Читать книгу Die Amulettmagier - Natascha Honegger - Страница 20
Eine unfaire Verhandlung
Оглавление„Ein Dieb? Der letzte Amulettmagier soll ein Dieb sein? Isalia, mein liebes Kind, du hast dich bestimmt geirrt!“ Vega schritt im Zimmer auf und ab und auch Massimo machte ein Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen.
Isa seufzte. So ging das schon, seit sie diesen Raum betreten hatte.
„Ein Amulettmagier muss zuverlässig sein, stark, selbstbewusst …“, fuhr Vega eifrig fort und fuchtelte wild mit den Armen durch die Luft, ehe sie diese ruckartig sinken ließ und hektisch den Kopf schüttelte. „Aber doch kein … Krimineller!“
Isa verdrehte die Augen. „Kriminell oder nicht. Ich war auch nur ein Waisenkind.“
„Ein Waisenkind, ja“, begehrte Vega auf. „Aber du warst und bist ein anständiges Mädchen. Außerdem besitzt du für ein Waisenkind außerordentlich viele Fähigkeiten, kannst lesen und schreiben …“
Isa schwieg. „Wenn sie wüsste, wer mir das alles beigebracht hat“, dachte sie und sagte dann laut: „Na und?“
„Na und, na und?“ Vega verdrehte die Augen. „Eine Amulettmagierin oder ein Amulettmagier zu sein, bedeutet, Verantwortung zu tragen! Ich bezweifle, dass ein Dieb … Er kann kein Amulettmagier sein!“
Isa stampfte mit ihrem Fuß auf den Boden. „Ist er aber doch! Ich konnte es fühlen! Und seine Augen leuchten auch.“
„Vielleicht hat sie recht, Vega“, meinte Massimo mit ruhiger Stimme. „Ich glaube nicht, dass sie sich täuscht.“
Vega hatte aufgehört, im Zimmer auf und ab zu gehen, und machte nun ein nachdenkliches Gesicht. Einige schweigsame Minuten vergingen, dann setzte sie sich auf einen der Sessel. „Wo ist er jetzt?“, fragte sie Isa ernst.
„Im Gefängnis beim Osttor.“
Das Mädchen sah, wie eine ihrer Augenbrauen leicht nach oben zuckte.
„Ist heute nicht Gerichtstag?“
Isa nickte. „Ja. Heute Abend.“
Vega schien nachzudenken. Mit ihrem Zeigefinger tippte sie unruhig auf die Polsterung des Sessels. „Wenn du recht hast …“
„Ich habe mich bestimmt nicht geirrt“, murrte Isa, doch Vega brachte sie mit einem scharfen Blick zum Schweigen.
„Wenn du recht hast“, fuhr sie fort, indem sie die Worte stark betonte, „dann ist der Junge tatsächlich in ernsthaften Schwierigkeiten.“
„Das heißt, wir werden heute Abend zum Osttor gehen?“ Isa blinzelte die beiden Erwachsenen flehend an.
Vega warf erst einen Blick zu Massimo, dann seufzte sie und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Ja, ich denke, wir sollten ihn uns wenigstens einmal ansehen.“
Der Nachmittag verging nur schleichend. Jede Minute erschien Isa wie eine Ewigkeit, während sie gelangweilt dem Lärm lauschte, der von der Straße bis in ihr Zimmer drang: Kindergeschrei, das Klappern von Hufen und die fernen Rufe der Händler, die ihre Ware feilboten.
Nach ihrem Gespräch mit den beiden Erwachsenen hatte Vega ihr ein sauberes Kleid und einen schwarzen Schleier in die Hand gedrückt. Letzteren würde sie heute Nacht tragen, um ihre leuchtenden Augen vor neugierigen Blicken zu verbergen.
Als Isa so gedankenverloren in ihrem Zimmer saß und ihren Tagträumen nachhing, fiel ihr Blick durch eines der Fenster auf das gegenüberliegende Gebäude. Es war aus roten Backsteinen und schien mehrere kleine Wohnungen zu beherbergen. Ganz plötzlich sah sie hinter einem der Fenster etwas aufblitzen und glaubte, eine Bewegung wahrzunehmen. Darauf aufmerksam geworden, versuchte sie, mehr zu erkennen, doch das Glas spiegelte das Licht der abendlichen Sonne und blendete sie.
