Читать книгу Die Amulettmagier - Natascha Honegger - Страница 23

Meuterei auf hoher See

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Der darauffolgende Tag versprach, schön zu werden. Das Wetter war schwül und es war ein Glück, dass wenigstens eine leichte Brise aufs offene Meer hinauswehte und etwas Kühlung verschaffte. Bessere Bedingungen hätte es für eine Überfahrt nach Sentak gar nicht geben können.

Isa, Jerino, Vega und Massimo standen im Hafen von Karpensas zwischen einer Menge Kisten und die beiden Erwachsenen sprachen mit einem gut gelaunten bärtigen Mann. Er war der Kapitän des Frachters, der sie nach Sentak bringen würde, und machte auf Isalia einen ehrlichen und freundlichen Eindruck.

Während auf dem Schiff die letzten Vorbereitungen für die Abfahrt getroffen wurden, fragte Jerino Isa, ob er ihr noch ein wenig den Hafen zeigen sollte. Das Mädchen war begeistert von diesem Angebot und ging sofort darauf ein.

Der Hafen war sehr groß und es stank nach altem, vergammeltem Fisch. Doch die Schiffe waren eine Faszination für sich. Isa hatte noch nie zuvor solch mächtige, hölzerne Rümpfe und hohe Masten aus der Nähe gesehen. Sie war beeindruckt.

„Als die Zauberei noch etwas Normales gewesen war, soll es sogar noch viel prächtigere Schiffe gegeben haben“, erklärte Jerino ihr gerade. „Schiffe, die nur schwer zerstört werden konnten und die schneller segelten als der Wind. Aber wenn es heute ein solches Schiff gäbe, würde König Salsar es sofort vernichten lassen, die Besatzung gleich dazu.“

Isa wartete, bis er zu Ende gesprochen hatte. Dann fragte sie: „Wie ist es eigentlich möglich, dass wir Amulettmagier immer noch leben, wenn König Salsar alles Magische zerstören will?“

Jerino überlegte einige Minuten. „Na ja, ich denke, bei dir liegt der Grund darin, dass du aus Merlina kommst. Diese Stadt ist viel zu abgelegen, als dass sie den Tyrannen interessieren würde. Vermutlich hat er an diesem Ort keine Amulettmagierin vermutet. Ich jedenfalls hätte das nicht. Dann bei mir … Wie du weißt, hätten sie mich damals, als ich vier war, beinahe geschnappt. Danach wurde ich niemals richtig beachtet, und als ich mich schließlich den Dieben anschloss, lernte ich sehr schnell, wie man sich unauffällig bewegt und rasch untertauchen kann.

Wieso Valeria und Alessandro noch leben, weiß ich nicht, aber ich denke mal, dass Vega und Massimo dafür gesorgt haben, dass sie niemandem auffallen.“

„Ja, so muss es sein.“ Isa dachte an Vegas Augentropfen und nickte. „Oh, sieh mal! Ich glaube, Vega sucht nach uns.“ Isa nickte mit dem Kopf in Richtung der schwarzhaarigen Frau, die auf sie zugeeilt kam und ihnen aufgeregt zuwinkte.

„Ja, scheint so. Sonst würde sie kaum so herumfuchteln, was?“ Jerino lachte fröhlich und Isa stimmte mit ein.

„Da seid ihr ja! Das Schiff legt schon bald ab“, rief Vega ihnen bereits von Weitem zu und stieß keuchend zu ihnen. „Beeilung!“

Die Veranza, wie der Frachter hieß, mit dem sie nach Sentak übersetzen sollten, gehörte zu den mittelgroßen Schiffen, die im Hafen vor Anker lagen. Sie sollte eine Ladung edler Teppiche zur Insel bringen, die dort an reiche Kunden und andere Händler weiterverkauft werden würde.

Es gab nur drei Kabinen an Bord. In der einen schliefen Isa und Vega, die zweite teilten sich Massimo und Jerino und die dritte bewohnte der Kapitän. Die Crew schlief in Hängematten im Frachtraum.

Isa verbrachte die meiste Zeit der Reise auf dem großen Deck des Schiffs. Der Fahrtwind und die kühle Seeluft taten ihr gut. Anfangs war ihr vom ständigen Auf und Ab des Schiffes ziemlich übel geworden, doch hier an der frischen Luft war es erträglich. Glücklicherweise war sie dadurch auch nicht richtig seekrank geworden. Ganz im Gegensatz zu Vega. Diese hatte eine ungesunde grünliche Farbe angenommen und musste sich immer wieder übergeben. Den ganzen Tag lang lag sie in der Kabine und der Geruch darin zwang Isa dazu, fast die ganze Nacht an Deck zu verbringen.

