Читать книгу Brennende Flut - Natascha Freund - Страница 11
ОглавлениеKapitel 7
Erschöpft komme ich wieder zu mir. Ich zucke zusammen, während ich versuche, mich aufzusetzen. Mein Rücken schmerzt entsetzlich.
Was ist passiert? Wieso habe ich auf dem Fußboden geschlafen?
Ich blicke mich um. Topf und Schüssel neben mir auf dem Boden, Suppe, die kalt vom Küchentresen heruntertropft. Langsam fahre ich mir mit einer Hand übers Gesicht. Tränen. Ich rapple mich hoch und lausche dem Geplapper vom Fernseher. Es ist bereits 23:00 Uhr. Die letzten Tagesnews wurden verkündet. Und wieder sehe ich die Kurznachricht über Reff. Sein Gesicht, darunter die Zeilen, dass es sich tatsächlich um Selbstmord handeln soll. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Jedes Glück, welches ich fühle und sich wie ein warmer Sonnenstrahl in mir ausbreitet, wird mir genommen. Die Personen, denen ich mich voll und ganz geöffnet habe, sind tot. Einfach nicht mehr da. Einfach so. Und ich bleibe zurück. Alleine. Unwissend.
Fragend.
Warum?
Bevor ich nun wieder in Ohnmacht falle, reiße ich mir Reffs Hemd vom Leib, ziehe mir einen viel zu großen, schwarzen Kapuzenpullover an, schlüpfe in Sneakers, grapsche nach Schlüssel und Smartnizer und renne aus meiner Wohnung. Ich muss weg, weit, weit weg. Ich beschließe, so lange zu rennen, bis ich nicht mehr kann. Um dann trotzdem noch weiter zu rennen. Immer weiter. Meine Muskeln brennen wie Feuer, protestieren in meinen Beinen. Genauso wie meine Augen und meine Lunge. Ich kann nicht aufhören zu laufen. Bis ich ins Stolpern gerate. Gerade so kann ich mich mit einer Hand vom Boden abstützen. Dann stoppe ich. Keine Ahnung, wo ich bin. Es ist mir auch egal. Vor mir sehe ich eine Bushaltestelle. Mir ist gar nicht bewusst gewesen, dass es in der Stadt Busse gibt, eigentlich läuft alles hier über den Untergrund mit den lauten Metall-Raupen. Schnellbahnen, die die Passagiere auf Schienen durch Tunnel schlängeln. Mit einem Blick auf das Stationenschild wird mir klar, dass ich mich gar nicht mehr im Stadtkern befinde, sondern am Ende des ersten Stadtringes, östlich. Müde fahre ich mir mit beiden Händen übers Gesicht, reibe mir die restlichen Tränen weg und beginne damit, mich umzuschauen. Auf dem Aushängedisplay, das die Uhrzeiten des Busses anzeigt, steht, dass der letzte Bus um 1:10 Uhr fährt. Also in dreißig Minuten. Ich weiß noch nicht mal, wohin dieser Bus mich bringt. Es ist mir auch egal. Hauptsache weg. Weg von allem. Länger ertrage ich diese Stadt nicht. Innerhalb von nur knapp vierzehn Tagen hat sich alles verändert. Zehn Jahre lang wurde ich von den Männern belogen, die mir am nächsten standen. Erst war ich nur sauer auf Reff, dann auch auf Vinc. Jetzt bin ich sauer auf beide und auch auf mich. Alles um mich herum fällt wie ein Kartenhaus ein und verschüttet mich unter Trümmern. Ich weiß einfach nichts mehr mit mir selbst anzufangen. Ich weiß nicht, an wen ich mich noch wenden kann. Ich bin allein.
Einsam.
Zerbrochen.
Warum? Warum tut ihr mir das an? Was habe ich getan?
Der Bus hält an und ich steige ein. Verzweifelt suche ich nach meiner Silberkarte, bis mir einfällt, dass ich sie nicht dabei habe. Der Busfahrer winkt nur ab und versichert mir, dass das kein Problem sei, ich sei ja sowieso der einzige Gast. Solch Freundlichkeit ist man in der Gegend gar nicht gewohnt, aber ich nehme es dankbar an. Ich setzte mich auf einen Platz weiter hinten, streife mir die Kapuze tief ins Gesicht und lege meinen Kopf an die kühle Scheibe. Ich beobachte die Landschaften, die viel zu schnell an mir vorüberziehen. Der Fahrer muss nicht einmal anhalten, da kein weiterer Passagier zu sehen ist. Ich fahre mit ihm bis zur Endstation. Erst da fällt mir auf, wie weit ich bereits von meiner Wohnung weg bin. Plötzlich hält der Bus an.