Vorsichtig rutschte das Mädchen auf seinem Bett ans Fußende, bis es ihn endlich sehen konnte: Der Beobachter war ein Mann, um die vierzig Sommer, mit schwarzem Vollbart, dunklem Haar und einem vernarbten Gesicht. Er hielt ein Fernglas in den Händen, das bei jeder Bewegung in der Sonne blitzte, und starrte unverwandt auf einen Raum, der rechts neben ihrem lag.
„Das Zimmer von Vega und Massimo“, erkannte Isa erschrocken. Vorsichtig erhob sie sich, schlich zur Tür und rannte zu den Aleanders hinüber.
Diese waren nicht sonderlich erstaunt, als Isa ihnen vom Mann hinter dem Fenster erzählte. Ganz nebenbei zog Vega die Gardinen vor die Fenster, so, dass dem Beobachter die Sicht auf die drei verwehrt blieb.
„Wir wissen längst, dass wir bespitzelt werden“, erklärte Vega in gedämpftem Ton. „Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen.“
Massimo nickte. „König Salsar lässt uns überwachen, weil wir des Umgangs mit Magie verdächtigt werden.“
Er schaute seine Frau mit einem schwachen Lächeln an. „Bisher konnte man uns jedoch nichts nachweisen.“
„Haben sie mich auch bespitzelt, als ich zum Markt ging?“, fragte Isa entsetzt. „Wissen sie von dem Dieb?“
Vega schüttelte den Kopf. „Bis gerade eben wusste der Spitzel dort drüben noch nicht einmal, dass du zu uns gehörst. Du musst wissen, er folgt uns, seit wir von Sentak aufgebrochen sind, um dich zu suchen. Aber dann haben wir ihn auf unserer Reise nach Merlina abgehängt. Er hat uns erst heute Nachmittag wieder gefunden. Und da warst du schon zurück in deinem Zimmer.“
„Oh! Das wusste ich nicht. Ist es schlimm, dass er jetzt weiß, dass ich zu euch gehöre?“ Isa kaute auf ihrer Unterlippe. Wusste er von ihren leuchtenden Augen? War die Familie Aleander jetzt in Gefahr?
Doch Massimo nahm ihr sogleich die Angst. „Ganz ruhig“, sagte er und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Er weiß gar nichts über dich, weder wer du bist noch dass du irgendetwas mit Magie zu tun hast. Für ihn bist du nur ein vollkommen normales, reiches Mädchen. Noch sind wir sicher.“
„Und meine Augen? Hat er nicht vielleicht gesehen, dass sie leuchten?“
Der Mann lächelte. „Kaum. Vega hat in dieser Hinsicht einige … Vorkehrungen getroffen.“
„Was ist mit heute Abend? Werden wir den Spitzel nicht auf direktem Weg zum vierten Amulettmagier führen?“
„Vermutlich würden wir das tun“, gab Massimo ihr recht. „Aber ich denke, er wird uns wohl in einer kleinen Gasse aus den Augen verlieren, nicht wahr, Vega?“ Er warf seiner Frau einen verschwörerischen Blick zu.
„Natürlich wird er das“, antwortete die Angesprochene lächelnd und erwiderte seinen Blick. „Nichts leichter als das.“
„Wirklich?“ Isa blieb der Mund offen stehen. „Und wie wollt ihr das anstellen?
„Du wirst schon sehen.“ Ein wissendes Lächeln stahl sich auf Vegas Gesicht und ihre Augen leuchteten amüsiert. „Du wirst schon sehen …“
Einige Zeit herrschte Stille im Raum und alle hingen ihren eigenen Gedanken nach. Von draußen drang das Geschrei von spielenden Kindern und das Kreischen aufgescheuchter Möwen an Isas Ohr.