Doch das war nicht das Schlimmste auf diesem Schiff. Die Mannschaft des Frachters war schlimmer. Mit Ausnahme des Kapitäns waren sie alle etwas merkwürdig und Isa fürchtete sich vor ihnen. Mit den Tätowierungen auf ihren muskelbepackten Armen (was bei Seeleuten nichts Ungewöhnliches war) hatte das nichts zu tun. Nein, es waren ihre Gesichter, die Isa einschüchterten: Sie waren grimmig und verschlossen und lachten niemals. Es fühlte sich an, als würden sie etwas planen. Gefahr lag in der Luft und umhüllte das Schiff wie eine Wolke. Doch Isa erzählte niemandem davon. Die anderen würden sie bestimmt für verrückt erklären.

Den größten Teil der Reise verbrachte Jerino mit ihr an Deck und so lernten sich die beiden immer besser kennen. Doch manchmal konnte sie den Jungen nirgendwo finden, weder in seiner Kabine noch an Deck.

„Was um alles in der Welt treibt er in dieser Zeit?“, fragte sich Isa, als er wieder einmal spurlos verschwunden war. Versuchte er, etwas vor ihr zu verheimlichen?

Am zweiten Tag der Überfahrt beschloss sie, ihn zur Rede zu stellen. Draußen tobte ein Unwetter und die Wellen schlugen meterhoch gegen das Schiff. Wegen der Gefahr, über Bord gespült zu werden, konnten sie also nicht an Deck und so zogen sie sich in Jerinos Zimmer zurück. Isa war übel von dem Geschaukel, aber das wollte sie dem Jungen keinesfalls zeigen. Solange sie nicht in ihre eigene Kabine musste, in der immer noch Vega mit ihrer Seekrankheit lag und es grauenhaft nach Übergebenem roch, würde sich der Inhalt ihres Magens nicht nach außen kehren. Andernfalls schon.

„Was treibst du eigentlich in der Zeit, in der du weder auf Deck noch in deiner Kabine bist?“, fragte sie ihn, um auf andere Gedanken zu kommen.

Jerino war nicht auf diese Frage gefasst gewesen und blickte sie erschrocken an.

„Das ist dir aufgefallen?“ Er runzelte die Stirn.

„Das Schiff ist nicht besonders groß. Da fällt es schon auf, wenn du einfach verschwindest.“

Er schien fieberhaft darüber nachzudenken, ob er ihr die Wahrheit sagen sollte.

„Warte kurz“, sagte er schließlich, stand auf, öffnete die Tür und spähte in den Gang hinaus. Niemand war zu sehen. Er schloss die Tür wieder und begann, in leisem Ton zu sprechen.

„Eigentlich hast du ein gutes Recht zu erfahren, was los ist. Schließlich sitzt du hier genauso in der Klemme wie wir alle, aber Massimo wollte nicht, dass ich mit dir darüber spreche. Er wollte dich nicht beunruhigen.“

„Beunruhigen? Beunruhigen!?“, begehrte Isa auf. Ihre Augen funkelten. „Also bitte! Ich bin vielleicht ein Mädchen, aber so schnell lasse ich mich nicht beunruhigen!“

Jerino lachte. „Das habe ich mir schon gedacht.“ Dann wurde er wieder ernst. „Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt. Dieses Schiff war mir von Anfang an nicht geheuer, du weißt ja, wie die Matrosen sind, und jetzt hoffe ich nur, dass wir schnell genug das Festland erreichen, bevor …“

Isa zählte eins und eins zusammen und vermutete plötzlich, worauf er hinauswollte. „Eine Meuterei?“

Er blickte sie erstaunt an. „Ja. Die Matrosen planen eine Meuterei. Woher wusstest du das?“

„Dein Gesicht spricht Bände“, erläuterte sie und fragte dann etwas beleidigt: „Wer weiß alles davon?“

„Nur Massimo und der Kapitän. Vega kann man ja nicht ansprechen, ohne dass sie sich übergibt.“

