Читать книгу Brennende Flut - Natascha Freund - Страница 8
ОглавлениеKapitel 4
Verträumt saß ich auf Esthers Bett und beobachtete die Wolken, die am Fenster vorbeizogen.
»Libell?«
Mit prüfendem Blick und verschränkten Armen starrte mich meine Freundin an.
»Hallo!?« Sie folgte meinem Blick, schnaubte und ließ sich neben mir auf das Bett plumpsen.
»Wenn du wenigstens einem süßen Typen hinterherschauen würdest.« Sie zeigte aus dem Fenster.
»Ich weiß einfach nicht, was du an diesen weißen Dingern so interessant findest.« Wenn sie wüsste …
Der Kuss zwischen Reff und mir lag ein paar Tage zurück. Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, stürmte ich mit den Worten »Ähm … ich muss weg« und hochrotem Kopf zur Tür, riss sie auf und rannte davon. Ich wagte es erst, meine Finger über die Lippen zu streifen, als ich in meinem Zimmer war und die Tür hinter mir geschlossen hatte. Sie waren noch immer warm und schmeckten nach ihm. Ich schloss die Lider und ließ das Geschehene noch mal Revue passieren.
Der Duft von Orangen und Zedernholz hüllte mich ein. Sein Duft.
Wir sahen uns in den letzten Tagen nur flüchtig. Ich dachte, dass wir das zwischen uns wohl lieber geheim halten sollten. Immerhin war ich erst fünfzehn und Reff zu der Zeit schon einundzwanzig, genauso alt wie mein Bruder Vinc. Außerdem wusste ich nicht im Geringsten, was das zwischen uns war. Doch immer, wenn ich die Augen schloss, sah ich den großen, jungen Mann mit den dunkelblauen Haaren vor mir, die ihm lässig in die Stirn fielen. Am liebsten würde ich mit meinen Händen sein seidiges Haar durchwuscheln. Seine Augen bildeten einen starken Kontrast zu seinem dunklen Schopf und der leicht gebräunten Haut. Er wirkte immer so fern und doch war er mir immer so unglaublich nah. Und ich? Ich war ein Mädchen auf der Schwelle, bald eine Frau zu werden. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Daher war ich mir in allen Dingen so unsicher, die Reff betrafen. Was wollte er denn ausgerechnet von mir? Einem Mädchen ohne jegliche Erfahrung, was das andere Geschlecht betraf. Reff wurde bestimmt nicht von jeder Frau angehimmelt, allerdings war er nicht unbeliebt und hatte in der Zeit auch die ein oder andere Liebesbekanntschaft. Wieder ein Seufzen meinerseits.
Ein genervtes Stöhnen von Esther und ein Kissen in meinem Gesicht brachten mich endlich aus der Trance zurück in die Wirklichkeit.
Esther riss die Arme nach oben.
»Na endlich habe ich deine Aufmerksamkeit!«
Ich blinzelte ein paarmal. Stimmt. Schließlich gab es auch einen guten Grund, wieso ich sie aufgesucht hatte.
»Sag mal … was hast du eigentlich mit Vinc im zweiten Stadtring gemacht? Ich wusste gar nicht, dass ihr so dicke miteinander seid.« Ich wackelte mit meinen Augenbrauen, doch Esther rümpfte nur ihre kleine Stupsnase.
»Verstehe mich nicht falsch. Dein Bruder ist echt heiß …« Würg!!!
»… aber viel zu alt für mich. Ich bin zu jung für so jemanden. Außerdem kann man die Jungs in unserem Alter besser manipulieren.« Sie verzog ihre Lippen zu einem teuflischen Lächeln.
»Woher weißt du eigentlich davon?« Nun wurden ihre Augen ganz schmal.
Ich zuckte nur beiläufig mit den Schultern.
»Reff hat mir davon erzählt. Allerdings wusste er nicht genau, was ihr dort treibt. Er sagte lediglich, dass ihr dringend in die Stadt müsstet.« Sie überlegte kurz.
