Читать книгу Brennende Flut - Natascha Freund - Страница 5

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Kapitel 1

Schon seitdem ich weiß, wozu meine Beine da sind, habe ich getanzt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um das herkömmliche Tanzen auf einer geeigneten Fläche, sondern um das Tanzen unter dem Wasser. Ich tue nichts lieber als das. Wenn ich tauche, kann ich abschalten und die Welt um mich herum vergessen. In den Tiefen bin ich frei. Schon als ich mit sechs Jahren schwimmen lernte, fühlte ich mich besonders mit dem Wasser verbunden. Als dann das Tauchen hinzukam und ich meinen Kopf unter Wasser senkte, hatte ich keine Angst mehr – vor nichts. Im Gegenteil: Ich öffnete erst das rechte und schließlich das linke Auge. Sofort konnte ich die Umgebung, die sich mir bot, glasklar erkennen. So, als hätte ich eine Taucherbrille getragen. Ich verspürte weder ein Brennen noch das Verlangen, meine Augen wieder zu schließen.

Nach einer Weile bemerkte ich, wie sich eine Hand um meine rechte Schulter krallte und ich blitzschnell nach oben gezogen wurde. Warme, rotbraune Augen starrten mich sorgenvoll an und musterten mein Gesicht. Die Augen meines sechs Jahre älteren Bruders Vincent. Ich hatte es erst nicht bemerkt, da ich von dieser neuen Welt viel zu sehr fasziniert war. Er erzählte mir, dass ich fast drei Minuten unter Wasser gewesen war und er voller Panik in den See rannte, um mich herauszuziehen.

»Aber anscheinend war meine Sorge unbegründet.« Er entspannte sich wieder, als er seine Hände ein wenig löste und mich dann schief anlächelte.

»Es war einfach unglaublich!«, schwärmte ich.

»Ich hatte nicht einmal die Augen zu. Sie brannten nicht und ich konnte alles klar und deutlich erkennen und …« – meine Aufregung ebbte ab und ich starrte meinen Bruder irritiert an.

»Was meinst du mit ›ich war fast drei Minuten unter Wasser‹?«

Seine Hände umfassten meine Schultern ein wenig stärker.

»So war es, Libell. Was glaubst du, warum ich mir solche Sorgen gemacht habe? Ich verstehe es ja selbst nicht. Anscheinend ist das Wasser dein Element.« Vinc schaute kurz schräg nach oben und dachte offenbar nach.

»Was ist?«, fragte ich verunsichert.

»Du wirkst gar nicht außer Atem. Wie lange du es wohl ausgehalten hättest, wenn ich dich nicht hochgezogen hätte? Entweder bin ich ein verdammt guter Lehrer …« Sein Lächeln wurde immer schiefer. »… oder du hast so was wie eine Gabe. Was meinst du, Libell? Möchtest du nochmal tauchen?«

Das brauchte er mich nicht zweimal fragen!

Damals hielt ich knapp fünf Minuten durch.

Das Einzige, was mir aus dieser Erinnerung geblieben ist, ist die Gabe, inzwischen zehn Minuten unter Wasser bleiben zu können. In meiner Kindheit war ich jede freie Minute am See und entwickelte meine eigene Technik, um mich im Wasser fortzubewegen, indem ich tanzte. Nur das Wasser und Tanzen haben in meinem Leben eine Bedeutung. Es ist das Letzte, was mir geblieben ist.

Diese Erinnerung liegt neunzehn Jahre zurück.

Oh, ist das eine Träne?

Mir war gar nicht bewusst, dass ich noch welche übrig habe …

Allein mit einer kleinen, weißen Kerze in der Hand, stehe ich am Grab meines Bruders und sehe dabei zu, wie sein rotverzierter Sarg in die Tiefe der Erde abgeseilt wird. Vierzehn Tage ist es nun her, seitdem er sich das Leben genommen hat. Vierzehn Tage, seit denen mich nur eine Frage beschäftigt: Warum?

Sie verfolgt mich wie mein eigener, düsterer Schatten. Er war neben dem Wassertanz das wichtigste für mich. Mein Bruder, mein Beschützer, mein bester Freund. Er war derjenige, der mir zeigte, was es heißt, jemanden zu lieben in dieser trostlosen Welt. Ich dachte immer, dass wir das füreinander empfinden würden, und zwar bedingungslos, doch anscheinend galt das nur für mich. Wie soll ich auch nicht daran zweifeln? Er hat mich alleine gelassen, einen Teil meiner selbst einfach mit sich genommen. Seit ich denken kann, gab es nur uns zwei. Wir gegen den Rest der Welt. Wir waren stets füreinander da, bis vor zwei Wochen.

