Читать книгу Die Amulettmagier - Natascha Honegger - Страница 14

Besuch im Waisenhaus

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Nachdem sich Isa kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, um die Bilder des schrecklichen Albtraums fortzuwischen und ihre Gedanken zu ordnen, streifte sie sich ein einfaches Baumwollkleid über und schlurfte den Flur entlang in Richtung Treppe. Sie fühlte sich so elend, als wäre sie von jemandem verprügelt worden.

Langsam stieg sie die Stufen hinab, mehr mit ihren Gedanken, als mit der Umgebung beschäftig. Erst als sie bereits am Fuß der Treppe angelangt war, fiel ihr Blick auf eine Gruppe hektisch tuschelnder Kinder, die sich über einen reglosen Körper beugten.

Isa erstarrte zur Salzsäule. Einige entsetzte Stimmen drangen an ihr Ohr.

„Was ist geschehen?“, fragte ein Mädchen. „Ist sie tot?“

„Ich … ich weiß nicht“, antwortete seine Nachbarin zitternd. Lautes Gepolter kündigte die Köchin des Waisenhauses an, die nur Sekunden später durch eine der Türen stürzte und die Kinder keuchend und schneeweiß im Gesicht zur Seite drängte. „Oh, ihr guten Götter!“, rief sie aus und legte den Kopf in ihre Hände. „Wir müssen umgehend einen Arzt verständigen!“

Nichts konnte Isa vom Anblick des reglosen Körpers ablenken, dessen Augen glasig an die Decke starrten. Ihr Atem ging schwer und sie hatte das Gefühl, irgendjemand drücke ihr die Luft ab. Keuchend griff sie sich an ihre Kehle und begann, zu taumeln. Blind tastete sie nach dem Treppengeländer, dann wurde ihr schwarz vor Augen.

„… ist zusammengebrochen.“

„Der Anblick war zu viel für sie …“

Stimmen drangen bruchstückhaft an ihr Ohr, undeutlich und wirr. Langsam tauchte sie aus dem schwarzen Nichts der Bewusstlosigkeit empor und trieb hinauf zum Licht. Sie blinzelte benommen.

„Isalia? Mädchen, hörst du mich?“ Irgendjemand fächerte ihr Luft zu. Übelkeit stieg in ihr hoch, und noch ehe sie irgendetwas sagen oder tun konnte, musste sie sich übergeben.

„Isalia, geht es dir gut?“, fragte die Köchin, die neben ihr kniete und mit besorgter Miene über ihr Haar strich.

„Blendend“, krächzte Isa und musste husten.

Die Frau hob mahnend einen Finger. „Über so etwas macht man keine Scherze, Mädchen. Das war eine ernst gemeinte Frage.“

Isa sah zu dem Ort, an dem zuvor die Tote gelegen hatte. Die Köchin folgte ihrem Blick.

„Wir haben die Leiche weggebracht“, erklärte die Frau mitleidig und seufzte. „Ihr Herz war schon immer sehr schwach. Die Heiler gaben ihr nicht mehr lange zu leben …“

Isa hörte ihr kaum zu, denn sie merkte, dass ihr erneut übel wurde. „Ich muss hier raus!“, stieß sie hervor.

„Ja, du hast recht. Die frische Luft wird dir gut tun.“ Die Köchin half ihr auf die Beine und wollte sie hinausbegleiten, doch Isa riss sich los und stürzte keuchend durch die Tür.

Dann endlich, endlich spürte sie die frische, kühle Morgenluft auf ihrer Haut und die Übelkeit legte sich etwas. Ihre Lungen füllten sich bei jedem Atemzug und auch ihr Kopf begann, sich langsam wieder zu klären.

Die Köchin trat neben Isa und umfasste sanft ihre Schultern. „Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte sie besorgt.

„Nein. Es ist nur etwas zu viel für mich. Ich muss nachdenken“, antwortete das Mädchen leise.

„Bist du dir sicher?“

Isa nickte entschlossen und schlurfte dann durch das hohe Gras davon. Sie spürte, wie ihr der nachdenkliche Blick der Frau folgte.

Das Mädchen umrundete gedankenverloren das Haus und setzte sich an einen Baumstamm. Von hier aus konnte man es weder vom Haus noch von der Straße her sehen und so konnte es in Ruhe die Geschehnisse der letzten Nacht noch einmal überdenken.

Was war passiert? Und wieso gerade an Isas 13. Geburtstag? Wie viel hatte sie geträumt und wie viel war Wirklichkeit gewesen? Die Fragen über das Geschehene schwirrten wie angriffslustige Wespen durch Isas Kopf und stachen und piesackten sie. Worte wie Magie, Tod und Amulett spukten ununterbrochen durch ihren Geist.