»Dann wirst du dich wohl weiterhin in Geduld üben müssen.«
Sie zwinkerte mir zu und erhob sich vom Bett.
»Du wirst es schon bald erfahren.«
Mit einundzwanzig Jahren galt man auf ganz Terra als volljährig. Wenn ein Heimkind dieses Alter erreichte, musste es den Ort verlassen. Das bedeutete für Reff und Vinc, dass die letzten Prüfungen bevorstanden. Daher hingen sie mehr miteinander rum als jemals zuvor, da sie gemeinsam lernen mussten. Und wenn sie nicht lernten, trafen sie sich zum Sport. Irgendwann tat ich den Kuss als Ausrutscher ab. Es gab so oder so keine Hoffnung, dass ich Reff mal alleine antreffen würde. Zumal das Zimmer meines Bruders genau neben seinem lag.
Wenigstens hatte ich noch Pullover und Jogginghose von ihm. Das war immerhin der Beweis dafür, dass ich das nicht bloß geträumt hatte. Nach zehn Tagen Auszeit machte ich mich auf den Weg zum See. Ich vermisste ihn und das Wasser auf meiner Haut bereits. Gerade als ich den dichten Wald betrat, packte mich etwas am Handgelenk. Der Geruch von Orange und Zedernholz ließ mich lächeln. Reff zog mich mit einer Drehung zu sich. Spitzbübisch verzog er seinen Mund zu einem Lächeln.
»Willst du wieder eine Runde planschen?«
Lachend legte ich die Hände auf seine Brust.
»Ja, schließlich vermisst mich der See.«
»Aber bestimmt nicht so sehr, wie ich dich vermisst habe, Schöne«, flüsterte er mir ins Ohr. Unwillkürlich machte mein Herz einen Satz und ich spürte, wie mir die Hitze den Hals hochkroch. Um ihm direkt in die Augen blicken zu können, musste ich meinen Kopf in den Nacken legen.
»Es war also doch kein Trau… Ich meine, kein
Ausrutscher?« Verdammt, ich hoffte, dass er das jetzt überhört hatte.
Er grinste mich so schief an, dass ein Grübchen auf seiner rechten Wange erschien.
»Ein Ausrutscher? Der Kuss? Sicherlich nicht. Wobei es mir auch gefallen hätte, wenn du von mir träumst.«
Oh shit!
War ja klar! Bevor ich etwas erwidern konnte und noch roter anlief, beugte er sich zu mir runter und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. Ein Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus. Reff lehnte sich an einen Baum und zog mich zu sich heran. In diesem Augenblick gab es nur uns und alles andere rückte hinfort. Ich wollte schon protestieren, als er sich von mir löste, doch dann strich er mir mit seinem Handrücken über die Wange.
»Das, was letztens passiert ist, wollte ich schon sehr lange.« Ich genoss die zarte Berührung auf meiner Haut.
»Schon als ich dir das erste Mal in die Augen schaute, hat das irgendwas mit mir gemacht. Schon damals fühlte ich mich mit dir stark verbunden. Nicht auf die Weise wie jetzt, aber ich wollte immer in deiner Nähe sein.«
»Ich dachte schon, dass nur ich so fühle.« Seine Augen ruhten auf mir, während er mir weiter über die Wange strich. Auf einmal fing ich an, auf meiner Unterlippe zu kauen. Das tat ich immer, wenn ich in Gedanken versunken war oder versuchte die richtigen Worte zu finden. Eine blöde Angewohnheit, doch Reff folgte aufmerksam dieser Bewegung.
»Nur verstehe ich nicht, wieso? Schließlich bin ich doch nur ein fünfzehnjähriges Mädchen, das …« Er nahm meine Hände in seine und schaute mir tief in die Augen.
»… das reifer ist, als es glaubt!« Abwechselnd küsste er erst meinen linken, dann meinen rechten Handrücken.