Keine Anzeichen …

Keine Veränderungen …

Kein Verdacht …

Kein Abschiedsbrief …

Nur ein Zeitungsartikel mit einem schwarz-weißen Bild seiner niedergebrannten Wohnung.

Energisch schüttele ich meinen Kopf, um die Wut und Verzweiflung loszuwerden. Aber es ist vergebens. Nachdem nun der letzte Rest Erde den Sarg bedeckt, betrachte ich trostlos den Grabstein.

Vincent Motus – Du warst nie allein. Deine geliebte Schwester.

Ich zünde die weiße Kerze an und stecke sie in die Erde. Es ist tatsächlich wahr: Er hat mich verlassen. Das, was ich auf dem Grabstein hab’ schreiben lassen, ist nicht das, was ich seither empfinde. Diese Worte hören sich heuchlerisch an. Denn anstatt Liebe fühle ich eine gewaltige Wut, die nach und nach von der Leere abgelöst wird. Tag für Tag. Ich hasse es, dass ich ihn liebe.

Warum hast du mich nur verlassen?

Mit meiner Hand streichele ich sanft über den grobgeschliffenen Stein, drehe mich langsam um und trotte in Richtung Wohnung.

Dort angekommen fällt mein tränenverschleierter Blick als Erstes auf die Uhr im Flur, die mir mal wieder signalisiert, dass ich mich gefälligst beeilen sollte.

Ich seufze. Schon wieder spät dran. Das ist seit Vinc’ Tod nichts Neues. Danke dafür …

Ich schleudere die schwarzen Stiefel von mir, ziehe den schwarzen Mantel und das darunter befindliche Spitzenkleid aus und tausche es gegen Leggings und ein altes kariertes Hemd meines Bruders. Um den Look etwas abzurunden, schlüpfe ich in ein Paar braune Boots und binde mir mein honigblondes Haar zu einem lockeren Knoten hoch. Bis zu meiner Schicht im Club LaPearl, einer der wenigen Clubs in Malum, in der die Tänzerinnen noch einigermaßen bekleidet sein dürfen, sind es nur knapp zwei Stunden. Durch meine besondere Gabe im Wasser bin ich dort eine der Hauptattraktionen. Eigentlich ist mir das ziemlich zuwider, da mein Talent nicht für Fremde gedacht ist. Vor allem nicht für die gierigen und gaffenden Augen der Gäste in diesem schäbigen Club. Wenn ich schon daran denke, wird mir gleich schlecht. Dieses Talent ist einzig und allein nur für mich bestimmt. Selbst Vinc dachte immer, dass ich einfach nur schwimmen und tauchen würde. Er wusste auch nichts von dem Job, den ich gezwungenermaßen ausüben musste, wenn ich nicht halb oder sogar ganz nackt in einer Bar auftreten wollte. Oder vielleicht noch Schlimmeres machen musste. So kann ich dezent bekleidet, aber zumindest bekleidet, ins Wasser steigen und mir Miete und Nahrung leisten. Der Unterwassertanz ist Segen und Fluch zugleich. Ich begann das zu hassen, was ich so sehr liebe. Wie meinen Bruder.

Meinen vorherigen Job als Barkeeperin hatte ich geschmissen, nachdem mein Chef – ein schmieriger Mann mit dicken Brillengläsern und Halbglatze – es gewagt hatte, mich zu bedrängen. Meine Kündigung bestand darin, dass ich ihm mein linkes Knie dahin rammte, wo ich ihn sicherlich mit keinem anderen Teil meines Körpers berührt hätte.

Vor knapp zwei Jahren entschied ich mich dann schweren Herzens, meine geheime Leidenschaft zum Beruf zu machen. Vinc erzählte ich, dass ich einen neuen Job als Barkeeperin gefunden hätte, der besser bezahlt wird. Die Wahrheit hätte er nicht ertragen; hätte ich nicht ertragen, wenn ich sie ihm sagen müsste. Immer wenn ich durch die Straßen von Malum hetze, überlege ich, wie schön es wäre, sich etwas Besseres leisten zu können. Ich weiß nicht, ob diese Stadt hier auf Terra je bessere Zeiten gesehen hatte. Es gibt Orte, die schöner und luxuriöser sein sollen, doch die Menschen sind überall gleich: machthungrig und egoistisch.

