Читать книгу Brennende Flut - Natascha Freund - Страница 10

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Kapitel 6

Ich bin nackt und bis zur Hüfte in diesem onyxschwarzen See, der mit wundervollen, leuchtenden Sternen umsäumt ist. Wie ein Kleid schmiegt sich der See um meinen Körper. Ich trete noch weiter hinein, bis meine Schultern bedeckt sind, und genieße die kühle Nässe an meiner Haut. Der See schlägt mehr und mehr Wellen, bis auf einmal eine Gestalt auf der Wasseroberfläche erscheint. Ich kneife die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Doch ich erkenne nur zwei funkelnde, rote Pupillen, die mich fixieren.

Ich reiße die Augen auf und schrecke hoch. Schaue mich nach allen Seiten um. Es war nur ein Traum! Ein Traum, den ich öfters mal habe, allerdings eher in meiner Zeit im Heim. Nach der Erkenntnis lasse ich mich zurück aufs Kissen fallen und atme langsam und ruhig. Wie spät es wohl ist? Ich rolle mich auf den Bauch und schaue rüber zum Wecker, der auf meinem schwarzen Nachttisch steht. Sechs Uhr.

Ich schlage die Bettdecke weg, um sie dann wieder an mich zu drücken. Oh, das war wohl kein Traum: Ich bin nackt! Plötzlich fällt es mir ein. Reff …

So ein Traum kann einen aber auch überwältigen. Langsam schaue ich zu meiner Linken. Reff ist nicht da. Enttäuscht lasse ich die Schultern hängen. Oder war das vielleicht doch nur ein Traum?

Ich stehe auf, die Decke fest um mich geschlungen, und gehe ins Bad. Nachdem ich das Licht eingestellt habe, sehe ich mir die Frau im Spiegel an. Geschwollene Lippen, leicht wunde Wangen und ein besonderer Glanz in den Augen.

Nein! Sicherlich kein Traum!

Er war da und das, was wir getan haben, ist wirklich passiert. Dauernd läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich an unsere gemeinsame Nacht denke. Nun sind meine Wangen nicht mehr leicht rot, sondern glühen wie Feuer.

Langsam durchquere ich meine Wohnung, in der Hoffnung, dass er vielleicht doch noch hier ist. Aber ich finde ihn nicht. Er ist wirklich fort. Und ich frage mich wieder einmal:

Warum?

Ich hasse diese Frage.

Sie quält mich, immer mehr. Leise fluchend gehe ich zurück ins Schlafzimmer. Jetzt bemerke ich es. Ich rieche ihn überall: Orange und Zedernholz gepaart mit unserer Liebesnacht. Ich schließe die Augen und nehme den Duft in mir auf. Niemals will ich diesen

Geruch vergessen. Hinter mir mache ich die Tür zu, um ihn für immer einzusperren, dann schalte ich das Licht an und entdecke einen glänzenden Umschlag auf dem Kissen, wo Reff vor ein paar Stunden lag:

»Guten Morgen, Schöne!

Wenn du das hier liest, bin ich nicht mehr bei dir.

Ich musste dringend fort. Bitte verzeih mir, dass ich mcih nicht angemessen von dir verabschiedet habe.

Aber dafür habe ich dich ja dreimal begrüßt.«

Oh, Gott! Ich weiß selber, was wir letzte Nacht alles gemacht haben!

»Ich werde an nichts anderes mehr denken können als an gestern Nacht. Und ich hoffe, dir geht es genauso. Du wirst keine weiteren zehn Jahre warten müssen, bis wir uns wiedersehen.

Reff«

Ich starre noch lange auf die Zeilen, bis ich den Brief kurz an mein Herz drücke und ihn dann in die Schublade des Nachttisches verstaue. Wie könnte ich nicht an ihn denken? Es war, als ob ich mein erstes Mal nochmal erleben durfte. So wie ich es schon immer wollte. Mit Reff. Ein verspätetes erstes Mal. Kurz flackert die Erinnerung an mein tatsächliches erstes Mal auf.

