Читать книгу Die Amulettmagier - Natascha Honegger - Страница 16
Unterwegs
ОглавлениеSeit zwei Tagen holperte die Kutsche nun schon über das weite Land und Isas ganzer Körper schmerzte von der unbequemen Fahrt. Es gab hier keine großen Dörfer, nur hin und wieder kleinere Ansammlungen weniger Bauernhöfe, bei denen sie ihren Proviant erneuerten oder die Nacht verbrachten. Doch selbst diese wurden immer rarer, je mehr sie sich dem Zentrum Arias näherten.
Auch die Straßen, anfangs noch von guter Qualität, waren mittlerweile nur noch mühsam befahrbar. Immer wieder verzögerten umgefallene Bäume ihr Vorankommen und zwangen sie zu größeren Umwegen oder aber dazu, dass sie die Stämme in kleine Stücke zerlegen und beiseiteschaffen mussten.
Ein verfallener, alter Hof zog am Fenster vorüber. Er war bis auf die Grundmauern niedergebrannt und wirkte verlassen wie auch viele andere Bauten in der Gegend. Sie waren Zeugnisse der blutigen Auseinandersetzungen in der Zeit der Eroberung, als König Salsar mit seiner mordenden und brandschatzenden Armee diesen Weg eingeschlagen hatte. Niemand hatte sich danach jemals die Mühe gemacht, die Höfe wieder aufzubauen, deren Bewohner in den Flammen umgekommen, ermordet worden oder geflohen waren.
Doch mochten auch noch so schlimme Geschichten diesen Teil, wie auch viele andere Orte Arias, überschatten, Isa mochte die wunderschöne Landschaft.
Die Natur war geprägt von grünen, saftigen Hügeln, auf denen sich die Grashalme sanft im Wind wiegten, gespickt mit kleinen Wäldchen und prachtvollen Blumenwiesen, deren Duft durch das offene Fenster der Kutsche hineinwehte.
Die Tage wurden zusehends wärmer und der Himmel erstreckte sich wolkenlos bis zum Horizont. Der Frühling neigte sich seinem Ende zu und der Sommer kündigte sich unmissverständlich an.
Isa seufzte glücklich, als ihre Gedanken dem Verlauf der Jahreszeiten folgten. Nach dem Sommer würde der Herbst wiederkommen, der wunderbare Herbst, den sie am allerliebsten mochte und alljährlich wieder und wieder herbeisehnte. Denn dann, wenn der Wind stärker blies, dann, wenn sich die Blätter verfärbten und die Landschaft in einen Flickenteppich aus Gelb, Orange und Rot getaucht war, dann fühlte sie sich geborgen.
Vega und Massimo redeten auf der ganzen Reise nicht besonders viel. Vielleicht waren sie von schweigsamer Natur, vielleicht hatten sie auch einfach nur Angst, belauscht zu werden. Doch was auch immer es war, das Mädchen war eigentlich ganz froh über die Ruhe. So blieb ihm alle Zeit der Welt, die Flut an Gedanken und Gefühlen zu ordnen, die es einfach nicht loslassen wollten.
Nur zwei Themen, von denen sie wusste, dass die beiden Erwachsenen ihr bestimmt mehr darüber hätten erzählen können, interessierten Isa brennend: die Amulettmagier und das Alaista Karantan. Liebend gerne hätte sie mehr darüber in Erfahrung gebracht, doch Vega und Massimo schwiegen beharrlich und schüttelten nur den Kopf, wenn sie darauf zu sprechen kam.
So war das einzig Nützliche, das sie erfuhr, dass Vega und Massimo einen leiblichen Sohn mit grün leuchtenden Augen und eine Adoptivtochter mit roten Augen hatten.
Das Mädchen, das die leibliche Tochter von Vegas einziger Schwester war, hatten sie bereits kurz nach seiner Geburt bei sich aufgenommen. Es war ein Waisenkind, denn seine Eltern waren bei einem tragischen Vulkanausbruch in der Stadt Neosis ums Leben gekommen.