„Wieso hat König Salsar euch eigentlich nicht einfach töten lassen, wenn er euch sowieso der Magie bezichtigt?“
Vega zögerte etwas. „Versteh das nicht falsch, meine Liebe, aber wir sind keine gewöhnliche Familie. Wenn irgendjemand aus dem Volk hingerichtet wird, so ist das … bedauerlich, aber es sind Leute ohne Einfluss, die gegen die herrschende Willkür nicht ankommen können. Aber wir, wir sind von hohem Adel. Massimos Familie ist eines der ältesten Geschlechter des Landes und genießt hohes Ansehen und Einfluss in der gesamten Oberschicht. Und die haben alle ihre treuen Gefolgsleute. Salsar weiß, dass er mit unserem Tod eine Kettenreaktion auslösen könnte und das ist ihm schlicht und ergreifend zu mühsam. Kurz und gut: Solange wir uns unauffällig verhalten und uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern, lässt er uns in Ruhe.“
„Aber ich dachte immer, er kann Magie spüren?“
„Das ist schon richtig, aber sie muss in seiner Nähe oder in seinem Einflussbereich – dem Dentratan-Gebirge – benutzt werden“, meinte Vega und fügte spöttisch hinzu: „Und er hat sich bisher noch nie dazu herabgelassen, uns zu besuchen.“
Die Nacht lag bereits wie ein schwarzes Tuch über der Stadt, als sich die kleine Gruppe auf den Weg in Richtung Osttor machte. Laternen erhellten die größeren Straßen, die Gassen lagen in vollkommener Dunkelheit. Isa wusste nicht, wann genau sie den Spitzel abgehängt hatten, aber seine Präsenz war so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war. Sie blickte zu Vega, doch auf deren Gesicht lag nur ein undeutbares Lächeln.
Einige Zeit und unzählige Straßen weiter, erreichten sie schließlich das Gerichtsgebäude von Karpensas. Es lag in einem Teil der Stadt, der leer und heruntergekommen war. Ratten beobachteten sie mit funkelnden Augen aus tiefdunklen Löchern und am Straßenende erhob sich das östliche Stadttor bedrohlich gegen den Himmel. Schon seit Jahren hatte es niemand mehr geöffnet und Isa bezweifelte, dass es sich mittlerweile überhaupt noch öffnen lassen würde. Dicke Bolzen und schwere Ketten verriegelten es und trennten die Menschen aus dem ärmsten und zugleich gefährlichsten Vorort der Stadt von der restlichen Bevölkerung. Isa ließ sich vom geschlossenen Tor jedoch keineswegs täuschen. Sie war sich sicher, dass die Mauern bereits von den Dieben untertunnelt worden waren, die sich auf diesem Weg trotz allem Zugang zur Stadt verschaffen konnten.
Sie hatte schon einiges von diesen unterirdischen Gängen gehört, die die größeren Diebesbanden für sich anlegten und oftmals ein riesiges Netzwerk bildeten. „Diebesstraßen“ wurden sie genannt, obwohl sie meist kaum breiter waren, als zwei, höchstens drei Fuß.
Ardan, ein ehemaliger Dieb, der sich in Merlina als ehrenhafter Altwarenhändler niedergelassen hatte, hatte ihr dies und vieles mehr über das Leben in der Stadt erzählt. Für sie war er stets der Vater gewesen, den sie niemals gekannt hatte: stark, mutig und klug. Er war es auch gewesen, der der wissbegierigen Isa das Schreiben, Lesen sowie die Sprache der Diebe beigebracht hatte.
Sein Tod vor drei Jahren war ein tragischer Schicksalsschlag für sie gewesen, den sie niemals richtig hatte überwinden können.
Ein Geräusch lenkte ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. Sie waren vor einer hölzernen Tür stehen geblieben, über der in bröckelnder Goldschrift das Wort „Gericht“ prangte. Davor stand ein Mann in der Uniform der Soldaten und bewachte den Eingang. Als er die drei kommen sah, trat er beiseite und verbeugte sich.
„Willkommen am Gericht von Karpensas. Der Gerichtssaal befindet sich gleich zur Rechten der Eingangshalle“, erklärte er.
Vega nickte ihm dankend zu, dann betrat sie, gefolgt von Isa und Massimo, das Gerichtsgebäude. Dieses war riesig, hell ausgeleuchtet und das genaue Gegenteil des düstern Stadtteils, in dem sie sich gerade befanden.
Auch der Raum, in dem der Gerichtstag abgehalten wurde, war groß und reich geschmückt. Es gab keine Fenster, doch alles war mit Kerzen ausgeleuchtet wie am helllichten Tag. Die Sitzbänke für Besucher waren mit Polstern ausgelegt, um es ihnen so bequem als nur möglich zu machen. Sie waren in einem Halbkreis um eine Art hölzerne Tribüne angeordnet worden, auf der sich der Richter und einige andere Personen eingefunden hatten.
Als sie den Raum betraten, waren die Verhandlungen bereits in vollem Gange. Es gab auch einige weitere Zuschauer, darunter vor allem reich aussehende Bürger und Händler, die das Geschehen gelangweilt verfolgten.