»Hör zu. Wenn Vinc erfahren würde, dass du in Gefahr warst und ich dich obendrein auch noch küsse, wird er mich einen Kopf kürzer machen.« Da hatte er recht. Vinc war zwar etwas kleiner, dafür aber breiter. Er konnte sehr temperamentvoll und stur wie ein Esel sein.
»In einem halben Jahr verlassen Vinc und ich schon das Heim. Ab da werden die Karten dann neu gemischt und wir sehen weiter. Und bis dahin …«
Er nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste meine winzige Nasenspitze.
»… genießen wir die Zeit, die uns zur Verfügung steht, Schöne.« Nun war ich diejenige, die sein Gesicht mit beiden Händen umfasste und ihn zu mir herüberzog. Mein Kuss galt als süße Zustimmung dessen, was er soeben gesagt hatte.
In der Prüfungsphase sahen wir uns häufiger als gedacht. Küssten uns, lachten viel und genossen die Zweisamkeit, die uns blieb. Vinc hatte einen anderen Prüfungsplan und so stand uns nicht viel im Wege.
Kurz vor dem Abschlussball bat Vinc mich hinauf in sein Zimmer. Ich staunte nicht schlecht, als ich dort schließlich Esther entdeckte. Fragend blickte ich zwischen den beiden umher. Ob sie was ahnten?
Mein Herz rutschte mir in die Hose und ich spannte mich an. Vinc lehnte mit verschränkten Armen und gekreuzten Beinen an seinem Kleiderschrank, während Esther auf einem Stuhl saß. Langsam schloss ich die Tür hinter mir.
»Schwesterchen.« Ein Feuer loderte in den rotbraunen Augen.
»Wie du ja vor einiger Zeit mitbekommen hast, musste ich mit Esther dringend etwas erledigen.« Das Feuer in seinen Augen wurde jetzt intensiver.
»Ich habe einen Überfall auf dich vor.« Er kniete sich vor mir nieder und nahm meine rechte Hand.
Okaaay …?
Verzweifelt suchte ich Esthers Blick, doch die zuckte nur belustigt mit ihren Schultern. Ich holte tief Luft.
»Worum geht es denn, Vinc?« Ein katzenartiges Grinsen legte sich ihm übers Gesicht.
»Möchtest du mich zum Abschlussball begleiten?« Ruckartig entspannte sich mein ganzer Körper und Freude überkam mich.
»Ich würde nichts lieber tun!« Vor Rührung blinzelte ich die Tränchen weg und ließ mich lachend in Vinc’ Arme fallen. Auch er freute sich und stimmte in mein Lachen mit ein. Ein plötzliches Räuspern aus Esthers Richtung stoppte unser Gelächter.
»Wir haben noch was für dich. Dein Bruder hat ein paar Extraschichten in der Kantine geschoben, um dir das hier zu kaufen.«
Ich zog scharf die Luft ein und mich überkam wieder Rührung, als Esther mir das Kleid zeigte, das sie und Vinc extra für den Ball ausgesucht hatten. Dunkelblauer, seidiger Stoff, der im Licht silbern schimmerte, wie tausend kleine Sterne. Dazu silberne Sandaletten und passender Schmuck sowie eine Brosche fürs Haar. Nun konnte ich die Tränen nicht mehr wegblinzeln.
»Aber das wäre doch nicht nötig gewesen. Ich werde das alles bezahlen.« Ich strich mit der Hand über den funkelnden Stoff.
»Nein, das wirst du nicht!«, fuhr Vinc mich an.
»Das ist ein Geschenk und ich will, dass du es annimmst und mit mir einen schönen Abend erlebst. Dein Bruder zeigt dir mal, wie man richtig feiert.« Seine Augenbrauen zogen sich grübelnd zusammen.
»Denn nur zwei Tage danach werde ich nicht mehr hier sein, wie du weißt.«
Ja, das wusste ich. Aber ich versuchte es stets zu verdrängen. Ich zog ihn in eine Umarmung, in der wir eine Weile verharrten. Er würde das Heim verlassen müssen, während ich hierbleiben musste.