»Endstation«, flötet mir der Busfahrer zu.
»Wo genau befinden wir uns?«, frage ich ihn. Der Busfahrer runzelt seine ohnehin schon faltige Stirn.
»Sie wussten nicht, wo Sie hinfahren, Mädchen? Wir befinden uns im äußersten Stadtring Malums. Östliche Seite.«
Mein Mund formt ein »O« und ich steige aus, nachdem ich mich bei ihm bedanke. Ich schlendere durch die dunklen, verlassenen Straßen. Noch immer habe ich keine Ahnung, wohin ich überhaupt gehe. Aber ich muss zugeben, dass mir die Gegend bekannt vorkommt. Hier gibt es nicht viele Häuser. Wenn man welche sieht, sind es eher Ruinen als bewohnbare Gebäude. Der dritte Stadtring war früher sehr schön. Es war zwar nicht wirklich viel los, aber man hatte hier Ruhe. Und da fällt es mir plötzlich ein, wohin mich meine Füße getragen haben. Ich bin in der Nähe des Heims. Meines alten Zuhauses. Ausgerechnet hierher haben mich meine Beine geführt. An den Ort, wo alles so schön begann und jetzt wohl hässlich endet. Eine Gänsehaut überkommt mich, als ich an das Leben im Heim zurückdenke. Ob es wohl noch da ist, nachdem sich der Stadtkern mit seinen zwielichtigen Gestalten immer weiter vergrößert hat? Wie ich jetzt sehe, war nicht viel anders. Von außen wirkt nur alles sehr düster. Ob Sanctus Sin noch immer Direktor ist und ich andere Gesichter erkenne? Irgendwie keimt Hoffnung in mir. Der letzte Strohhalm, an den ich mich verkrampft festklammere.
Du wirst keine weiteren zehn Jahre warten müssen, bis wir uns wiedersehen.
Immer wieder dringen die Wörter in meine Gedanken und verknoten mir meinen Magen. Mit brennenden Augen versuche ich sie abzuschütteln. Wie konnte er nur so etwas schreiben? Erneut bricht mein Herz entzwei. Ich renne abermals los, um vor diesen Worten zu fliehen, die mich zwanghaft verfolgen. Schneller und schneller laufe ich die Straße entlang. Bis ich plötzlich abbiege, um die Worte hier abzulegen.
Es gelingt. Ich stoppe, als sich das riesige Haus, bestehend aus roten Backsteinen, vor mir erhebt.
Es brennt kein Licht, wieso sollte es auch? Es ist schließlich ein Heim und Schlafenszeit. Oder vielleicht ist es gar kein Heim mehr?
Vielleicht steht das Haus ja jetzt leer. Mit zitternden Beinen gehe ich die Stufen zur Tür hinauf und klopfe zaghaft an dieser. Ein paar Minuten später versuche ich es nochmal. Es passiert nichts. Entweder schlafen alle ganz tief und fest, oder das Heim ist wirklich verlassen. Ich drücke die goldene Türklinke herunter. Sie springt auf. Kurz zucke ich zusammen, als ich die Tür schließlich öffne und das dunkle Holz laut ächzt. Meine geschwollenen Augen gewöhnen sich schnell an die Dunkelheit und ich husche von Gang zu Gang.
So langsam wird mir klar, dass das Haus zwar noch da ist, aber das, was es früher einmal ausgestrahlt hat, nicht mehr existiert. Einige Fenster sind stark zerbrochen, zerrissene Gardinen tanzen im Wind und das Parkett knarrt unter den Füßen. Auch wenn ich denke, dass niemand sonst hier ist, gehe ich nur vorsichtig weiter, bis ich auf einmal im Hinterhof stehe. Dieser hat nichts mehr mit meinen Gedanken von damals gemein. Im Springbrunnen ist kein Wasser zu finden und von der Meerjungfrauenfigur ist nicht viel übrig. Die glitzernden Rubine, die ihre Augen ersetzten, sind nicht mehr da. Ich vermute, dass sie wohl geklaut worden sind. Außerdem wurde die eine Hälfte der Figur komplett demoliert. Ich streiche über den dreckigen, kalten Marmor und fahre die Konturen der Figur nach. Nichts ist mehr so wie früher. Die Ranken, die sich um jede Wand des Innenhofs schlängelten, hängen wie leblose Würmer, grau und stumpf runter. Niemals hätte ich je erwartet, dass sich der schwarze Schatten der Stadt bis zum Heim ausstrecken würde.