Um sich abzulenken, fasste sie vorsichtig in ihre Tasche und wollte den kleinen Würfel hervornehmen, mit dem sie und ihre Freundinnen früher so oft gespielt hatten. Doch statt auf Holz stießen ihre Fingerspitzen auf angenehm warmes Metall. Wie schon in der Nacht zuvor durchströmte sie bei dieser Berührung eine Woge des Glücks, der Wärme und der Vollkommenheit. Isa zuckte zusammen.

„Was zum …“, stieß sie hervor und ihre Augen weiteten sich. Das war doch nicht möglich, oder? Sie hatte das Amulett ins Meer geworfen! Rasch zog sie den Gegenstand hervor, den sie berührt hatte. Ein Amulett, Gold mit blauen Edelsteinen. Es war DAS Amulett.

Isa stöhnte auf. Das wurde ja immer besser!

Dennoch drückte sie das Schmuckstück an ihre Brust und betrachtete es in den ersten morgendlichen Strahlen der Sonne. Die Schönheit, die das Amulett im Tageslicht preisgab, überwältigte sie und sie vergaß, dass sie es in der letzten Nacht noch hatte loswerden wollen. Die Edelsteine glitzerten und funkelten und das Gold glänzte wie neu.

Ein sanfter Wind strich flüsternd durch den Garten und ließ die Grashalme hin und her wogen. Das Blattwerk über dem Mädchen raschelte und knisterte und eine Biene flog summend an seinem Ohr vorüber. Doch dann, ganz plötzlich änderte sich Isas Wahrnehmung.

Die Welt verstummte, schien einzufrieren und urplötzlich spürte sie ungewöhnliche Schwingungen in der Luft, deren Zentrum das Amulett zu sein schien. Isas Herz setzte einen Schlag aus und ihr Atem stockte. Sie war sich nicht ganz sicher, ob dies ein Grund zur Panik war …

Ohne es verhindern zu können, erfasste sie mit einem Mal eine unendliche Müdigkeit und sie sank in sich zusammen.

Ihre Gedanken begannen, sich wirr zu durchmischen, ihre Sicht verschwamm. Nur das Amulett leuchtete strahlend hell in ihrer Hand und sprach ihr Mut zu.

Und so glitt sie erneut in die seltsame Traumwelt, die sie am Abend zuvor bereits betreten hatte, eine Welt, die viel zu echt schien für einen normalen Traum.

Das Amulett wollte ihr eine weitere Geschichte aus der Vergangenheit erzählen …

Dieses Mal befand sich Isa nicht mehr in der unheimlichen unterirdischen Halle, in der König Salsar seine düsteren Pläne geschmiedet hatte.

Stattdessen stand sie in einem kleinen Raum, in dem sich zwei Personen aufhielten. Die eine war ein blondes Mädchen um die zwölf Sommer mit hüftlangem Haar und klugen hellblauen Augen, die andere ein dunkelhaariger Mann, auf dessen Haupt eine silberne Krone glitzerte.

„Attillia ist nicht mehr sicher vor diesem Arkamoor Salsar, Vater! Du musst mir glauben! Als König dieser Insel ist es deine Pflicht, die Menschen zu beschützen.“ Das Mädchen sprach mit leiser, aber eindringlicher Stimme auf den Mann ein.

Isa erkannte, dass sie sich in einer Zeit befand, in der König Salsar bereits einen Großteil von Aria seinem neuen Reich einverleibt hatte. Denn die Insel Attillia, früher auch die Insel der Magier genannt, war die letzte gewesen, die unter die Herrschaft des Tyrannen fiel.

„Das ist vollkommen unmöglich, Pamina“, antwortete der Mann entschieden und schüttelte den Kopf. „Arkamoor Salsar ist nicht stark genug, uns zu unterwerfen. Der Schutzzauber der Insel ist uralt und sehr mächtig. Tausende von Magier haben ihn über viele Jahre hinweg beständig gestärkt und außerdem leben hier auf der Insel Zauberer aus dem ganzen Land. Er müsste gegen eine Übermacht gewinnen, selbst wenn er die Banne bräche.“ Der Mann hatte eine angenehm ruhige Stimme und sprach mit der Prinzessin voller Geduld und Freundlichkeit. Doch seine Tochter wollte sich mit den Erklärungen nicht zufriedengeben.