„Ach, und ich gehöre wahrscheinlich auch zu den Kranken? Man lässt mich einfach im Dunkeln tappen, weil ich vielleicht in Ohnmacht fallen könnte, wenn ich höre, dass wir mit einer Gruppe Banditen auf einem kleinen Schiff festsitzen! Ja, verdammt noch mal!“, rief das Mädchen wütend. Isa hasste es, über etwas nicht informiert zu sein. „Wenn sie mir dann eines Nachts die Kehle durchgeschnitten hätten, dann wäre das vermutlich viel besser gewesen, ja!?“

„Pscht! Nicht so laut! Wenn die uns hören, sind wir so gut wie tot! Ich gebe es ja zu, es war ein Fehler, dir nichts zu sagen.“

„Ja. Das war wirklich, wirklich dumm!“

Isa stürmte an Deck. Es war ihr egal, ob das klug war oder nicht, ob das Meer sie wegspülen würde oder nicht. Sie brauchte frische Luft, um nachzudenken und ihre Übelkeit zu bekämpfen. Sie schlug mit einem lauten Knall die Tür auf und wäre beinahe auf dem nassen Deck ausgerutscht. Im letzten Moment konnte sie sich an einer Stange festhalten und wieder auf die Beine ziehen.

Isa warf wütend ihre Magie gegen das Unwetter und zu ihrem Erstaunen begann sich der Himmel zu lichten. Der Sturm ließ nach und es nieselte nur noch leicht. Sie ging zur Reling und blickte auf die Wellen hinaus. Sie waren nun nicht mehr die tobenden Monster von vorher, aber immer noch groß genug.

„Eine Meuterei … Oh weh!“, dachte sie.

Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich. Sie drehte sich um, ganz in der Erwartung, Jerino hinter sich zu sehen. Doch stattdessen stand dort einer der Matrosen mit einem Messer in der Hand und kam langsam auf sie zu.

„Was zum Teufel …“ Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, verlor prompt das Gleichgewicht, versuchte sich am glitschigen Geländer festzuhalten und stürzte dann kopfüber ins tiefblaue Wasser des Meeres.

Der Wind zischte an ihr vorbei, als sie fiel, dann schlug das Wasser über ihr zusammen. Ihre schweren Gewänder sogen sich mit Wasser voll und zogen sie rasch in die Tiefe. Isa bekam Panik.

„Oh nein! Ich kann doch gar nicht schwimmen“, schrie eine Stimme in ihr. Sie spürte, wie sie tiefer sank. Vor Schreck war sie wie gelähmt. Ihre Lungen begannen, sich langsam zusammenzuziehen.

Luft! Sie brauchte Luft! Endlich löste sie sich aus ihrer Erstarrung. Panisch begann sie, mit den Füßen zu strampeln und Wasser zu treten. Doch ihre Kleider waren viel zu schwer. Verzweifelt versuchte sie, sie abzustreifen, doch die eng gebundenen Schnüre hielten ihre Röcke zusammen.

Luft! Sie sah alles nur noch verschwommen, ihr Kopf drohte zu explodieren. Hilfe suchend berührte sie ihr Amulett, das sie mittlerweile an einer Kette um ihren Hals trug. Da ging ein Ruck durch ihren Körper und plötzlich sank sie nicht mehr. Stattdessen begann sie, nach oben zu treiben.

„Nicht schnell genug“, schoss es ihr durch den Kopf. Das Amulett zog sie weiter nach oben. Schneller. Voller Angst klammerte sie sich daran fest. Ihre Finger drohten nachzulassen …

Dann, endlich, durchstieß sie mit dem Kopf die Wasseroberfläche und rang gierig nach Luft. Das Salzwasser brannte in ihren Augen, doch sie hielt sie offen und suchte das Meer nach der Veranza ab. Als sie erkannte, dass das Schiff bereits ziemlich weit entfernt war, packte sie erneut die Verzweiflung. Tränen traten in ihre Augen und wuschen das Salz heraus.

„Hilfe! Ich kann nicht schwimmen! Hilfe! Hört mich denn niemand?“, brüllte sie, so laut sie konnte.

Doch niemand schien ihre Rufe zu hören. Isa spürte, wie der Zauber ihres Amuletts langsam schwächer wurde. Das Kleid zog sie immer noch nach unten und sie würde nicht die Kraft haben, sich alleine oben zu halten.

„Hilfe!“, schrie sie erneut, schluckte Salzwasser und begann zu husten. „Verdammt! So helft mir doch endlich.“ Doch niemand beachtete sie, kein Mensch war an Deck zu sehen. Noch mehr Tränen liefen über ihre Wangen. „Ich will noch nicht sterben!“, kreischte sie.

