mich nach ihr. Ich hatte das Gefühl, ich müsste zerbersten.
Es klingt nach nicht viel, aber kurz vor Weihnachten zog sie mir eines Morgens die Schuhe an, und das war der vielleicht erotischste Moment meines jungen Lebens. Sie kniete sich vor mich hin, nahm nacheinander meine Füße und schob sie in meine Schnürschuhe. Sie hob den Kopf und sah mich an, ein Funkeln in ihren grünen Augen – was bedeutete es? Dass sie wusste, was wir waren? Was aus uns werden würde? –, dann band sie die Schnürsenkel zu. »Da«, sagte sie. »So ist es viel besser.« Während des Unterrichts blickte sie immer wieder zu mir herüber; auch sie schien das Besondere dieses Morgens gespürt zu haben. Ich lächelte ihr zu, und sie lächelte halb zurück.
Den ganzen Tag drückten die Schuhe, aber ich lockerte sie nicht.
So vergingen die Tage.
Während des Winters malte ich mir unzählige Male aus, wie wir zusammenkommen würden. Wir würden in den Wald gehen und uns auf der Erde wälzen. Sie würde mich am Fluss küssen, und wir würden uns im hellen Gras wälzen. Wir würden zusammen in meinem Zimmer lesen und uns vor dem Ofen wälzen. Immer wieder dieses Wälzen. Weiter kam ich in meiner Vorstellung nicht, denn ich wusste, ihr jungenhafter Körper würde nicht wie der von anderen Frauen sein, und das machte ihre Nacktheit unwahrscheinlicher und erregender. Außerdem war ich noch Jungfrau und wusste nicht, wie es dann weitergehen würde.
Verstohlen beobachtete ich sie. Nach einer Weile konnte ich ihre Gesichtsausdrücke vorhersehen, wenn wir beim Unterricht oder in der Kantine waren, wo wir immer alle zusammen aßen. Unser Lachen flog bis zur Decke, und wir fühlten uns größer als alle anderen. (Es war allseits bekannt, dass wir sechs unzertrennlich waren. Ich glaube nicht, dass die anderen es uns verübelten, aber sie waren sicherlich neidisch. Manchmal setzten sich einige beim Frühstück oder Mittagessen zu uns, aber sie kamen danach nie wieder. Vielleicht waren wir abweisender, als wir dachten.)
Am schönsten war es, wenn Charlotte ganz ernst ein Objekt studierte, eines der Materialien etwa, die der Meister uns gegeben hatte, dann merkte, dass ich sie ansah, und mich unter ihrem Pony hinweg strahlend anlächelte. »Oh, Paul, ich wusste gar nicht, dass du da bist.« Oder das Gegenteil: Wenn jemand – meistens Walter – etwas Abfälliges gesagt hatte (er schaffte es immer wieder, bei ihr ins Fettnäpfchen zu treten) und sie eine finstere Miene zog, sodass ihre Lippen fast nicht mehr zu sehen waren.
Wenn sie im fahlen Winterlicht bei mir auf dem Bett lag und schlief, fragte ich mich oft, ob unsere Tochter ihr wohl ähnlich sehen würde, und dann fügte ich unserer kleinen Familie im Geist noch mehr Töchter und Söhne hinzu – Mama Bildhauerin, Papa Maler und alle arm und hungrig und sehr glücklich.
Wer liebt, leidet oft Höllenqualen, aber wenn alles gut läuft, scheint die Seele zum Himmel zu schweben. Unsere Geschichte begann langsam, wie alle guten Liebesgeschichten. Zu Beginn des neuen Semesters bezeichneten mehrere von den anderen Studenten sie als meine Freundin, und ich hätte vor Freude schnurren können.
Ich glaube, Walter verliebte sich ebenso schnell in Jenö wie ich mich in Charlotte. Aber Walter war ein ganz anderer Typ. Irgendwann – und ich weiß nicht mal, ob es eine bewusste Entscheidung war – beschloss ich, auf zurückhaltende Weise um Charlotte zu werben. Walter hingegen war unglaublich theatralisch. Wenn Jenö ihn nicht genug beachtete, schmollte er und zeigte es so deutlich, dass Irmi bisweilen sagte: »Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht, Walter!« Doch wenn Jenö ihm seine Aufmerksamkeit schenkte, war es, als würden tausend Lampen den Raum erhellen. Dabei schien Jenö sich oft zu fragen, wieso ausgerechnet er zum Schwarm dieses hochgewachsenen Westfalen geworden war. Ich wusste nicht mal, ob Jenö auf Frauen oder Männer stand. (Aber wie gerne hätte ich meinen Eltern die Unerhörtheit eines schwulen Liebespaars am Bauhaus unter die Nase gerieben!)
Walter war nicht im klassischen Sinne attraktiv, aber er hatte etwas Nobles. Man konnte ihn sich gut auf einem dieser Ölgemälde von preußischen Jägern mit ihren Hunden vorstellen, den Mund verkniffen vor lauter Reichtum und Missfallen. Und tatsächlich gehörte er dem Adel an, wenn auch dem verarmten, und war über siebzehn Ecken mit Friedrich dem Großen verwandt. Er trug eine Brille mit runden Gläsern und hatte sinnliche Lippen und sehr bewegliche Nasenflügel. Sein Haar war beneidenswert üppig, und mit dem dunklen Hautton sah er aus wie ein Italiener. In seiner Miene lag das Herrscherbewusstsein von Generationen, er betrachtete die Welt wertend, als wäre sie ein Pferd. Und zugleich sah man ihm die Armut seiner Kindheit an. Ich genoss seine Gesellschaft sehr, und wenn ich nicht mit Charlotte zusammen war, dann fand man mich in diesem Winter bei Walter.
Er hatte etwas Verführerisches an sich, insbesondere an der Seite von Jenö, der im Gegensatz zu ihm schlicht wie ein Schrank wirkte. Jenö war ganz Masse, es gab keinen einzigen schlanken Körperteil an ihm. Umso erstaunlicher war es, dass er Drachen baute, die fein wie Schmetterlingsflügel waren, und zierliche Skulpturen aus Dingen, die er im Müll fand: Topfdeckel, Zahnräder, ein Kinderschuh. Sein Gesicht war symmetrisch, was ihm etwas Friedfertiges, aber auch ein wenig Beschränktes verlieh. Ich fand seinen Blick nichtssagend, andere hielten ihn für geheimnisvoll. Doch im Grunde spricht hier nur der Neid. Jenös Geist, das muss ich zugeben, war ein Labyrinth.
Nein, ich hatte nie verstanden, was andere an Jenö fanden, obwohl viele der Bauhaus-Frauen ihn sehr mochten. Andererseits mochten auch viele der Bauhaus-Frauen mich, was mich sehr überraschte. Mit einem Mal befand ich mich in der ungewöhnlichen Situation, dass ich Verabredungen zum Kaffee oder dergleichen absagen musste, wenn ich merkte, dass dahinter ein romantisches Interesse stand. Irmi zog mich auf, ich sei der Herzensbrecher des Bauhauses, war aber der Meinung, das sei nicht der schlechteste Ruf.
Charlotte und ich, Walter und Jenö, Irmi und Kaspar. Wobei ich zwischen Kaspar und Irmi nichts anderes als Freundschaft entdecken konnte, aber am Bauhaus schloss auch eine Freundschaft Küsse und Zärtlichkeiten ein. Wir alle liebten einander.
Gott, waren wir glücklich.