„Ich weiß, dass Attillia eine Insel voller Magie ist! Aber König Salsar hat ein Amulett erschaffen, das …“

„Du hast geträumt. Es gibt kein Amulett, das so stark sein könnte, wie du es mir beschrieben hast. Und außerdem …“ In jenem Augenblick klopfte es an der Tür und der König unterbrach sich. „Herein!“

Die Tür wurde geöffnet und ein Diener trat mit langen Schritten herein. „Majestät, Prinzessin“, er verbeugte sich vor den beiden und wandte sich dann an den Inselkönig. „Ein Bote verlangt, Euch zu sehen. Es geht um die Gelder aus dem Süden …“

„Lasst ihn nur herein“, befahl der König und der Mann verbeugte sich höflich, ehe er nach draußen ging, um den Boten hereinzubitten.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, stampfte Pamina auf den Boden. „Ich weiß, dass es wahr ist“, zischte sie ihrem Vater ärgerlich zu. „Ich weiß, dass das Amulett erschaffen wurde. Ich weiß, dass Kassandra mit ihrer Prophezeiung richtig lag. Vater, Attillia wird fallen!“ Dann glitt sie durch eine andere Tür hinaus. Ihre Augen glitzerten voller Zorn und Verzweiflung.

Die Szene änderte sich. Pamina stand vor einer hölzernen Tür und klopfte gegen das dunkle Holz. Nichts tat sich. Noch einmal schlug sie dagegen, etwas stärker dieses Mal und da wurden Schritte im Innern laut.

Quietschend öffnete sich die Tür einen Spaltbreit und jemand spähte hindurch.

„Ach, du bist es, Pamina. Komm doch herein.“ Die Tür wurde ganz geöffnet und gab den Blick auf eine Frau um die fünfzig Jahre frei. Ein sanftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Was führt dich hierher, mein Kind?“, fragte sie und ließ das Mädchen eintreten. Ihre Stimme klang etwas rau, wie die einer sehr alten Frau.

„Oh Kassandra!“ Pamina sah sie flehend an und schien mit ihrer Beherrschung zu ringen. „Ich brauche deine Hilfe.“

„Kindchen, was ist denn los?“ Besorgt musterte sie das Mädchen. „Ist dir nicht gut?“

„Mit mir ist alles in Ordnung. Es geht um die Insel. Ich …“ Pamina stockte und schloss die Augen. „Ich habe solche Angst, dass sie nicht mehr sicher ist.“

„Wie kommst du denn auf diese Idee?“, fragte Kassandra etwas verunsichert, dann schien sie zu begreifen. „Du hast die Prophezeiung gehört? Hast du etwa bei der Ratsversammlung gelauscht?“

„Nein! Ich meine … ja, aber es ist nicht nur die Prophezeiung, die mich das glauben lässt …“, hauchte Pamina. „Ich hatte gestern einen schlimmen Traum. Ich glaube, es war ein Wahrtraum.“

Von einem Wahrtraum hatte Isa noch nie etwas gehört. Es musste wohl etwas Magisches sein. Vielleicht etwas in der Art, wie sie es gerade erlebte? Ja, das wäre möglich …

Kassandra setzte sich nachdenklich und bedeutete Pamina, es ihr gleichzutun. „Ein Wahrtraum“, murmelte Kassandra erschrocken. „Das ist … unerwartet. Doch erzähl mir, was du geträumt hast. Alles: wie es sich angefühlt hat, aus welcher Sicht du die Szene gesehen hast und um was und wen es ging. Vergiss nicht, erzähle mir jedes Detail, auch wenn es dir noch so unwichtig erscheint. Denn sollte sich dein Traum tatsächlich als wahr herausstellen, könnten auch nur die kleinsten Lücken schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.“

Und so begann Pamina, zu erzählen. Sie sprach über jenen Traum, den Isa vergangene Nacht selbst durchlebt hatte: die Erschaffung eines unheimlichen schwarzen Amuletts.

Kassandra hörte aufmerksam zu und unterbrach sie nicht. Nur hin und wieder nickte sie mit dem Kopf oder fuhr sich mit den Fingern durch ihr Haar. Als Pamina nach einer Weile endete, legte sich Stille über das Zauberhaus.