Natürlich hatte Sanctus uns angeboten, dass ich zu Vinc ziehen dürfte, solange ich trotzdem den Heimunterricht besuchte. Allerdings wäre das zu umständlich für uns gewesen.
Hätte ich damals gewusst, dass ich nach der Zeit im Heim nur noch knapp vier Jahre mit Vinc haben würde, dann wäre ich – ohne zu zögern – nach seinem Abschluss mit ihm gegangen. Mein Bruder verstand meine Entscheidung und versprach mir, dass er sich Arbeit und eine Wohnung so nahe wie möglich suchte.
Noch wenige Stunden bis zum Abschlussball.
Esther war mit den letzten Feinheiten meiner Frisur beschäftigt, bevor ich das Kleid endlich anzog.
Sie drehte mir Wellen ins Haar, die sie dann seitlich über meine Schultern platzierte und mit der silberverzierten Brosche fixierte. In der Mitte der Brosche befand sich ein blauer Glasstein, der perfekt zur Farbe des Kleides passte. Nachdem ich es anzog, drehte ich mich und betrachtete meine Erscheinung von allen Seiten im Spiegel. Ich konnte nicht fassen, zu was ich mich da verwandelt hatte.
»Wow, du siehst atemberaubend schön aus«, schwärmte auch Esther.
»Das habe ich nur dir zu verdanken.«
»Ach was«, feixte sie.
»Ich habe deine Schönheit nur unterstrichen.
Und das Kleid tut den Rest. Du siehst richtig erwachsen aus.« Sie fing an zu kichern.
»Und jemand Bestimmtes werden sicherlich die Augen aus dem Kopf fallen.«
Ich hielt inne.
»Wen meinst du?«
»Halte mich ruhig weiter für dumm. Wir kennen uns seit fast zehn Jahren und wohnen direkt Tür an Tür. Du bist meine beste Freundin und du glaubst wirklich, dass du vor mir was verheimlichen kannst?«
Sie hatte mich wirklich ertappt …
»Die verstohlenen Blicke, das gegenseitige, verträumte Anlächeln … Ja, ich weiß es. Und ja, ich kann verstehen, wieso du nichts sagst. Und jetzt komm her.« Wir umarmten uns und sie gab mir so zu verstehen, dass sie nicht sauer war. Ich erzählte ihr alles, was zwischen Reff und mir geschehen war. Sie versprach mir, es für sich zu behalten, und wünschte mir einen wunderschönen Abend mit meinem Bruder. Esther half beim Aufbau des Abschlussballs mit. Das hieß, dass sie auch hätte hingehen können, unabhängig davon, ob sie von jemanden aus dem Abschlussjahr gefragt worden wäre. Allerdings wollte sie nur zu ihrem eigenen Ball. An jedem verspiegelten Fenster blieb ich kurz stehen, da ich mich noch immer nicht an mein neues Äußeres gewöhnt hatte. Meine Lippen waren blassrosa und meine Augen mit einem dunklen Kajalstift umrandet. Das Kleid war langärmlig und zeigte stattdessen die Schultern. Bis zur Hüfte lag es eng an und ging dann in einen fließenden, weiten Stoff über. Am Eingang des Mädchenflügels wartete Vinc auf mich. Als er hörte, wie sich die Eingangstür öffnete, sah er kurz zu mir hoch, schaute dann wieder runter, um im nächsten Augenblick meine Gestalt zu betrachten.
»Libell? Bist du es?«
Leise lachte ich ihn an.
»Ja, ich glaube schon.«
Staunend bot er mir seinen Arm an und wir gingen gemeinsam zur geschmückten Turnhalle, die sich neben dem Jungenflügel befand. Aber auch mein
Bruder konnte sich sehen lassen. Er trug einen dunkelblauen Anzug und darunter ein blassblaues Hemd mit dunkelblauer Krawatte, passend zum Anzug. Er war das perfekte Gegenstück.