Die Medien sind voll vom Egoismus der Bewohner auf Terra und hier in Malum ist es besonders schlimm. Irgendwann im Kindesalter habe ich gelernt, dass Terra früher den Namen Erde trug, der Blaue Planet. Damals soll der Wasserstaat Aquarin über ihn gewacht haben. Dieser Staat soll sich auf dem Parallelplaneten Elementum befinden. Hundert Jahre vor meiner Geburt hatte der Erdstaat Terra die Herrschaft und Pflege des Blauen Planeten für sich bestimmt und ihn in Terra umgetauft. Somit befinden wir uns laut terranischer Zeit im Jahre einhundertfünfundzwanzig. Angeblich wurde unser Planet von Elementum erschaffen, allerdings halte ich diese Geschichten für einen Mythos. Die Menschen brauchen den Glauben an das Übernatürliche und jemanden, dem sie bei Bedarf die Schuld zuweisen können. Und am besten funktioniert so was mit Mythen.

Das Hemd meines Bruders liegt kratzig auf meiner Haut. Zwischendurch hatte er mir die Hemden überlassen, die ihm nicht mehr ganz passten. Mit seinen ein Meter neunzig überragte er mich um mehr als zwanzig Zentimeter und besaß doppelt so breite Schultern wie ich. Im Gegensatz zu ihm habe ich royalblaue Augen. Das Einzige, was uns verband, waren die honigblonden Haare und die gerade, etwas kleingeratene Nase. Auch wenn sich das Hemd anfühlt, als wäre ich mit Stacheldraht umwickelt, bin ich sehr dankbar für dieses Kleidungsstück. Es versteckt meine drahtige Tänzerfigur. Je mehr ich verstecken kann, desto unattraktiver wirke ich auf mein Umfeld und das verringert wiederum die Wahrscheinlichkeit, in die nächste Seitengasse gezogen zu werden.

»Libell, was machst du denn hier?« – das ist die Stimme meiner Arbeitskollegin Hila, die mich verblüfft betrachtet, nachdem ich atemlos in der Tür der Garderobe erscheine.

»Hi Hila, falls es dir entgangen sein sollte: Ich arbeite hier.« Gebe ich zwinkernd zurück und beginne mich umzuziehen.

»Das weiß ich natürlich, du Nuss.« Sie rollt mit ihren dunklen, fast schwarzen Augen.

»Nur dachte ich, dass du wegen der Bestattung heute eher zu Hause bleibst.« Ihre geschwungenen Augenbrauen ziehen sich besorgt zusammen.

Ich setze mich zu ihr und drücke ihre Hand.

»Danke, dass du dir Sorgen um mich machst, nur leider kann ich das Essen und die Miete nicht bezahlen, wenn ich zu Hause bleibe. Die Ladungen für meine Silberkarte wachsen nicht auf Bäumen.« Davon abgesehen, dass es auf Terra wahrscheinlich mehr Silber- und Goldkarten als Bäume gibt.

Seufzend steht Hila auf, legt ihre karamellbraune Arme um meine Stuhllehne und schiebt mich zum Schminkspiegel rüber.

»Also dann, kleine Wassertänzerin. Was möchtest du für ein Make-up?«

Ich starre in den Spiegel, schaue aber durch mich hindurch.

»Wasserfestes, bitte.« Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, was auch Hila zum Schmunzeln bringt. Sie weiß ganz genau, wie viel mir das Wasser bedeutet.

»Okay«, stimmt sie zu und beginnt mir das Gesicht abzupudern, damit das Make-up wirklich nicht verlaufen kann. Wenn es ums Schminken und Frisieren geht, ist Hila die Beste in diesem Schuppen. Eigentlich ist sie als Tänzerin eingestellt, kümmert sich jedoch auch um die Maske. Natürlich bekommt sie dafür nichts extra, da der Chef – Collum Pearl – der Meinung ist, keiner der Gäste würde die Gesichter der Tänzer beachten.

»Du darfst die Mädchen schminken, sofern sie das wollen. Aber glaube ja nicht, dass du für das Gepinsel irgendwas extra bekommst!« Das sind seine Worte gewesen. Sie nickte zustimmend und ich konnte kurz sehen, wie sich ihre Augen erhellten.

Vor ein paar Jahren ist sie Kosmetikerin gewesen und übernahm das Studio ihrer Mutter. Es lief sehr gut, bis die Branche von Maschinen abgelöst wurde, die viel effizienter frisieren und schminken konnten. So musste Hila sich schnell eine Alternative suchen. Und neben dem Tanzen bleibt für Frauen in Malum nicht mehr viel übrig. Viele Berufe, die von Frauen ausgeübt wurden, werden jetzt von Maschinen getragen. Schon bald ersetzten sie auch viele Männer. Schleichend wird die Welt unpersönlich und keiner wird mehr richtig wissen, welchen Platz er in dieser einnehmen soll.