Durch eine unscheinbare hölzerne Tür wurden die Gefangenen hereingeführt und vor den Richter gezerrt, der wie ein Unheil verkündender Schatten über ihnen aufragte. In ihren schmutzigen Kleidern und mit den vor Angst und Verzweiflung verzerrten Gesichtern wirkten sie verloren und fremd in diesem prächtigen Raum.
Isa hatte Mitleid mit den Unglücklichen und am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihnen geholfen. Doch sie wusste, dass ihr in dieser Hinsicht die Hände gebunden waren. Sie konnten schon von Glück sprechen, wenn sie den jungen Dieb mit den leuchtenden Augen aus seiner misslichen Lage befreien konnten.
So saß das Mädchen unruhig auf seinem Stuhl und wünschte sich an einen anderen Ort. Es wollte nicht hören, wie die Männer, Frauen und Kinder bestraft wurden, doch es konnte die harschen Worte des Richters einfach nicht aus seinen Gedanken verbannen. Die Strafen waren hart: Das Abschlagen einer Hand, Gefängnis oder Urteile wie die Arbeit in den Minen waren keine Seltenheit. Isa war über die Willkür, mit welcher der Richter die Menschen verurteilte, entsetzt und zutiefst betroffen. Beweise lagen so gut wie niemals vor.
Wo blieb denn hier die Gerechtigkeit? Je mehr Angeklagte vorgeführt wurden, desto mehr kamen Isa Bedenken: Woher holten sie so viele Verbrecher? Hatten sie wirklich etwas Unrechtes getan? Die meisten von ihnen schienen nur mittellose, eingeschüchterte Menschen aus den Vororten zu sein, die nicht wussten, wie ihnen geschah. Es waren Leute, die nicht das Geld besaßen, sich freizukaufen, und die, aufgrund der zunehmenden Armut in den Städten, Unruheherde und somit eine Gefahr darstellten.
Isa war sich sicher, dass dieses Gericht nicht der Gerechtigkeit diente, sondern dazu, die Bevölkerung einzuschüchtern und unter Kontrolle zu halten.
Ihr Groll auf König Salsar war größer als je zuvor und er wuchs noch immer. In Merlina war sie weit fort von all dem gewesen und nahezu frei vom Einfluss des Tyrannen. Nun endlich sah sie mit eigenen Augen, was sie nur von den Händlern gehört hatte: Die Bevölkerung Arias litt unter Salsar.
„Wenn ich nur etwas dagegen tun könnte ...“, dachte sie.
„Nächster“, murrte der Richter, nachdem ein schmächtiges, schluchzendes Mädchen wegen Diebstahls zu einer lebenslangen Strafe in den Minen von Abatur verurteilt worden war. Isa blickte ihm betrübt nach. Lange würde es nicht mehr leben, nicht in den Minen …
Die Türflügel öffneten sich erneut und zwei riesenhafte Männer führten einen Jungen in verschlissener Kleidung in den Saal. Erst konnte sie ihn nicht sehen, doch ganz plötzlich wusste sie, dass er es war: der letzte noch fehlende Amulettmagier. Wie eine Welle schwappte seine Magie in den Raum und flutetet ihn vollständig. Vega zuckte neben ihr zusammen.
„Unglaublich“, flüsterte sie. „Du hattest recht.“
„Sagte ich doch“, murmelte Isa zurück und richtete sich in ihrem Stuhl auf, um den Jungen besser sehen zu können.
Dieser blickte zu Boden und die Haare hingen ihm so tief ins Gesicht, dass sie seine leuchtenden Augen verdeckten. Dann, ganz plötzlich, hob er langsam den Kopf und blickte Isa an. Fragen lagen in seinen Augen, viele Fragen. Er musste ihre Magie genauso spüren wie sie die seine.
„Was passiert nun? Was soll ich tun, wenn ich gegen ihn aussagen soll?“, erkundigte sich das Wettermädchen bei seiner Mutter. Unruhig knetete es seine Finger.