Das Motto vom Ball war mir bereits bekannt, trotzdem zauberte es mir ein Lächeln in mein Gesicht, als ich die Unterwasserwelt in der Turnhalle erblickte. Wir lernten damals im Unterricht viel über die Natur- und Tierwelt, da diese Stück für Stück verloren gingen und Sanctus dieses Thema für unabdingbar befand. Dieses Wissen spiegelte sich in jeder Faser des Ballsaales wider. Grüne Luftschlangen hingen von der Decke herab und mithilfe von Hologrammen wurden schwimmende
Fische an die Wände geworfen. Die Stuhllehnen wurden zu Muscheln umdekoriert und strahlten perlweiß. Mein Blick schwang von der Dekoration zum üppigen Buffet rüber, bis hin zur perfekt zum Motto gekleideten Kameradschaft meines Bruders. Mitten in einer der vielen Gruppen, im hinteren Teil der gut besuchten Turnhalle, erhaschte ich einen dunklen Schatten, der seine goldenen Augen über die Personen schweifen ließ. Bis sie mich fanden. Er verengte seine Lider, was mir zu verstehen gab, dass er mich, wie Vinc vor ihm, ebenfalls nicht erkannte. Verunsichert lächelte ich Reff an, bis Vinc neben mir auftauchte und ihn zu uns winkte, bis dieser lässig zu uns rüber geschlendert kam. Er sah hinreißend aus. Sein Haar war ungekämmt, aber gepflegt. Er konnte damit machen, was er wollte, es saß einfach immer perfekt. Dazu trug er einen eleganten, maßgeschneiderten, anthrazitfarbenen Anzug. Der Kragen seines schwarzen Hemdes stand etwas offen. Er sah einfach perfekt aus. Doch er wirkte noch immer etwas verwirrt und versuchte mich zuzuordnen. Bis er mich anhand meiner Augen endlich erkannte. Sein Blick weitete sich allmählich und er versuchte ungeschickt ein Lächeln zu unterdrücken. Belustigt von dieser Grimasse, musste ich kichern, was man, dank der lauten Musik, allerdings nicht hören konnte. Plötzlich klatschte Vinc ungeduldig in seine Hände.
»Dann lasst uns mal die Halle zum Wackeln bringen.«
Er zog mich in Richtung Tanzfläche und Reff starrte uns lächelnd nach, schlenderte aber dann weiter zur Bar. Nach einer Stunde und gefühlten tausenden Tänzen, gesellten wir uns kurz zu ihm und erfrischten uns mit einem Drink. Die beiden Jungs tranken jeweils zwei Gläser Rum, wogegen ich den ganzen Abend bei Wasser blieb. Ich wollte nicht riskieren, dass Vinc an diesem Abend irgendwie Ärger bekommen könnte. Er hatte mir zwar angeboten, einen Drink für mich zu holen, aber ich winkte nur ab. Ich wollte diesen Abend niemals vergessen und das ging nur, wenn ich vollkommen nüchtern blieb.
Nach zwei weiteren Stunden und verstohlenen Blicken von mir zu Reff und von Reff zu mir, sagte ich Vinc, dass ich auf mein Zimmer zurückgehen wollte.
»Ich danke dir für diesen schönen Abend, doch du solltest die restliche Zeit mit deinen Freunden verbringen. Und das kannst du nur, wenn du nicht auf mich aufpassen musst.« Ich zwinkerte ihm freundlich zu und verließ den Saal, nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten. Reff hatte ich aus den Augen verloren. Ich hätte mich gerne von ihm verabschiedet, aber er schien nicht mehr da zu sein. Mit hängenden Schultern trottete ich zum Mädchenflügel. An der Eingangstür angekommen, durchschnitt eine Stimme die klare Nacht.
»Schon müde?« Reff trat aus dem Schatten hervor. Erschrocken zuckte ich zusammen. Er konnte wirklich gut mit der Dunkelheit hier verschmelzen.