Über den vierten und letzten Amulettmagier schließlich (hier bestätigte sich Isas Annahme, dass die beiden mehr wussten, als sie preisgeben wollten) konnten sie nicht viel sagen.
Sie wussten nur, dass er ein 13-jähriger Junge mit meeresblauen Augen sein musste. Wo er sich befand, davon hatten sie nicht die geringste Ahnung. Doch sie schienen sich nicht allzu große Sorgen darüber zu machen.
„Wir werden ihn finden, keine Angst“, erklärte Vega zuversichtlich und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Suchen müssen wir ihn nicht, denn es gibt gewisse Hinweise, dass wir ihm schon sehr, sehr bald begegnen werden.“
Am Abend des vierten Tages tauchte eine riesige grüne Wand aus Bäumen vor ihnen auf. Majestätisch und dunkel ragte sie in den Himmel empor wie die unbezwingbare Mauer einer Festung.
„Hier beginnt der Wald der ewigen Dunkelheit“, erklärte Massimo gedämpft und blickte Isa tief in die Augen. „Er ist der größte seiner Art, geheimnisumwittert und voller Gefahren. Wir werden nahe am Waldrand bleiben, auch wenn dies ein Umweg von einigen Tagen bedeutet. Es gibt nämlich keinen Pfad, der hindurchführt, und niemand, der ganz bei Verstand ist, würde jemals auch nur versuchen, diesen verfluchten Ort zu betreten.“ Bedeutungsvolles Schweigen folgte seinen Worten und Isa lief ein kalter Schauer über den Rücken. Auch sie hatte schon von diesem Wald gehört: Im Volksmunde nannten ihn alle einfach nur den Wald der Geister. Niemand, der ihn betrat, kehrte jemals zurück …
Die Kutsche fuhr durch eine schmale Lücke mitten hinein in das grüne Dickicht des größten Waldes von Aria. Sofort kehrte vor den Fenstern des Pferdewagens die Nacht ein, denn obwohl sie nahe am Waldrand fuhren, kam kaum ein Lichtstrahl durch das dichte Blattwerk, und je weiter sie sich ins Innere wagten, desto dunkler wurde es.
Nicht, dass diese Dunkelheit für Isa einen großen Unterschied zum Tageslicht bedeutet hätte, nein, aber nur schon das Wissen, wie wenig Vega, Massimo und jeder andere Mensch hier drinnen sehen konnten, ließ sie frösteln.
Der Wald besaß eine üppige Vegetation: Bäume lagen kreuz und quer, Moose bedeckten den Boden und Farnkraut wucherte, so weit das Auge reichte. Isa war umgeben von lebendigem Grün, durch ihre Nachtsicht in einem leichten Blaustich gezeichnet. Doch nach und nach wurde es noch dunkler und alles, mit Ausnahme der großen Bäume, die das Licht nahmen, wurde karger.
Nach Massimos Ausführungen hatten sie nun den unheimlichsten Teil des Waldes erreicht. Die Feuchtigkeit war hier beinahe unerträglich. Unheimliche Geräusche drangen an Isas Ohren und sie fühlte sich unangenehm beobachtet.
Die Äste der Bäume griffen wie Finger nach der Kutsche und manchmal streiften sie das vergoldete Holz mit einem knirschenden Geräusch, als würden sie diese aufhalten wollen.
Angespanntes Schweigen herrschte in der Kutsche. Mit der Zeit machte Isa das so nervös, dass sie das Amulett aus ihrer Tasche holte, um es zu betrachten und unruhig zwischen den Fingern hin und herzudrehen.
In der Dunkelheit des Waldes leuchtete es in einem faszinierenden Blauton und Isa spürte wieder das Kribbeln und die Wärme auf ihrer Haut. Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit machte sie schließlich ganz schläfrig. Langsam dämmerte sie hinweg, war bereits an der Grenze zwischen Wachen und Schlafen, ehe … Ein starker Ruck ließ die Kutsche erbeben und Isa war wieder hellwach. Alarmiert blickte sie um sich. Die Kutsche war zum Stehen gekommen.