„Sie werden nach Zeugen fragen, und wenn du dich meldest, werden sie dich nach vorne bitten“, erklärte Vega ruhig. „Atme gut durch, dann sagst du ihnen, dass er unschuldig sei.“
„Und dann?“
„Sie werden ziemlich verblüfft sein, nehme ich an, aber mehr musst du eigentlich nicht tun. Den Rest werde ich dann erledigen.“ Vegas Gesicht verdüsterte sich bei ihren Worten zusehends und sie schüttelte missmutig den Kopf. „Sonst würden sie ihn selbst mit deiner gegenteiligen Aussage verurteilen.“
„Das ist nicht gerecht“, stieß das Mädchen fassungslos hervor und ballte seine Hände zu Fäusten. „Wie können die Menschen nur die Augen vor dieser Willkür verschließen?“
Ihre Adoptivmutter seufzte leise. „Unsere Welt“, flüsterte sie, „hat schon seit vielen Jahren vergessen, was das Wort Gerechtigkeit bedeutet.“
Isa hatte Mühe ihre hilflose Wut zu unterdrücken. Zornig presste sie die Lippen zusammen und atmete so langsam und gleichmäßig, wie sie nur konnte. Ihr Blick hing an dem Jungen, der mit gesenkten Schultern vor dem Richter stand.
„Wir werden dich befreien!“, dachte sie bei sich. „Koste es, was es wolle.“
In diesem Augenblick begann die Verhandlung.
„Name?“, fragte der Richter, ohne aufzusehen, und der Schreiber, der neben ihm saß, tunkte eine Feder in Tinte.
Der Junge zögerte.
„Name?!“, wiederholte der Mann mit eisiger Stimme und hob seinen Kopf. „Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“ Isas Herz schlug wie wild. Endlich würde sie seinen Namen erfahren!
„Jerino. Ich heiße Jerino.“ Seine Stimme klang warm und freundlich.
Eine Feder kratzte über Papier, ehe der Richter mit gelangweilter Stimme weitersprach: „Die Anklage gegen Jerino lautet auf Diebstahl, eine Magieprüfung wurde noch nicht vorgenommen. Gibt es Zeugen?“
„Ja“, meldete sich Isalia und erhob sich zögernd. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie versuchte, gefasst zu wirken. Der Junge ließ durch keine Regung erkennen, was er dachte oder von ihr erwartete. Sein Gesicht war wie versteinert.
„Tretet vor, Mylady“, sagte der Richter und winkte sie nach vorne.
Isalia tat, was er verlangte, und trat zur Tribüne. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.
„Name?“
„Isalia Aleander.“ Ihr Nachname klang noch immer fremd und ungewohnt in ihren Ohren. Er war etwas Wertvolles, etwas, das sie niemals zuvor besessen hatte.
Der Richter starrte sie einige Sekunden unverwandt an, dann neigte er kurz seinen Kopf in ihre Richtung. „Es ist mir eine Ehre, ein Mitglied der Familie Aleander hier begrüßen zu dürfen.“
Dann räusperte er sich und meinte mit monotoner Stimme: „Nun, befinden Sie den Angeklagten für schuldig, junge Lady?“ Es schien, als würde er ein Gähnen unterdrücken, dann kaute er auf einem seiner Fingernägel herum.
„Nein.“
Stille. Alle Blicke richteten sich auf sie. Der Mann ihr gegenüber war in seiner Haltung erstarrt und nahm langsam die Hand herunter. Eine seiner Augenbrauen zuckte erstaunt nach oben. Das hatte er wohl schon lange Zeit nicht mehr erlebt.
Auch Jerino starrte sie an und Isa konnte fühlen, dass er alles erwartet hatte, nur nicht dieses eine Wort.
Der Richter richtete sich knarrend in seinem Stuhl auf und beugte sich über den Tisch in ihre Richtung. Noch immer herrschte Totenstille. „Wie bitte?“, fragte er ungläubig und befeuchtete seine Lippen mit der Zunge.
Isa hob ihr Kinn und richtete sich noch gerader auf. „Ich sagte nein und meine damit, dass er unschuldig ist!“ Sie hielt dem stechenden Blick des Richters stand. „Vega“, dachte sie, „bitte, tu etwas!“
Der Mann blinzelte und schien sich nicht ganz sicher zu sein, was er erwidern sollte.
In diesem Augenblick erhob sich Vega und sagte mit der Stimme einer Person, die es gewohnt war, ernst genommen zu werden: „Ich verlange eine Unterbrechung der Verhandlungen, um mit Euch über den Angeklagten zu sprechen, Herr Richter. Ich bin mir sicher, wir werden zu einer vernünftigen Lösung dieser Angelegenheit kommen.“
Isa atmete auf, als sich alle Blicke auf ihre Pflegemutter richteten, die sich mittlerweile majestätisch erhoben hatte.