»Nein, bloß Vinc soll den Abend genießen und das geht nur, wenn er mich nicht die ganze Zeit im Auge behalten muss.« Reff griff nach meiner Hand, hielt sie in die Höhe und drehte mich einmal um die eigene Achse.
»Wenn er wüsste, wer alles ein Auge auf dich geworfen hat.« Er schnalzte mit der Zunge.
»Übrigens siehst du wirklich bezaubernd aus, Schöne.« Seine Augen glänzten.
»Du auch.« Ich tat so, als ob ich nachdenken würde, und tippte mir dabei an die Wange.
»Hm … Wer hat denn alles ein Auge auf mich geworfen?«
Lachend zog Reff mich an sich.
»Du Frechdachs. Das sollte dich nun wirklich nicht weiter interessieren. Reiche ich dir denn nicht?«
Ich schmiegte mich an ihn, »Sollte man meinen, oder?«, und stieg in sein Lachen mit ein.
Nach einer Weile hielt er mir die Hand hin.
»Komm mit. Ich würde dir gern etwas zeigen.« Ich legte meine Hand behutsam in seine und folgte ihm.
»Einfach wunderschön.« Ich war ja bereits vom Saal beeindruckt, aber das hier konnte kaum übertroffen werden. Hoch über dem See regnete es Sternenschnuppen nieder. Von hinten schlang Reff seine Arme um meine Taille und legte sein Kinn auf meinem Kopf ab.
»Das stimmt. Aber das Schönste steht gerade vor mir.«
Lächelnd drehte ich mich zu Reff um und küsste ihn auf den Mund. Ich wollte nicht, dass diese Nacht jemals endet. Ich wollte ihn und Vinc nicht an die Stadt verlieren. Am liebsten wäre ich für immer geblieben. Ich war jung und konnte das Gefühl nicht beschreiben, das ich für Reff empfand. Deshalb glaubte ich ihn zu lieben, und das schon eine ziemliche Weile lang. Durch diese Erkenntnis sah ich unsere heimliche Beziehung nun mit anderen Augen. Ich sprach es nicht aus, weil es nach diesem Abend keine Gelegenheit mehr geben sollte. Doch bis dahin glaubte ich, dass er ähnlich empfand. Er schlang einen Arm um meinen Rücken, den anderen legte er unter meine Beine und hob mich hoch, sodass ich in seinen Armen lag. Ich genoss seine Wärme, verschränkte meine Hände in seinem Nacken und legte meinen Kopf in die Kuhle zwischen Schulter und Hals. So ging er näher zum See und setzte uns, in einer fließenden Bewegung, auf einem Stein ab, sodass ich nun auf seinem Schoß saß. Während er begann mich zu küssen, ließ er seinen Zeige- und Mittelfinger, vom Nacken bis zu meinem Steißbein, immer weiter hinuntergleiten. Mit der anderen Hand zog er mich weiter zu sich und vertiefte den Kuss. Was leicht und unschuldig anfing, bekam immer mehr Leidenschaft. Es gab nur uns, den See und den Sternenhimmel. Mehr brauchten wir nicht. Irgendwann öffnete ich meine Lippen für ihn. Er fuhr mit seiner Zunge über die meinen und zog mich noch fester an sich. Ich wurde immer weicher, sodass ich befürchtete, in seinen Händen direkt zu zerfließen. So ging das die ganze Nacht lang. Im Nachhinein betrachtet, hatte er sehr mit seiner Selbstbeherrschung zu kämpfen. Aber Bedrängnis gab es in unserer Beziehung nicht. Sie hatte ihre eigene Zeit.
Doch diese Zeit sollte bald enden. Mehr und tiefere Leidenschaft würde es zwischen uns nicht mehr geben. Zwei Tage nach dem Ball verabschiedete ich mich von Vinc. Tatsächlich hatte er eine Wohnung gefunden, die nur zwanzig Minuten entfernt von hier lag, und versprach mich anzurufen, sobald er dort angelangt war. Eine Woche später würde auch Reff gehen müssen.