Wieso hielten sie hier, mitten im Wald? Waren sie auf der von Schlaglöchern übersäten Straße stecken geblieben? Fragend blickte sie zu Massimo. Dieser hatte seine Augen zusammengekniffen und spähte besorgt aus dem Fenster.
„Da liegt ein Baumstamm auf der Straße“, raunte er seiner Frau zu. „Sollen wir ihn wegschaffen?“
Doch Vega schüttelte ernst den Kopf und bedeutete ihm, still zu sein. Dann formte sie mit ihren Lippen nur ein einziges Wort: „Räuber.“
Isa wäre vor Schreck beinahe das Herz stehen geblieben. Sie hatte schon schlimme Geschichten über dieses Gesinde gehört, über ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit …
Erneut blickte sie zu ihrem Pflegevater.
Dieser hatte keine Miene verzogen. Er nickte Vega grimmig zu, dann zog er etwas Blitzendes hervor. Isa erkannte entsetzt, dass es ein Dolch war. Seine Frau hatte sich keinen Millimeter bewegt und blinzelte nicht ein einziges Mal. Hoheitsvoll wie immer wartete sie ab. Ihr Gesicht war unergründlich.
Erneut spähte das Mädchen nach draußen. Ihm fiel auf, wie still es plötzlich geworden war. Nichts und niemand bewegte sich. Kein Rascheln war mehr zu hören. Isa wagte kaum, zu atmen.
Dann plötzlich kam Bewegung in den Wald. Männer sprangen laut schreiend von den Bäumen, stürzten aus getarnten Verstecken und umstellten den Wagen innerhalb eines Sekundenbruchteils. Waffen klirrten, als sie gezogen wurden.
„Dies ist ein Überfall! Alles aussteigen! Widerstand ist zwecklos!“, rief ein Mann schließlich mit rauer Stimme.
Isa war sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Wie schon so oft an diesem Tag blickte sie Massimo hilflos an, der gerade sein Messer auf den Platz neben sich gleiten ließ. Mit einem leichten Nicken bedeutete er ihr, dass sie tun sollte, was die Räuber verlangten.
„Es sind zu viele“, raunte er. „Wir steigen aus, aber halte deine Augen gesenkt. Sie glühen wie Sterne in der dunkelsten Nacht.“
Langsam verließen die drei den Wagen, einer nach dem anderen, und stellten sich draußen auf. Der Kutscher stolperte zu ihnen. In seinem Gesicht spiegelte sich die kalte Furcht. Die Situation schien ausweglos.
„Durchsucht den Wagen!“ Ein harscher Befehl des Anführers. Sofort machten sich die Halunken an die Arbeit, während sich der Räuberhauptmann vor seinen Gefangenen aufbaute.
„Was hast du da in den Händen, Mädchen?“, bellte er Isa mit seiner rauen Stimme an und die Angesprochene zuckte vor Schreck zusammen. Sie hatte völlig vergessen, dass ihre eisigen Finger immer noch das Amulett umklammerten!
Was mache ich, wenn er es mir wegnehmen will, überlegte sie sich und achtete darauf, ihre Augen unten zu halten. Das würden diese Männer doch sicher nicht wagen!? Oder doch?
„Mädchen, ich frage dich nur noch ein Mal: Was hast du da in deiner Hand?“ Der Mann war nun vor sie getreten und streckte gierig die Hand nach dem leuchtenden Gegenstand aus.
„Es ist ein Amulett“, knurrte sie widerwillig, dachte jedoch nicht daran, es dem Mann freiwillig auszuhändigen.