Auch Jerino hatte den Kopf in ihre Richtung gedreht. Er schien sie misstrauisch von oben bis unten zu mustern. Diebe! Sie können reiche Leute so wenig riechen, wie die reichen Leute sie ausstehen können.
„Nun denn, Lady …?“
„Lady Vega Aleander“, half Vega mit einem zuckersüßen Lächeln nach. Der Richter erstarrte und blickte sie an.
„Oh, die edle Lady Aleander höchstpersönlich. Nun, es ist mir eine Ehre, Euch zu treffen. Und Ihr seid Lord Massimo Aleander der Dritte?“
Massimo nickte kurz und Isa sah, wie sich ein einzelner Schweißtropfen den Weg über die Stirn des Richters suchte. Dann klatschte er in die Hände. „Wir unterbrechen das Gericht. In fünf Minuten fahren wir fort.“
Die Lebendigkeit, die nun plötzlich den Saal flutete, stand in krassem Gegensatz zur eisigen Ruhe, die zuvor geherrscht hatte. Stühle wurden geschoben, Gemurmel wurde laut und Isa glaubte, dass die Menschen Vega und Massimo geradezu ehrfurchtsvoll betrachteten. Die beiden mussten in der Hierarchie tatsächlich ziemlich weit oben stehen!
Als Vega zum Richter eilte, erhob sich dieser rasch und verbeugte sich tief vor ihr. Mit leiser Stimme redete sie auf ihn ein, ehe auch Massimo hinzutrat und sich ebenfalls in das Gespräch einmischte.
Worte wie „Dieb“, „Herumtreiber“ und „böse“ drangen an ihr Ohr, doch Isa achtete nicht groß darauf. Erst als der Richter das Wort „Magie“ fallen ließ, zuckte sie kurz zusammen. Den Rest des Satzes konnte sie nicht verstehen. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Wenn sie bloß keine Probleme bekamen …
Da Isa den größten Teil der Unterhaltung nicht mitbekam, glitten ihre Augen durch den Raum, ehe sie auf den Jungen trafen, der noch immer am selben Ort stand.
Er blickte sie nicht an, sondern starrte teilnahmslos zu Boden. Wie hübsch er doch war! Braunes, strubbeliges Haar, ein schönes Gesicht und die blauen Augen, die man im Moment nicht sehen konnte. Er war genau ihr Typ, doch das hätte sie niemals zugegeben.
Nach einigen Minuten glitten die beiden Erwachsenen endlich zu ihren Plätzen zurück und Isa war erleichtert zu sehen, dass sie zufrieden lächelten. Das Mädchen seufzte leise auf. Die beiden schienen den Richter überzeugt zu haben, Jerino freizulassen.
Als schließlich auch alle anderen Anwesenden, Isa eingeschlossen, wieder ihre Plätze eingenommen hatten und Ruhe im Saal eingekehrt war, erhob der Richter erneut seine eintönige Stimme.
„Dem Angeklagten ist es gestattet, zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden: Arbeit in den Minen oder eine Beschäftigung im Haus der Familie Aleander.“
Jerino zögerte. Er schien nicht recht zu wissen, was er von dieser neuen Möglichkeit halten sollte und was von ihm erwartet wurde. Musste er etwas sagen oder nicht? Unruhig wechselte der Junge von einem Bein auf das andere.
„Entscheide dich“, blaffte ihn der Richter an. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
„Familie Aleander“, murmelte der Junge schnell. Die Minen wären sein Todesurteil gewesen. So schlimm konnte nicht einmal eine adlige Familie sein. Vor allem eine, deren eines Mitglied ihn ungemein interessierte: das Mädchen mit dem blonden Haar und den hellblauen Augen. Es besaß Magie. Eine Menge Magie.
Jerino zuckte zusammen, als der Richter mit seinem Hammer dröhnend auf den Tisch schlug und verkündete: „Verurteilt zu einer Beschäftigung im Haus der Familie Aleander.“ Er holte kurz Luft und rief dann: „Bringt den nächsten Gefangenen herein.“
Währenddessen waren Vega und Massimo zu Jerino getreten, der unschlüssig stehen geblieben war, als die beiden Wachen, die ihn bisher flankiert hatten, plötzlich verschwunden waren.