„Jerino! Hilf mir, ich kann nicht schwimmen!“

Die letzten Worte rief sie in Gedanken, doch sie spürte, dass irgendetwas anders war als sonst. Es war, als hätte jemand eine Art Hebel umgelegt. Und sie spürte die gedankliche Aura eines anderen in ihrer Nähe. Jerino!

Und er antwortete ihr. In Gedanken! In ihrem Unterbewusstsein erschrak sie darüber, aber eigentlich war sie einfach nur froh, seine Stimme zu hören. Doch die Antwort war sehr schwach. Er schien weit entfernt zu sein, so, als befände er sich kurz vor einer Ohnmacht:

„Isa? Bist du das? Ich kann dir nicht helfen. Isa, die Meuterei, sie hat begonnen, sie haben mir das Amulett abgenommen. Wir sind eingesperrt!“

Verzweiflung schlug über ihr zusammen. Es war vorbei. Sie musste nicht mehr kämpfen. Sie würde sterben!

„Isa, gib nicht auf! Denk an dein Amulett, es kann dir helfen! Benutze es!“

Jerinos Stimme holte sie aus dem dunklen Loch der Hoffnungslosigkeit zurück. Sie wollte ihm gerade etwas antworten, als die Verbindung abbrach. Er war fort, doch Isa war fest entschlossen, nicht zu sterben.

Sie konzentrierte sich stärker denn je auf ihr Amulett. Jerino hatte ihr Mut gemacht. Sie würde den Meuterern zeigen, dass es gefährlich war, sich mit ihr einzulassen. Schließlich war sie eine Magierin, eine Amulettmagierin noch dazu.

Isa suchte die Quelle ihrer Magie, diesen Strom aus Energie, der durch ihren Körper floss, dann stellte sie sich vor, der Wind trüge sie zum Schiff zurück. Kurz flackerte ein Bild vor ihr auf und die Worte kamen ihr ohne Mühe über die Lippen, Worte, die sie nicht verstand, Worte, die die Kraft hatten, Magie freizusetzen:

„Santendra Equantir!“

Isas Körper begann aufzusteigen, kam aus dem Wasser und schwebte leicht wie eine Feder in der Luft. „Oh!“ Isa blickte fassungslos auf ihren schwerelosen Körper hinab und konnte kaum glauben, was sie da sah. Sie konnte fliegen!

Das teure Kleid flatterte um ihre Beine, als sie höher und höher stieg. Der Wind trug sie mit sich, nahm sie hinfort, und erst als sie über dem Schiff schwebte, stieß sie mit einem lauten Schrei von oben herab. Sie sah ein erschrockenes Gesicht, das zu ihr hochblickte, dann gab der Mann einen lauten Warnschrei ab.

„Mist“, knurrte Isa wütend und ließ sich kurz vor dem Schiff erneut in die Luft tragen. Ihre Augen begannen, vor Wut zu glühen und sie spürte, dass der Zorn die Kontrolle über ihren Körper gewonnen hatte. Alle Atemübungen wären jetzt vergeblich gewesen.

Einige Männer stürzten an Deck, um nachzusehen, was ihren Kumpanen so erschreckt hatte. In diesem Moment stieß Isa erneut auf das Schiff hinab. Warnschreie ertönten und Messer kamen geflogen. Doch Isa verzog keine Miene. Sie wich den scharfen Klingen aus, zischte einige Worte und plötzlich drehte sich ein kleiner Wirbelsturm auf dem Deck. Schon sprangen die ersten Männer schreiend über Bord, doch Isas Aufmerksamkeit galt mittlerweile nur noch einem einzigen Meuterer. Er sah genauso skrupellos aus wie alle anderen, doch Isas feines Gespür sagte ihr, dass er es war, der Jerinos Amulett trug. Sie konnte die Magie spüren, die wie Hitzewellen von ihm ausstrahlte.

Isa raste wie ein böser Geist auf diesen einen Matrosen zu. In letzter Sekunde konnte sie der Klinge ausweichen, die plötzlich in seiner Hand erschienen war, dann riss sie ihn auch schon zu Boden. Geschickt entwand sie sein Messer.

„Wo ist das Amulett? Gib es mir“, schrie sie ihn wütend an und presste das kalte Metall an seinen Hals. Ihre Augen funkelten so hell, wie die Sterne in tiefdunkler Nacht.