„Gib es mir!“
Was sollte sie tun? Am liebsten wäre sie weggerannt, einfach im Wald verschwunden. Denn immer dringender wurde ihr Verlangen, dem Räuber in die Augen zu blicken, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Doch sie hatte keine Ahnung, was dann geschehen würde …
Einige Sekunden rang sie noch mit sich selbst, dann hielt sie es nicht mehr aus. Irgendetwas in ihr zwang sie, den Kopf zu heben und den Mann mit blau flammenden Augen anzusehen. Erschrocken taumelte der einige Schritte zurück. Sein Mund öffnete und schloss sich wieder, ohne dass ein Laut über seine Lippen kam.
„Das Amulett gehört mir“, zischte Isa und verbarg das Schmuckstück hinter ihrem Rücken. „Mir ganz allein!“ Sie spürte, wie die Wut in ihr hochkroch, eine Wut, die sie noch niemals zuvor gefühlt hatte. Wenn der Mann jetzt ein falsches Wort sagte …
„Gib es mir“, forderte der Räuber erneut. Er hatte sich wieder gefasst und trat einen Schritt auf sie zu.
Da verlor Isa die Kontrolle über sich und ihre Magie. Wind kam auf und wurde immer stärker. Der Räuber sagte wieder etwas, doch seine Worte wurden vom Tosen des Sturms verschluckt, der immer mehr an Kraft gewann und alles mit sich riss, was nicht niet- und nagelfest war. Isa war in ihrer eigenen Magie gefangen. Ihre Augen glühten und ihre elementare Gabe pulsierte stärker denn je durch ihren Körper. Kurz flimmerte ein Bild vor ihren Augen auf, zu schnell, um es zu erkennen, und sie sprach ihr unbekannte Worte, schleuderte den Männern ihre Magie entgegen: „Arakuza kanzara!“
Blitze lösten sich von ihrer Hand und reine Energie ergoss sich aus ihren Fingerspitzen. Ein Teil der Männer sackte bewusstlos zusammen. Noch immer toste der Sturm und riss Blattwerk und Äste mit sich. Stämme knirschten unter der unbändigen Kraft der Naturgewalt.
Dann entstand ein Tumult. Die Räuber wollten auf und davon, weg von dem seltsamen Mädchen mit den glühenden Augen.
„NEIN!“ Das war Vega gewesen.
Magie explodierte um Isa herum, fremde Magie und dann war alles still. Der Wind hatte sich gelegt und die Räuber lagen bewusstlos auf dem Boden.
Isa schaute fassungslos zwischen ihren Händen und Vega hin und her. „War ich das? Aber … aber wie habe ich das getan?“, fragte sie und schüttelte verwirrt den Kopf. „Und wieso hast du mir nicht gesagt, dass du auch eine Magierin bist, Vega?“
„Isalia, ich weiß, wie sehnlich du dir eine Erklärung wünschst“, erklärte Vega. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob es schon an der Zeit dafür ist.“
„Ich verursache einen Sturm, den ich nicht kontrollieren kann, aber es ist noch nicht an der Zeit, mir zu erklären, was mit mir geschieht? Das verstehe ich nicht!“
„Du hast natürlich recht. Du musst lernen, deine Magie zu beherrschen“, stimmte ihr Vega zu. „Und das werde ich dir auf unserer Fahrt auch beibringen. Doch mit jeglichen anderen Antworten auf deine Fragen musst du dich noch etwas gedulden. Das verstehst du doch, oder?“
Isa zögerte, doch schließlich nickte sie langsam. „Wenn es unbedingt sein muss“, murrte sie.
„Dann komm jetzt.“ Vega zog das Mädchen sanft zur Kutsche zurück. „Du musst dich ausruhen. Es ist erstaunlich, dass du überhaupt noch auf deinen Füßen stehst, nach der starken Magie, die du angewendet hast.“
Kaum hatte Vega das gesagt, fühlte sich Isa plötzlich so unendlich müde, als hätte sie tagelang nicht geschlafen. Sie ließ sich in die weichen Kissen fallen, die die Kutsche auspolsterten, und dämmerte in einen traumlosen Schlaf hinüber. Am Rande ihres Bewusstseins spürte sie noch, wie sich die Kutsche erneut in Bewegung setzte, dann legte sich die Dunkelheit über ihre Augen.