„Hm, hm“, war das Einzige, was Kassandra eine ganze Weile lang sagte, während sie nachdachte. „Mal überlegen.“ Dann endlich nickte sie bedächtig und faltete ihre Hände ineinander. „Die Intensität des Traums, die vielen Details … dies alles weist tatsächlich auf einen Wahrtraum hin. Ich denke, es ist eine weitere Warnung oder ein Hinweis, den uns das Schicksal sendet. Ein solch mächtiges Amulett, wie du es beschrieben hast, ist nur sehr schwer zu besiegen, vor allem dann, wenn es von einem mächtigen Magier wie Salsar erschaffen wurde“, meinte Kassandra schließlich vorsichtig. „Ein solches Amulett“, fuhr sie fort, „habe ich schon einmal gesehen. Nicht in seinem Original, aber in einem Buch. In einem sehr, sehr alten Buch.“

Kassandra befeuchtete ihre Lippen und erhob sich dann mit einer erstaunlichen Leichtigkeit. Bedächtig trat sie an ein Regal voller Bücher und glitt daran entlang. „Alaista Karantan. Die Worte sind in einer alten Sprache gesprochen. In der Ursprache der Magie“, erklärte sie, während sie weiter die Buchrücken entlangfuhr.

„Altarianisch“, hauchte Pamina leise.

„In der Tat. Wie du weißt, beherrsche ich sie beinahe fließend, doch die Bedeutung dieser beiden Worte … Ich kenne sie nicht.“

Ihr Finger stoppte bei einem dicken Buch, auf dessen Rücken in abblätternden Lettern etwas stand, das Isa nicht lesen konnte. Die Frau tippte einmal darauf, murmelte „Ah, hier ist es“ und zog es vorsichtig aus dem Regal heraus. Es schien tatsächlich uralt zu sein und hatte wohl schon bessere Zeiten erlebt. Die Seiten waren dick und vergilbt und der Umschlag zerschlissen. Als Kassandra es aufschlug und darin blätterte, wirbelte Staub auf. Das Mädchen, das neugierig aufgestanden und neben sie getreten war, musste laut niesen.

„Hier ist es“, murmelte die Zauberin plötzlich und zeigte auf eine Seite mit dem Bild zweier fast identischer Amulette. Isa hielt die Luft an, als sie erkannte, dass das eine ein Gesamtbild des Amulettes war, von dem sie ein Stück besaß. Das andere war das Dunkle Amulett.

Währenddessen wanderten Kassandras Augen bereits flink über den langen Text, der in einer fremden Sprache geschrieben war. Isa vermutete, dass dies die sagenumwobene altarianische Sprache war, doch sicher war sie sich nicht.

Pamina hatte sich ebenfalls über das Buch gebeugt. Sie unternahm anscheinend den Versuch, die Worte zu entziffern, gab nach einiger Zeit jedoch auf und setzte sich gegenüber von Kassandra auf einen Stuhl.

Nach Stunden, wie es Isa vorkam, schlug die Zauberin das Buch schließlich zu und blickte Pamina besorgt an.

„Es gibt, wie ich befürchtet habe, nur ein einziges Amulett, das auf deine Beschreibung zutrifft: das Höllenamulett, in die alte Sprache übersetzt Alaista Karantan. Dieses Amulett, oder vielleicht besser diese Art von magischen Amuletten, taucht in der Geschichte Arias vor über 2000 Jahren das erste und letzte Mal auf. Ein uns unbekannter Verfasser schrieb dazu: „Und ein düster Amulett ward aus Licht erschaffen und knechtete die Welt.“ So wird es in einem Dokument geschildert, das über einen großen Magierkrieg berichtet. Fast hundert Jahre lang brachte es Verzweiflung, Angst und Tod mit sich, ehe es, der Quelle zufolge, zerstört werden konnte. Die Überlieferungen dazu sind lückenhaft und unvollständig, teils auch nahezu unglaubwürdig, da von Mächten die Rede ist, die wir uns nicht einmal im Traum vorstellen können: die Magie der Alten.“

„Die Magie der Alten?“

Kassandra nickte. „Es heißt, dass die Magier der alten Welt sehr viel mehr Magie besaßen als irgendjemand in der heutigen. Wieso das so war, wissen wir nicht, doch es ist gewiss, dass das Dunkle Amulett selbst jenen Männern und Frauen zugesetzt zu haben schien. Lange Jahre suchten sie nach einer Möglichkeit, es zu zerstören, ehe sie eine solche auch tatsächlich fanden. In der Überlieferung heißt es, dass ein Alaista Karantan nur durch einen ihm ebenbürtigen Zwilling zerstört werden könne, ein Amulett, dessen Kräfte dem Licht dienen: ein sogenanntes Lichtamulett.“ Kassandra schwieg einen Moment und ließ Pamina die Gelegenheit, das Gehörte zu verarbeiten.