„Tu mir nichts!“, stotterte er und Schweiß rann über seine Stirn.

„Gib mir das Amulett! Sofort!“

Zwei Männer näherten sich ihr von der Seite und zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Isa kniff zornig die Augen zusammen, als sie ihre Absicht erkannte.

„Nein, das werdet ihr nicht tun!“ Mit gewaltiger Kraft schleuderte sie ihre Magie gegen die Meuterer und fegte die beiden mühelos über Bord. Währenddessen hatte der Mann, den sie noch immer nach unten drückte, versucht, ihr Amulett zu stehlen. Doch er hatte sie unterschätzt. Sie schlug ihm die Faust ins Gesicht und sein Kopf prallte hart auf dem Boden auf.

„Gib mir SOFORT das Amulett!“ Der Mann schwieg. Nun, wenn er es ihr nicht freiwillig geben wollte, musste sie es sich einfach selbst nehmen.

„Sarza erilon!“

Der Mann zuckte zusammen in der Erwartung, der Zauber hätte ihm gegolten. Erst dann bemerkte er, dass das Mädchen bereits wieder in der Luft schwebte. In einer Hand hielt es das Amulett des Jungen, die andere hatte es ausgestreckt. Seine Röcke wirbelten im Wind und seine Haare vollführten wie Schlangen einen Tanz um sein Gesicht. Der Matrose erzitterte beinahe vor Ehrfurcht. Das Mädchen sah aus wie eine wütende Göttin. Dann erfasste ihn ein starker Windstoß.

Als sie Jerinos Amulett in Händen hielt, schwebte Isa bereits wieder über dem Schiff. Der Mann, der es gestohlen hatte, blickte zu ihr hoch und sie glaubte, so etwas wie Ehrfurcht in seinem Blick zu lesen. Doch das war ihr egal! Mit einem wütenden Aufschrei und den passenden magischen Worten fegte sie ihn und alle übrig gebliebenen Matrosen über die Reling ins Meer. Dann ließ sie sich auf das Deck zurücksinken und versuchte vergeblich, ihr rasendes Herz zu beruhigen.

„Jerino, kannst du mich hören?“

„Isa?“

Seine Stimme erklang in ihrem Kopf. Glaubte sie das nur, oder hörte sie sich bereits etwas kräftiger an?

„Wie viele Matrosen sind bei euch?“

„Ich weiß nicht genau. Aber gegen unsere Magie haben sie keine Chance.“

Er hielt inne.

„Was ist passiert? Hast du diesen Lärm veranstaltet? Es hat sich angehört, als würde das ganze Schiff in Stücke gerissen werden!“

Seine Stimme klang amüsiert.

„Ich habe nur ein wenig aufgeräumt.“

Isa lächelte. „Ein wenig“ war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber egal.

„Hast du mein Amulett? Meine Kräfte erneuern sich so schnell, als würde ich es selbst bei mir tragen.“

„Natürlich.“

Isa drehte das warme Gold nachdenklich zwischen ihren Fingern.

„Wo genau seid ihr? Dann kann ich euch helfen.“

„Nicht nötig. Ich denke, ich schaffe das auch allein. Warte eine Minute, dann sind wir bei dir.“

„Verstanden.“

Isa nickte versonnen.

„Ihr findet mich auf Deck, und wenn du willst, kannst du die Meuterer hochschicken. Ich jage sie dann über die Reling zu ihren Freunden.“

Mit einem Blick auf das Wasser hinaus fügte sie hinzu:

„Sie haben sogar ein Boot dort draußen.“

Es musste sich gelöst haben, als ihr Wirbelsturm über das Deck gefegt war.

„Einverstanden. Ich schicke sie dir.“

Sie spürte, dass er lächelte.

Isa musste nicht lange warten. Schon kurze Zeit später hörte sie schnelle Schritte und ein einzelner Matrose rannte schreiend durch die Tür. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck blanken Entsetzens, und als er das Mädchen erblickte, stürzte er sich gleich freiwillig über die Reling ins Meer. Isa folgte ihm mit den Augen und runzelte die Stirn.

„Feigling“, murmelte sie. „Spielverderber.“

Kurz darauf vernahm sie weitere Schritte hinter sich, und als sie sich umdrehte, sah sie Massimo, Jerino und den Kapitän auf sich zukommen. Jerino hatte eine Platzwunde am Kopf, Massimo trug einen blutgetränkten Verband um die Schulter und auch der Kapitän blutete aus zahlreichen kleineren Schnittwunden an Armen, Beinen und im Gesicht. Hatte es hier an Bord einen Kampf gegeben?