Es war drei Jahre, nachdem das mit Reff passierte. Ich war 18 und seit drei Monaten mit einem Mitschüler meines Jahrgangs zusammen: Alexis Lennon – das komplette Gegenteil von Reff. Er hatte lockige, blonde Haare und grasgrüne Augen, die mich ständig anleuchteten. Seine Nase war von Sommersprossen gesprenkelt und er war einen halben Kopf größer als ich. Anders als Reff war er nicht sonderlich trainiert, dafür aber belesen. An ihn verlor ich meine Jungfräulichkeit. Wir blieben drei Jahre zusammen, bis wir getrennte Wege gingen, an dem Tag, als wir das Heim verließen. Er wollte mit mir zusammenbleiben, aber ich konnte nicht mehr. Es wäre unfair gewesen. Ich hatte ihn geliebt, bloß nicht auf die Weise, wie ich Reff einst liebte. Und um ihm diese Enttäuschung zu ersparen, die ich selbst damals durchlitt. Mehr als durchschnittlich war diese Beziehung für mich nicht gewesen. Es fühlte sich richtig an, mich von ihm zu trennen. Er verstand es, war jedoch trotzdem traurig darüber. Danach sahen wir uns nie wieder. Ich traf niemanden mehr, auf den ich mich hätte einlassen wollen. Und erst recht nicht, nachdem ich den Job im LaPearl annahm. Ich hielt fast jeden Mann für ein Arschloch. Und hatte Angst, jeden Mann, den ich lieben würde, zu verlieren. So wie Reff … und Vinc …

Ich schüttle die Gedanken ab, lege mich wieder ins Bett und schlafe noch für ein paar Stunden.

Als ich das nächste Mal erwache, ist es bereits 8:30 Uhr. Nachdem ich mich wie eine Katze gestreckt habe, steige ich langsam und zufrieden aus meinem Bett.

Schon lange bin ich nicht mehr so zufrieden und sorgenfrei aufgewacht. Heute habe ich keine Schicht im LaPearl.

Das ist auch ganz gut so, denn ich hätte mich bestimmt nicht konzentrieren können.

Nach dem Frühstück beschließe ich, erst mal zu duschen und dann raus an die frische Luft zu gehen. Das Wetter spiegelt meine besondere Stimmung, strahlende Sonne, blauer Himmel, kühle und klare Luft. Ich ziehe mir schwarze Jeans, ein weißes, enges Shirt und eine beige Strickjacke an. Dann binde ich mir einen hohen Zopf, trage etwas Wimperntusche auf meine Augen. Bis ich plötzlich innehalte. Im Spiegel sehe ich auf einem Stuhl in der Ecke ein Stück Stoff, das mir fremd vorkommt. Mit gerunzelter Stirn gehe ich auf den Stuhl zu und hebe den Stoff an. Sofort hüllt mich der Duft von Orange und Zedernholz ein. Reffs Hemd. Lächelnd beschließe ich das Shirt wieder auszuziehen und streife mir dafür das weiße Hemd drüber. Dann verlasse ich die Wohnung. Ganz Malum strahlt heute. Naja, es kommt mir auf jeden Fall so vor, weil ich wahrscheinlich selbst strahle. Das erste Mal, nachdem Vinc gegangen ist und mich allein zurückließ. Aber selbst dieser trübe Gedanke kann mir heute nicht die Laune vermiesen. Du wirst keine weiteren zehn Jahre warten müssen, bis wir uns wiedersehen. Immer wieder denke ich an diese Worte, lächle in mich hinein und rieche am Kragen des Hemdes. Ich fühle mich plötzlich wie fünfzehn. So verbringe ich fast den ganzen Tag. Riechen, lächeln, um dann wieder zu riechen und zu lächeln – ein ewiger Kreislauf – bis ich am Nachmittag zurück in meine Wohnung gehe.