Auf der restlichen Fahrt nach Karpensas herrschte in der Kutsche meist eisernes Schweigen. Einzig wenn Vega mit ihrem Schützling einige Atemübungen machte, ohne das Thema Magie dabei direkt anzusprechen, erfüllte ihre Stimme den kleinen Raum.
„Beherrschung ist ein zentrales Element. Schließe die Augen und konzentriere dich nur auf deine Atmung.“
So verging die Zeit und langsam veränderte sich auch die Vegetation, die vor den Fenstern vorbeizog. Tannen und Blätterbäume wurden von Pinien abgelöst, die Landschaft wurde karger, bis man das Meer förmlich riechen konnte.
Dann, zwei Wochen nach ihrer Abreise, erreichten sie endlich die große Hafenstadt Karpensas. Natürlich hatte Isa davon gehört, wie sehr Karpensas unter der Herrschaft Salsars litt und dennoch hätte sie niemals gedacht, dass eine so große Stadt so hässlich sein konnte! Die Straßen waren schmutzig und es stank überall nach Unrat, die meisten Häuser waren schon alt und niemand machte sich mehr die Mühe, sie zu pflegen.
Isa blickte um sich und konnte das Elend kaum fassen. Die Menschen hier mussten bettelarm sein. Schaudernd stellte sie sich vor, wie es sein musste, hier aufzuwachsen. Zum Glück war sie in Merlina geboren, oder zumindest gefunden worden.
Das Gasthaus, in dem die drei abstiegen, war das Beste in der ganzen Stadt. Es lag in einem der besseren Viertel, in dem früher reiche Händler und Kaufleute gelebt hatten. Auch hier machte sich der langsame Verfall an den einst protzigen Bauten bemerkbar, doch es war noch lange nicht so schlimm wie in den Vororten.
Das Gebäude, in dem sich ihre Unterkunft befand, konnte man schon von weither sehen. Es war viel prachtvoller als alle anderen Häuser und erst vor Kurzem weiß gestrichen worden. Der Geruch von frischer Farbe lag in der Luft und überlagerte den Gestank der Stadt. Das Haus war ein sehr schönes Bauwerk mit vier Etagen, mehreren Türmen und Erkern und einem winzigen Vorgarten, in dem Blumen in allen Farben blühten.
Isa folgte ihren Adoptiveltern und betrachtete ihre Umgebung voller Faszination. Lächelnd roch sie an den exotischen Blumen im Garten und staunte schließlich über den prunkvollen Eingangsbereich des Gasthofs, den man durch eine polierte Pforte aus Ebenholz betrat.
Alles in diesem ersten Raum war vergoldet und überfüllt mit Reichtum. Wohlhabende Leute saßen oder standen in der Halle und redeten in gedämpftem Ton miteinander. Alles hier wirkte gestellt und unecht und passte nicht recht zur restlichen, verarmten Stadt. Die Gesichter der Menschen waren wie Masken in einem Schauspiel und selbst die lächelnden Lippen der Frauen schienen aufgemalt. Es war, als wäre man in eine andere Welt eingetreten, eine Welt, die man sich nur in seinen Träumen ausmalen konnte. Doch dass Isa sich hier wohlfühlte, das wäre eine Lüge gewesen.
Vega und Massimo waren unterdessen zum Empfangstisch getreten und hatten Isa dazu gebracht, sich auf einen Sessel zu setzen. Diese hörte den Erwachsenen zu, während sie die Menschen im Raum genauestens beobachtete.
Die Empfangsdame, eine zugepuderte, rotlippige Frau, sprach freundlich mit ihren Pflegeeltern, doch dem Mädchen entging der leicht angewiderte Blick nicht, den sie immer wieder in ihre Richtung schweifen ließ.
Und da war sie nicht allein. Auch die anderen Menschen im Raum hatten sich zu Isa herumgedreht und musterten ihre Kleider mit gerümpften Nasen, als wäre sie ein Ungeziefer. Nervös kaute Isa auf ihrer Unterlippe herum und hopste auf dem Stuhl auf und ab. Sie fühlte sich wie ein exotisches Tier hinter Gittern.