„Lichtamulett?“ Pamina zögerte. „Der Ausdruck kommt mir irgendwie bekannt vor …“ Sie strich sich ihr langes Haar aus der Stirn. „Als hätte ich schon einmal davon gehört.“

„Das ist kein Wunder. Erinnerst du dich an die Geschichten, die ich dir früher immer erzählt habe? Die Geschichten über die Magischen Vier?“

Pamina dachte nach und nickte nach einer Weile. „Sie lebten vor ungefähr sechzig Jahren und waren vier Zauberer, von denen jeder eine elementare Gabe besaß: Luft, Wasser, Feuer und Erde. Ein goldenes Amulett verband ihre Kräfte und sie konnten damit Dinge tun, zu denen niemand sonst in der Lage war.“

„Ganz genau!“, bestätigte Kassandra. „Und dieses Amulett war ein Lichtamulett.“

Pamina schaute sie verständnislos an. „Ein Lichtamulett? Wieso denn das? Ich dachte, seit 2000 Jahren hätte es kein Alaista Karantan mehr gegeben, das man damit hätte zerstören können?“

„Das ist richtig. Man erschuf das Lichtamulett nicht aus dem Grund, dass es ein dunkles zu besiegen gab, sondern weil man damals einen offenen Krieg mit der Unterwelt verhindern wollte.“ Als Kassandra erkannte, dass Pamina nicht verstand, fügte sie erklärend hinzu: „Damals herrschte ein mächtiger König im Land unter der Erde. Ein Krieg stand kurz bevor, doch der Magierrat wollte sinnloses Blutvergießen verhindern. Seine Mitglieder waren verzweifelt und kamen schließlich auf die Idee, dass nur ein Zauberspruch der Alten ihnen noch helfen konnte. Von denen gibt es nicht mehr viele, die uns bekannt sind, und die meisten sind Alltagszauber, die mündlich von Generation zu Generation überliefert wurden.

Es stellte sich schließlich heraus, dass nur eine einzige magische Formel für den Plan des Rates geeignet war: eine schriftliche Überlieferung über die Erschaffung eines Amuletts, das seinen Trägern ungeahnte Mächte verleiht.“

Kassandra schien in ihren Erinnerungen zu schwelgen. „Der Rat entschloss sich, jenen Zauber anzuwenden. Ich habe die Magier davor gewarnt, doch sie wollten nicht auf mich hören. Wie du siehst, haben wir nun die Bescherung.“

Sie hielt inne. „Was weißt du sonst noch über die Amulettmagier von damals?“

Pamina dachte nach. „Nicht viel. Sie waren eine Legende, doch eines Tages verschwanden sie spurlos und man hat sie nie wieder gesehen.“

„Ja, das ist die offizielle Version.“

Pamina horchte auf. „Und die inoffizielle?“

Kassandra trat an eines der Fenster und blickte nach draußen. „Nachdem die Magischen Vier ihre Aufgabe in der Unterwelt erfüllt hatten, wandten sie sich von uns ab und beschlossen, fortan den Kontakt zum Rat und allen anderen Mitgliedern unserer Gemeinschaft zu vermeiden.“

Paminas Augen weiteten sich. „Sie haben uns verraten? Wieso?“

„Sie hatten ihre Gründe und ich hätte mich an ihrer Stelle nicht anders entschieden, doch ich habe jetzt keine Zeit, dir dies genau zu erklären.“

Kassandra wirkte traurig, als sie über die einstigen Amulettmagier sprach. „Jedenfalls ist einer von ihnen irgendwann vom Pfad des Lichts abgekommen und hat den Erdmagier und die Wassermagierin getötet. Sein Name war und ist Arkamoor Salsar.“

„Salsar war ein Amulettmagier?!“, kreischte Pamina und sprang von ihrem Stuhl auf. „Der Arkamoor Salsar?!“

Kassandra nickte und wandte sich vom Fenster ab. „Ich bin mir fast sicher, dass das Alaista Karantan einst das Lichtamulett der Magischen Vier war. Salsar muss eine Möglichkeit gefunden haben, es zu wandeln.“

Pamina sank auf ihren Stuhl zurück und schüttelte nur fassungslos den Kopf. „Das glaube ich einfach nicht. Dann sind wir wirklich verloren“, stöhnte sie leise. „Die Magischen Vier galten als unbesiegbar.“

„Sie waren stark, aber unbesiegbar?“ Kassandra verzog zweifelnd das Gesicht. „Nein, das glaube ich nicht.“

„Bist du dir da ganz sicher?“ Pamina rieb sich die Schläfen. „Wir hätten doch keine Chance gehabt, gegen sie zu gewinnen! Und wenn Salsar das Amulett nun allein beherrscht, würde das ja bedeuten …“ Ihre Augen weiteten sich. „Das würde bedeuten, dass er über alle vier Elemente gebietet!“

„Ja.“ Kassandra nickte mechanisch. Ihrem Gesicht sah man keinerlei Regung an, doch Isa war sich sicher, dass das täuschte. „Aber dennoch … verloren, mein Kind, das hat man erst dann, wenn man die Hoffnung aufgibt. Ich kannte Arkamoor Salsar einst und auch er hat seine Schwächen. Er ist keineswegs unbesiegbar.“ Die Frau strich der Prinzessin sanft über ihre Haare.