Ich reiße die Balkontür auf, atme die frische Luft ein und schalte den Fernseher ein. Eine komische Angewohnheit. Ich brauche das Geräusch von sinnlosem Geplapper um mich herum, damit ich mich nicht einsam fühle. Egal, wie gut ich drauf bin. Nachdem ich die Malum-News angestellt habe, gehe ich rüber zum Kühlschrank, um mir eine ungenießbare Gemüsesuppe zuzubereiten, von der ich mich bereits den dritten Tag ernähre. Bei solch einer Ernährung ist es kein Wunder, dass meine Haut fade und grau wirkt, aber was anderes kann ich mir im Moment nicht leisten. Kaum einer kann sich was anderes leisten, außer künstliche Fertigprodukte, die größtenteils aus Pulver bestehen.

… furchtbare Tragödie …, dringt es aus dem Fernseher, ich stelle den Topf mit der restlichen Suppe auf den Herd und erhitze sie.

… Das Gleiche passierte vor zirka vierzehn Tagen …

Fröhlich pfeifend rühre ich den Topf und würze nach.

… Abgebrannte Wohnung im westlichen Teil der Stadt, zweiter Stadtring … Ich stoppe das Rühren und horche auf. Worüber reden die bitte? Geht es noch immer um den Tod meines Bruders? Das ist doch schon viel zu lange her für aktuelle News.

… Darkon … Ich bin gerade dabei, den Rest des Essens in eine Schüssel zu geben, als ich wieder zum Fernseher starre. Waren das gerade meine Gedanken oder die Worte des Fernsehers?

Tod …

Laut scheppernd fallen Topf und Schüssel vom Küchentresen. Was sagen die Idioten da?

Jetzt höre ich genau zu:

… Es passierte heute Nachmittag im westlichen Teil des dritten Stadtrings. Passanten bemerkten den Rauch, der aus der obersten Wohnung drang, und riefen die Feuerritter.

An allen Fenstern waren die Jalousien runtergelassen, sodass das Feuer zu spät bemerkt wurde …

Ich schlucke.

Die Erinnerungen an Vinc steigen in mir empor, es ist fast genauso gewesen, wie jetzt in den Nachrichten berichtet wird. Nur, dass es morgens war und er keine Jalousien besaß.

… Der Bewohner überlebte es nicht. Es handelt sich hierbei um einen Mann um die dreißig – Darkon … Reff

Darkon … Man munkelt bereits, dass es sich höchstwahrscheinlich um Selbstmord handelt. Da er versuchte, es so unaufmerksam wie möglich zu machen.

Ein Bild von dem Mann, mit dem ich die gestrige Nacht verbracht habe, leuchtet auf dem Fernseher auf. Entsetzt reiße ich die Augen auf und schlage mir die Hände vor meinen Mund.

Reff Darkon …

Ich hätte nie gedacht, dass ich mich nach dieser wundervollen Nacht und einem Tag voller Schwärmerei jetzt so fühlen könnte.

Um Selbstmord handelt …

Meine Gedanken und Gefühle überschlagen sich jäh, stoßen gegeneinander.

Reff Darkon …

Mein Körper ist wie gelähmt und Tränen verhüllen die Sicht. Ich schreie. Schreie, so laut ich kann.

Selbstmord … Ich kann es nicht glauben, ich will es nicht glauben. Niemals könnte das wahr sein.

Der Schmerz bläht sich zunehmend auf. Ich schaffe es nicht, ihn zu verdrängen, er lähmt mich mehr und mehr.

Ich sacke wimmernd in mich zusammen. Meine Beine wollen mich nicht mehr halten. Das Letzte, woran ich denke, bevor ich voller Fassungslosigkeit in Ohnmacht falle und die Dunkelheit mich zu sich holt, ist:

Du wirst keine weiteren zehn Jahre warten müssen, bis wir uns wiedersehen.

Brennende Flut

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