„Lady Aleander“, sagte die Empfangsdame zu Vega und deutete dann auf Isa. „So wollen wir das Mädchen nicht auf dem Zimmer haben. Es hat bestimmt Läuse!“
Isa versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. All der Prunk, das Gold und der Samt … Sie gehörte nicht hierher.
Doch Vega ließ sich von den Worten der Frau nicht beeindrucken. Es war erstaunlich, wie sie auf Knopfdruck ihre sonst so liebliche Miene verändern konnte. Sie sah die Empfangsdame herablassend an und kniff wütend die Augen zusammen, dann tippte sie mehrmals mit ihrem Finger auf die Theke, hinter der die andere Frau stand.
„Vielleicht sollte ich ein Wörtchen mit dem Hausherrn sprechen und ihm sagen, wie die Gäste hier behandelt werden? Dieses Mädchen ist für Euch Lady Isalia Aleander. Soll ich Euch vielleicht erläutern, wie Ihr Euch einer Adligen gegenüber zu verhalten habt?“, fragte sie mit fester Stimme und beugte sich zu der Frau vor, die eingeschüchtert den Kopf schüttelte. Da richtete sich Vega wieder gerade auf, schnaubte herablassend und ließ ihren Kopf kurz über alle anderen Anwesenden schweifen, die sich schnell wieder ihren Gesprächspartnern zuwandten. Dann sah sie erneut die Empfangsdame an. „Nun? Habt Ihr noch etwas zu sagen?“
„Nein, nichts Lady“, hauchte sie und händigte ihnen unter vielen Entschuldigungen zwei Schlüssel aus.
„Komm“, sagte Vega freundlich zu Isa, die nur noch von hier fort wollte. „Unsere Zimmer liegen ganz oben. Die Aussicht dort ist wundervoll.“
Dann sah sie Isas Gesicht und ein mitleidvoller Ausdruck trat in ihre Augen. „Oh, Kindchen! Lass dich doch von diesen Leuten nicht erschrecken. Sie sind nichts weiter als reiche Dummköpfe, die den Bezug zur normalen Welt verloren haben.“
Isa lief hochrot an und grummelte: „Ich würde mich von denen doch nicht einschüchtern lassen!“ Sie reckte das Kinn in die Höhe und schnaubte. Immerhin war sie eine Magierin und diese Adligen waren nichts weiter als Marionetten von König Salsar. „Nein“, wiederholte Isa. „So schnell lasse ich mich nicht einschüchtern!“
Ihre Adoptivmutter lachte. „Na bitte! Das ist das starke Mädchen, das wir in Merlina kennengelernt haben! Und trotzdem …“ Sie warf einen Blick auf Isas Kleider. „Die Frau hatte recht: Du brauchst dringend ein Bad und passende Kleider. Aber das kann bis morgen warten.“
Isas Zimmer mit eigenem Balkon lag neben dem der beiden Erwachsenen und war genauso prunkvoll eingerichtet wie der Rest des Hauses. Die Möbel waren aus edlem Holz, vergoldet und mit Samt überzogen, und wie Vega gesagt hatte, war die Aussicht einfach wundervoll: Man konnte sogar bis zum tiefblauen Meer sehen. Glitzernd spiegelten sich die letzten Sonnenstrahlen im Wasser und färbten es rot.
Der Anblick war so schön, dass Isa aus dem Staunen kaum herauskam. Einige Minuten genoss sie noch die Aussicht, dann entdeckte sie das riesige Himmelbett und ihr fiel auf, wie müde sie eigentlich war. Rasch zog sie sich das Nachthemd über, das Vega ihr mitgegeben hatte – ein hellblaues aus feiner Seide – und ließ sich dann auf das Bett fallen. Ihr Kopf versank tief in den weichen Federkissen und sie schlief sofort ein, überwältigt von der anstrengenden Reise.