„Besteht denn noch Hoffnung, Kassandra?“

„Nun, vielleicht nicht in diesem Augenblick und auch nicht in den nächsten Jahren. Doch der Tag wird kommen, an dem sich das Licht erneut erheben wird.“

„Dann wird Attillia fallen?“

Kassandra antwortete nicht sofort. „Prophezeiungen sind unumstößlich, mein Kind“, begann sie schließlich zögernd. „Sie ereignen sich womöglich nicht so, wie wir uns das vorstellen, doch sie lügen niemals. Die Insel wird fallen, wie auch alle anderen Orte Arias. Doch noch ist nicht alles verloren, denn die Prophezeiung spricht von besseren Zeiten, von Rebellion und Widerstand.“

„Sie spricht von Krieg“, erinnerte Pamina sie zögernd.

„In der Tat. Krieg wird es geben“, flüsterte Kassandra und in ihrer Stimme schwang Sorge mit. „Einen schrecklichen Krieg …“

Pamina schluckte schwer und strich eine Haarsträhne aus ihrem besorgten Gesicht. „Wer wird gewinnen?“

„Das weiß ich nicht. Die Prophezeiung spricht weder von Sieg noch von Niederlage.“

Kassandra seufzte und wollte das Buch schließen, das noch offen auf dem Tisch lag. Doch Pamina ging dazwischen und hielt sie zurück.

„Nein! Ich kann nicht einfach hier herumsitzen, nichts machen und auf eine Prophezeiung hoffen, die sich womöglich als erste nicht bewahrheiten wird. Wenn ein Lichtamulett die einzige Möglichkeit ist, das Alaista Karantan zu zerstören …“, sie blickte der Frau tief in die Augen, „… so müssen wir es erschaffen!“

„Das geht nicht“, murmelte Kassandra und musste den Blick von den starken Augen des jungen Mädchens abwenden.

„Wieso nicht?“

„Es gibt so viele Unsicherheiten bei der Erschaffung eines Lichtamuletts. Bedenke zum Beispiel, dass du die Amulettmagier nicht dazu zwingen kannst, uns zu helfen. Sie sind ihre eigenen Herren, und wenn sie sich entscheiden, mit Salsar gemeinsame Sache zu machen … Niemand kann wissen, wie sie sich entwickeln!“

„Risiken hin oder her! In der Prophezeiung werden Amulettmagier erwähnt! Was ist, wenn es an uns liegt, dieses neue Lichtamulett zu erschaffen? Was ist, wenn das unser Schicksal ist?“

Kassandra nickte langsam und in ihre Augen trat ein kämpferischer Ausdruck. „Du hast recht. Aber wir bräuchten einen sehr starken Magier, der die Gefahr nicht scheut und in den wir vollstes Vertrauen haben. Ich würde es ja selbst tun, aber meine Magie ist sehr geschwächt, weil ich seit Monaten täglich den magischen Schutzwall stärke, um die Insel so lange zu schützen, wie es nur geht“, erklärte sie entschuldigend.

Pamina war voller Tatendrang aufgesprungen und ging nun im Zimmer auf und ab. „Was ist mit mir? Kann ich es denn nicht versuchen?“ Sie blickte Kassandra flehend an. „Bitte.“

„Pamina! Du könntest bei dem Versuch sterben, und selbst wenn nicht … Dieser Zauber braucht so viel Energie, dass du tagelang bewusstlos wärst. Er würde nicht nur sämtliche Magie aus dir heraussaugen, sondern auch jedes bisschen Kraft in deinem Körper. Du bist noch so jung und deine magische Gabe ist noch nicht vollständig ausgebildet! Bedenke das Risiko! Und der Feind könnte jeden Tag angreifen!“

„Ich bin mir der Gefahr wohl bewusst. Doch wenn wir jetzt nicht handeln, ist Aria womöglich für immer verloren! Ohne ein Amulett auf der Seite des Lichts gibt es keine Hoffnung mehr.“ Das Mädchen legte sanft eine Hand auf die Kassandras und tätschelte sie vorsichtig. „Ich habe genügend Magie, um ein Lichtamulett zu erschaffen, nicht wahr?“

„Ja“, murmelte Kassandra etwas unwillig. „Deine Kräfte sind größer als die von manch erwachsenem Zauberer. Aber ein Lichtamulett …“ Sie zögerte.