„Was ist passiert?“, fragte Isa erschrocken und blickte entsetzt auf das viele Blut. „Und wo ist Vega? Geht es ihr gut?“

Massimo lächelte schwach. „Sie ist seekrank wie immer, aber sonst geht es ihr gut.“ Der Mann schwankte etwas und stöhnte leise. „Ich muss mich hinsetzen.“ Erst jetzt sah Isa, wie blass er war.

„Er hat viel Blut verloren“, meinte Jerino vorsichtig. „Wir sollten die Wunde versorgen, ehe es noch schlimmer wird.“

Der Kapitän räusperte sich. „Ich muss zurück ans Steuer. Meine gute Veranza fährt schließlich nicht ohne jemanden, der sie führt.“

„Was ist mit den Verletzungen?“, fragte Isa besorgt, doch der Kapitän lachte sein dröhnendes Lachen.

„Meine Liebe, ich hatte schon wesentlich schlimmere Verletzungen als diese hier. Das sind nur kleine Kratzer, kein Grund zur Panik.“

Isa und Jerino brachten Massimo in den Speiseraum, den einzigen Ort, wo es eine Kiste mit Verbandszeug gab. Sie setzten den Mann auf einen der Stühle, wo er hoffnungslos in sich zusammensank.

„Also, was um alles in der Welt ist hier passiert?“, fragte Isa und blickte Jerino eindringlich an.

„Ich wollte dir folgen, weil du wütend warst, dass ich dir nichts von der Meuterei gesagt habe. Ich wollte dich beruhigen, doch ich hatte noch nicht einmal das Deck erreicht, als mich plötzlich jemand von hinten packte. Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen und dann wurde alles schwarz. Als du um Hilfe gerufen hast, bin ich gerade erst zu mir gekommen und habe bemerkt, dass mein Amulett verschwunden war und wir in eurer Kabine eingeschlossen waren.“

„Ich war zu der Zeit gerade beim Kapitän, weil mich die hohen Wellen, die der Sturm warf, faszinierten“, ergänzte Massimo mit leiser Stimme. „Dann sahen wir, wie du an Deck gerannt bist, Isalia. Der Sturm hat sich gelegt und du bist zur Reling gelaufen, ohne zu bemerken, dass dir ein Schatten folgte. Als du ihn dann doch entdeckt hast, bist du nach hinten getaumelt und ins Meer gestürzt. Wir wollten dir zu Hilfe eilen, doch da schnitten uns einige der Meuterer den Weg ab. Wir sind zurück ins gläserne Steuerhäuschen geflohen und haben uns dort eingeschlossen. Danach haben sie die Scheiben zertrümmert, uns mit Messern bedroht und eingesperrt.“

„Sind eure Verletzungen …?”

„Nicht nur wegen des zersplitterten Glases, wenn du das meinst …“ Mehr schien Massimo dazu nicht sagen zu wollen.

Isa nickte. „Sie haben euch also eingesperrt und niemand von euch konnte Magie anwenden. Jerino haben sie überrumpelt und Vega ist auch nicht in bester Verfassung.“

Jerino seufzte. „Ganz genau.“

Eine Weile später gingen Isa und Jerino schließlich an Deck. Das Mädchen hatte Massimos und Jerinos Wunden so gut wie möglich gesäubert und mit frischem Verbandszeug bandagiert. Nun konnte es nur noch hoffen, dass sich die Verletzungen nicht entzündeten.

Als die beiden Kinder an Deck standen, gab Isa Jerino sein Eigentum zurück. „Dein Amulett“, sagte sie und reichte es ihm mit einem freudigen Lächeln.

„Danke.“ Er hängte es sich um den Hals und strich liebevoll über die verzierte Oberfläche. Sein Haar flatterte im Wind und eine Welle brach sich am Bug, sodass sie mit feinen Wassertröpfchen überschüttet wurden.

Lächelnd beugte sich Isa über die Reling und beobachtete das aufgewühlte Meer.

„Wir können also in Gedanken miteinander sprechen“, stellte sie leise fest. „Ist das zu glauben?“

Jerino schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich“, gestand er und dachte an die aufregenden letzten Tage zurück. „Aber langsam wundere ich mich über gar nichts mehr.“


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