Selbst wenn ich dabei egoistisch erscheine, bin ich froh, so jemanden wie Hila zu kennen. Sie war von Anfang an nett zu mir. Ich lasse mich immer gerne von ihr zurechtmachen. Erstens dient das Make-up zum Schutz, da ich so nicht mehr richtig erkannt werde, und zweitens weiß ich, wie viel es Hila bedeutet. Wir nutzen uns aus, aber für einen guten Zweck. Collum sagt zwar, dass die Gäste nie auf die Gesichter achten, doch da bin ich mir nicht ganz so sicher. Nachdem Hila mir leichte Wellen ins Haar gedreht hat, kümmert sie sich um Lippen und Augen. Die Lider werden leicht violett bemalt, um die royalblaue Färbung hervorzuheben. Jedes Mal, wenn die Maske beendet ist, blicke ich in das Spiegelbild einer fremden Person.

Ja, so gut ist Hila.

»So, du bist fertig. Zeit für die Garderobe. Denn so …«, sie zupft an meinem übergroßen Hemd, »würdest du wohl Ärger bekommen.«

Ich kichere.

»Wäre mal etwas anderes. Aber ja, Boss, wird gemacht.« Anschließend verschwinde ich hinter einer großen und dunklen Trennwand. Die Kostüme werden von Collum höchstpersönlich erworben und für die Auftritte ausgewählt. Widerwillig ziehe ich das bauchfreie, mit Perlen besetzte und blau-weiß schimmernde Neckholdertop sowie den passenden Rock dazu an, der beidseitig über tiefe Schlitze verfügt und transparenter ist als das Oberteil. Um das Outfit abzurunden, legt mir Hila einen goldenen Gürtel um und besetzt meine Arme und Beine mit Schmuck, der sich wie Ranken um meine Gliedmaßen schmiegt. Seufzend blicke ich vom Spiegel zu ihr.

»Dann werde ich jetzt mal abtauchen.«

Auf dem Weg zur Bühne streife ich mir den Rock nochmal glatt und gehe langsam auf den mit Wasser gefüllten Glaskasten zu. Um hineinzugelangen, befindet sich außerhalb eine rollbare Treppe. Diese wird weggeschoben, sobald ich im Wasser bin. Langsam steigt meine Motivation und ich freue mich darauf, endlich abzuschalten. Bevor ich gänzlich verschwinde, prüfe ich mit meinem linken Fuß die Temperatur. Perfekt. Und so lasse ich mich bis zu den Schultern vom Wasser verschlucken. Nachdem ich ganz tief Luft hole, tauche ich bis zum Boden des Glaskastens ab und bringe mich in Position. Ein kurzer Blick zum Bühnenassistenten genügt, um zu signalisieren, dass er den schweren, glitzernden Vorhang öffnen kann. Zwei grelle Scheinwerfer werden auf mich gerichtet und verfolgen meine Bewegungen. Eine sinnliche Melodie, die zur Unterwasserwelt und zum Club passt, wird im ganzen Raum so laut abgespielt, dass ich sie ebenfalls hören kann, um meinen Tanz darauf abzustimmen. Und schon gibt es nur noch das Wasser und mich. Obgleich der See von damals weit weg und Vinc nicht mehr bei mir ist, kann ich mich einigermaßen entspannen und lasse mich von den Wellen leiten. Zehn Minuten kann ich ohne Luftholen tanzen.

Drei sind bereits um. Zum Glück muss ich mich nur auf die Musik konzentrieren und nicht darauf achten, dass mich irgendjemand begrapschen könnte. Meistens arbeite ich zwei- bis dreimal am Abend, um einfach vergessen zu können. Zumindest versuche ich das.

Ich drehe mich ein paar Mal im Kreis und lasse meinen Rock ein wenig nach oben wirbeln, sodass er wie perlenbesetzte Wellen zur Melodie flattert.

Noch fünf Minuten.

Nach der letzten Drehung lenke ich meinen Blick unbewusst ins Publikum und sehe plötzlich zwischen den gierigen, dunklen Gestalten in ein Paar vertraute, goldene Augen.

Ich halte inne.

Gedanklich nur bei den goldenen Augen, läuft mir das Wasser jäh in die Lungen.

Brennende Flut

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