„Bitte, Kassandra! Sag mir, wie ich es erschaffen kann. Tu es für Aria! Tu es für mich und für all die anderen unschuldigen Menschen!“

Schweigen legte sich über das kleine Haus.

Dann plötzlich nickte Kassandra und erhob sich. „Wie du willst. Ich werde dich anleiten.“

In diesem Augenblick spürte Isa, dass sie aus ihrem Traum aufzutauchen begann. Der Raum verschwamm vor ihren Augen.

Doch gerade, bevor sie erwachte, erleuchtete ganz plötzlich das Lichtamulett selbst in seiner vollendeten Gestalt ihre Gedanken, ehe es auseinanderbrach und bei vier Neugeborenen wieder auftauchte, die alle von einer seltsamen Aura aus Licht umgeben waren: grün wie die Pflanzen, rot wie das Feuer, dunkelblau wie das Wasser und hellblau wie die Luft.

Die Amulettmagier der neuen Ära waren geboren. Und sie, Isa, das Waisenkind aus Merlina, war einer davon.

An dieser Stelle erwachte das Mädchen vollends aus seinem Traum. Am liebsten hätte es noch erfahren, wie Pamina das Amulett erschaffen hatte und was ihr danach widerfahren war. War sie Arkamoor Salsar entkommen? Lebte sie vielleicht immer noch irgendwo in Aria? Wenn ja, musste sie mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen sein …

Das Geräusch einer sich nähernden Kutsche ließ Isa aus ihren Gedanken hochschrecken. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie noch immer unter dem Baum lag, den Rücken an die raue Rinde gelehnt, und dass es, dem Sonnenstand nach zu urteilen, bereits später Nachmittag sein musste. Sie stand auf und ihre Neugier trieb sie zu dem Teil der Waisenhausmauer, der eingefallen war. Vorsichtig spähte sie durch das dichte Blattwerk auf die Straße. Dort rollte eine prachtvolle Kutsche, gezogen von zwei eleganten Pferden heran und schien genau auf das Waisenhaus zuzuhalten.

Das Mädchen pfiff anerkennend durch die Zähne. „Die sind ganz bestimmt stinkreich“, dachte es.

Noch nie zuvor hatte es eine solch protzige Kutsche gesehen: Sie war vergoldet und fremdartige Wappen und Bilder zierten ihre Wände. Unverkennbar war es eine Kutsche aus dem Süden, da nördliche Kutschen eine andere, etwas einfachere Bauart aufwiesen.

„Warum kommen Leute vom Süden bis hierher, um ein Waisenhaus wie das von Merlina zu besuchen?“, fragte sich Isa verwirrt. Das war höchst ungewöhnlich. Doch wenn sie die Antwort darauf wissen wollte, musste sie wohl oder übel zu den anderen zurückkehren. Isa drehte sich um und ging schnellen Schrittes in Richtung des Gebäudes. Normalerweise versteckte sie sich immer, wenn Fremde kamen. Aber wenn sie sich im Hintergrund hielt, würde sie bestimmt niemand bemerken. So einen interessanten Besuch wollte sie auf gar keinen Fall verpassen.

Als sie das Haus erreichte, war die Kutsche eben erst zum Stillstand gekommen und alle Bewohner des Waisenhauses drängten sich um sie. Voller Faszination betrachteten sie das Gold und konnten ihr Staunen kaum verbergen.

Der Kutscher stieg elegant von seinem Bock und öffnete die Tür, wie sich das gehörte. Stoff raschelte im Inneren, dann trat ein Mann von großer Statur aus der Kutsche und reichte seiner zierlichen Frau die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

Die Frau trug ein grünes Seidenkleid mit passender Haube, die ihre schwarzen Haare wunderschön zur Geltung brachte und zu ihren ebenfalls grünen Augen passte. Der Mann trug einen schwarzen Anzug, wie ihn sich nur sehr reiche Menschen leisten konnten, sowie ein mit Edelsteinen verziertes Sehglas, das er sich in sein linkes Auge klemmte, um die Kinder zu betrachten. Sein Haar war schwarz und seine Augen von einem warmen Dunkelbraun.

Die Köchin drängte sich durch die Kinderschar, begrüßte die beiden Erwachsenen etwas ungeschickt und entschuldigte sich dafür, dass die Waisenhausleiterin nicht zugegen war. Dann wollte sie die beiden in den Besucherraum führen, doch die Frau verneinte höflich.