Er zog ans andere Ende des dritten Rings. Nach Vinc’ Verabschiedung war ich so aufgewühlt und machte mich deshalb auf den Weg zum See. Dort angekommen, zog ich mich bis auf die Schwimmsachen aus. Ein dunkelblauer, enganliegender Overall schmiegte sich an meinen Körper. Ich band mir das Haar zusammen und tauchte ab. Zum ersten Mal tanzte ich unter
Wasser. Die ganzen sieben Minuten.
Als ich wieder auftauchte, war ich mitten im dreißig Meter breiten See. Mir war gar nicht bewusst, dass ich mich so weit wegbewegt hatte. Ich sah mich um und meinte am Ufer, an dem ich zuvor abgetaucht war, eine Gestalt zu erkennen. Sie sah aus wie Reff, nur war sein Blick ganz verschleiert. Er sah auf einmal viel älter aus. Seit dieser Begegnung war eine Woche vergangen, ohne dass ich Reff noch einmal gesehen hatte. Und nun war schließlich sein Tag gekommen. Ich war enttäuscht, dass er mich in den letzten Tagen, die er noch da war, vollkommen ignorierte. Er schaute mich nicht mehr an und reagierte auch nicht auf meine Nachrichten, die ich ihm per Smartnizer, eine Art Telefon und Minicomputer, zukommen ließ.
Aus Unsicherheit wurde bald Wut und ich stapfte in Richtung Jungenflügel zu Reffs Zimmer empor. Energisch klopfte ich an seine Tür, war aber so ungeduldig, dass ich sie sofort aufriss. Aus Wut wurde wieder Unsicherheit und aus Unsicherheit wurde … Fassungslosigkeit.
Mit dem gleichen, verschleierten Blick schnellte sein Kopf zu mir. Ich erkannte ihn einfach nicht mehr. Und das sollte nicht das Schlimmste sein, denn er war nicht alleine. Er saß auf seinem Stuhl und über ihm rekelte sich eine halbnackte Frau mit makelloser, hellbrauner Haut und mit langen, blutroten Haaren, die ihr bis zur Taille gingen. Langsam folgte sie Reffs Blick und blieb an mir hängen.
Spöttisch zog sie ihre Mundwinkel hoch.
»Zieh ab, Mädchen, siehst du nicht, dass wir beschäftigt sind? Das ist nicht deine Welt.«
Damit hatte sie recht, denn in diesem Moment zerbrach meine Welt in tausend Stücke. Ich war wie gelähmt und konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Reffs unergründliche Augen ruhten noch immer auf mir, selbst als diese halbnackte, rothaarige Unbekannte anfing an seinen Ohren zu knabbern. Im Gegensatz zu ihr war er noch komplett angezogen. Nur sein dunkles Haar war zerzauster als sonst.
Sag was, sag irgendetwas!, flehte ich innerlich.
»Libell …« Es sah so aus, als ob er gerade aus einer Trance erwachte.
»… es ist nicht –«
»Das, wonach es aussieht?«, beendete ich mechanisch den Satz.
»Für wie naiv hältst du mich eigentlich?«
Wutentbrannt schüttelte ich den Kopf.
»Ich will dich nie wieder sehen. Du bist für mich gestorben!«
Ich knallte die hinter mir Tür zu und rannte davon. Immer weiter und weiter, bis ich mich am See wiederfand.
Außer Atem starrte ich in die Ferne und ließ meinen Tränen den freien Lauf. Er kam mir nicht hinterher.
Wieso bist du mir nicht hinterhergerannt?
Wie vom Wasser hypnotisiert, wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, zog mich bis auf die Unterwäsche aus und sprang in das kalte, klare Nass. Meine Gefühle und Tränen wurden vom Wasser verschluckt und durch Kälte ersetzt. Mein Herz wurde zu Eis.
Das war das letzte Mal, dass ich Reff damals sah.
Bis jetzt.