Für mich war dieser Ort eine Zuflucht für jedes Kind, das Geborgenheit suchte und aus seiner Einsamkeit ausbrechen wollte. Ich gehe immer weiter und weiter, bis ich mich vor dem ehemaligen Jungenflügel befinde. Auch hier ist viel kaputt gegangen. Ich muss einige Holzbalken und größere Steine aus dem Weg räumen, um weitergehen zu können. Wie von selbst bleiben meine Füße dort stehen. Vor mir sehe ich zwei Türen, ehemalige Zimmer. Und ich weiß sofort, um welche Zimmer es sich dabei handelt. Denn ich war damals so gut wie jeden Tag hier. Sie gehörten eindeutig Vinc und Reff. Ich seufze, bevor ich die Tür schließlich öffne, die mich in Reffs Gemächer von früher bringt. Wieso ich mich immer weiter quäle, weiß ich nicht zu beantworten. Doch aus irgendeinem Grund wurde ich genau hierhergeführt. Ich sehe mich um, suchend nach irgendetwas und nichts.
Nachdem Reff das Heim damals verließ, wurde das Zimmer noch einmal besetzt. Ich wische mir die restliche Feuchtigkeit ab und massiere mir meine Schläfen. Behutsam gehe ich auf und ab und streife mit den Fingern über die kahlen Wände, als ob ich so die Erinnerung in mir aufrufen könnte. Aber ich sehe nichts. Nichts außer Einsamkeit. Vor Müdigkeit sinke ich langsam aufs Bett. Mehr als das Gestell und eine alte Matratze ist nicht mehr übrig, aber es reicht.
Ich bin dankbar, dass überhaupt irgendetwas zum Schlafen da ist. Mein verkrampfter Körper entspannt sich und ich rolle mich wie ein Kleinkind zusammen.
Mit den Armen umklammere ich meine Beine und halte sie fest, als ob ich so die verbliebene Körperwärme festhalten könnte. Ich weiß nicht, wie lange ich so da liege, bis ich endlich Schlaf finde. Bis sich die Dunkelheit von hinten heranschleicht, alles in mir betäubt und mich komplett einhüllt. Du wirst keine weiteren zehn Jahre warten müssen, bis wir uns wiedersehen.
Nach einem traumlosen Schlaf schlage ich die Lider leicht blinzelnd auf, strecke mich, bis meine Knochen knacken und setze mich langsam auf. Meine Hände lasse ich auf die Decke sinken, die meine Beine umhüllt. Moment mal … Eine Decke?
Schockiert schaue ich mich um. Ich bin nicht mehr in Reffs Zimmer! Und dann trifft mich die Erkenntnis wie ein greller Blitz: Ich befinde mich in einem ehemaligen Krankenflügel.
Ob ich nun im Mädchen- oder Jungenflügel gelandet bin, kann ich nicht sagen. Die Räumlichkeiten sehen exakt gleich aus. Jedenfalls taten sie das früher einmal. Heute sind nur ein paar Betten übrig. Die meisten ohne Matratze und die Schlösser der Türen und Schubladen wurden gewaltsam aufgebrochen oder geplündert. Der Raum besteht aus aufgesprungenen, weißen Fliesen an Wänden und Boden. Ich nehme ein plötzliches Rascheln wahr und schrecke auf. In der hintersten Ecke rekelt sich eine Gestalt auf einem Stuhl. Ich verenge die noch müden Augen, um besser sehen zu können. Träge erhebt sich diese Gestalt, streckt sich ächzend und kommt auf mich zu. Je näher sie kommt, desto größer werden meine Augen. Ich sehe geradewegs in graue Pupillen, die meinen Blick wie einen weichen Frühlingssturm halten. Kleine Fältchen bilden sich um sie herum, als Sanctus Sin anfängt, mich anzulächeln.