„Wir möchten nicht allzu lange hier verweilen“, sagte sie mit einem undeutbaren Blick auf das heruntergekommene Haus. „Wir haben eine lange Rückreise vor uns und außerdem suchen wir ein ganz bestimmtes Mädchen. Wenn wir es hier nicht finden, werden wir uns umgehend weiter nach Südosten begeben.“

Die dickliche Köchin lächelte und wurde rot, wie so oft, wenn sie ein wenig verlegen war. „Ihr sucht Eure Tochter, Mylady?“

Die Frau schüttelte vehement den Kopf und leichtes Empören schwang in ihrer Stimme mit. „Nein, wir würden niemals eines unserer Kinder in ein“, sie blickte das heruntergekommene Gebäude vor sich an, „Waisenhaus wie dieses schicken.“

Die Köchin wurde nur noch röter. „Tut mir leid“, hauchte sie. „Wie sieht sie denn aus?“

„Nun, sie ist dreizehn Jahre alt und ihre Augen leuchten hellblau. Ist sie hier?“

Schweigen antwortete auf diese Frage. Alle waren in ihren Bewegungen eingefroren und auch Isa konnte kaum atmen. Wieso war sie hierher gekommen und hatte sich nicht wie üblich irgendwo versteckt? Was wussten diese beiden Menschen über sie?

Die Köchin sah die beiden erschrocken an und fragte atemlos: „Was wollt Ihr von ihr?“ Das war die falsche Frage gewesen.

„Sie ist also hier“, folgerte die reiche Frau. „Den Göttern sei Dank! Wo ist sie?“

Die Köchin schluckte. „Ihr wollt ihr doch nicht wehtun?“

„Nein, niemals!“, wehrte die andere vehement ab. „Aber wir suchen sie schon so lange.“

Isa konnte sich noch immer nicht bewegen. Sie war sich nicht ganz im Klaren darüber, ob sie weglaufen oder hierbleiben sollte. Die Frau schien die Wahrheit zu sprechen: Wer auch immer diese beiden reichen Arianer waren, sie spürte, dass sie ihr kein Leid zufügen wollten.

„Na ja, wenn das so ist …“, hörte sie die Köchin sagen. „Eines unserer Mädchen könnte in der Tat auf Eure Beschreibung zutreffen, Mylady, aber es ist …“

„Ich bin hier“, sagte Isa, all ihren Mut zusammennehmend. Alle Köpfe drehten sich in ihre Richtung, doch das Mädchen kümmerte sich nicht darum. Mit erhobenem Kopf ging es in Richtung der beiden Erwachsenen. Die anderen Kinder wichen schweigend zur Seite. „Mein Name“, sagte es laut und deutlich, „ist Isalia.“

Am selben Abend noch fuhr Isa mit der Frau, die sich ihr als Vega Aleander vorgestellt hatte, und deren Mann, Massimo Aleander, zurück in Richtung Süden. Ihr erstes Ziel war Karpensas, eine große Hafenstadt, von der sie auf die Insel Sentak übersetzen würden, der Heimat der Familie Aleander. Die beiden schienen sich im heruntergekommenen Waisenhaus nicht sonderlich wohlgefühlt zu haben und hatten daher so schnell wie möglich abreisen wollen. In kürzester Zeit und in feinsäuberlicher Handschrift hatten sie ein Dokument unterzeichnet, das Isa zu einem vollwertigen Mitglied der Adelsfamilie gemacht hatte. Nur schon die Adoption eines Kindes in eine ganz gewöhnliche Familie war eine große Ehre. Eine Adoption in eine reiche Adelsfamilie kam dagegen so gut wie niemals vor.

Jedes Kind wäre also glücklich darüber gewesen, doch Isa war vor allem eins: verwirrt. Alles ging irgendwie zu schnell und im Gegensatz zu ihren neuen Eltern, die alles über sie zu wissen schienen, wusste das Mädchen gar nichts.

Dennoch hatte es erstaunlich wenige Bedenken, dass die beiden ihm in irgendeiner Weise feindlich gesinnt sein könnten. Woran das lag, das wusste es nicht.

So begann also die lange Reise von Merlina auf die Insel Sentak und bereits bei der nächsten Straßenbiegung verschwand das Haus, in dem Isa 13 Jahre lang gelebt hatte, und mit ihm ihre ganze Vergangenheit. Isa blickte nach vorne in eine ungewisse Zukunft, an einem unbekannten Ort, mit Leuten, von denen sie nicht mehr wusste als ihre Namen.


Die Amulettmagier

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