Kurz wechselten Isas Adoptiveltern einige Worte mit ihm, ehe sie in ihre Richtung kamen und rasch das Gerichtsgebäude verließen.
Erst einige Straßen weiter hielt Vega plötzlich inne und meinte, das Schweigen brechend: „So, ich denke, wir sollten uns einander vorstellen. Jerino, ich bin Vega, das ist Massimo und diese junge Dame hier ist Isalia.“
„Isa“, murrte das Mädchen leise. „Einfach nur Isa.“
Jerinos Blick fuhr flüchtig über die beiden Erwachsenen und blieb dann an Isa hängen. „Schön, dich kennenzulernen“, sagte er mit einer sanften, wohlklingenden Stimme. „Ich hätte nicht gedacht, dass du mich da herausholst. Wieso hast du das gemacht? Es muss doch einen Grund dafür geben?“
Isa kniff die Lippen zusammen und nickte dann langsam. „Vielleicht hast du schon bemerkt, dass wir einige Gemeinsamkeiten haben, die normale Menschen nicht mit uns teilen …“, begann Isa.
„Du meinst unsere Augen?“
„Nicht nur. Ich meine auch die …“, sie senkte die Stimme auf einen Flüsterton, „… die Magie.“
Das Lächeln des Jungen verschwand und er wurde schlagartig käseweiß. Gehetzt blickte er zu den beiden Erwachsenen, dann zu Isa. Diese lächelte.
„Du kannst mir und ihnen gleichermaßen vertrauen. Vega ist eine Magierin, ich auch.“
Der Junge schüttelte jedoch nur ruckartig den Kopf und blickte auf seine Fußspitzen. „Ich vertraue niemandem. Schon gar nicht dann, wenn es sich um Pecunabundas handelt.“
„Pecunabundas? Was ist das denn für ein Wort?“ Vega schien entsetzt zu sein.
„Diebessprache“, meinte Isa schulterzuckend. „Ein Schimpfwort für reiche Leute.“
Jerino musterte sie verblüfft. „Woher kennst du unsere Sprache?“, fragte er in der Sprache der Diebe.
Isa verdrehte die Augen und antwortete ihm in derselben Sprache: „Ich bin nicht in einem riesigen, vergoldeten Haus mit Gardinen aus grünem Samt aufgewachsen, falls du das meinst, sondern in einem Waisenhaus. Da macht man manchmal die Bekanntschaft von Dieben.“
Jerino prustete plötzlich laut los. „Keine Lady, ein Waisenmädchen!“, gluckste er, krümmte sich vor Lachen und wechselte dann unter den schockierten Blicken der Erwachsenen in die normale Sprache zurück. „Ah, jetzt wird mir einiges klar! Dein Angriff heute Morgen und alles … Glaube mir, deine Reaktion war mir ein unlösbares Rätsel. Ich habe mich zu Tode gefürchtet, als du dich auf mich gestürzt hast. Die anderen Reichen schreien nur herum und hoffen vermutlich, dass ich von dem Gekreische bewusstlos werde.“ Er schüttelte lachend den Kopf. Isa war während seiner Worte immer röter geworden und auch Vega hatte eine ungewöhnlich rote Farbe angenommen.
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Oh weh, das kann ja noch was werden! Und Isalia? Wieso – sprichst – du – DIEBISCH?“
Isa lächelte herzerwärmend. „Ein ehemaliger Dieb hat es mir beigebracht. Oben in Merlina. Er konnte lesen und schreiben und vier verschiedene Sprachen sprechen.“
„Das muss ein Scherz sein!“
Isa stöhnte. „Ist es aber nicht.“
„Vielleicht habe ich einige Vorurteile den Dieben gegenüber, aber das ändert nichts daran, dass sie Kriminelle sind“, erwiderte Vega naserümpfend.
Dem Jungen sah man nicht an, was er dachte. „Was ist, wenn ich nicht mit euch kommen möchte?“ Die Frage kam so plötzlich, dass Isa zusammenzuckte.
„Du willst nicht mit uns kommen?“, fragte sie entsetzt.
„Nein.“
„Vielleicht ist das für dich jetzt schwer zu verstehen, aber es ist nicht dein Schicksal, hier in Karpensas weiterhin ein Leben als Dieb zu führen“, brauste Vega auf und sah aus, als hätte sie ihn am liebsten durchgeschüttelt.
„Jerino, du bist ein Amulettmagier! Ich könnte dir jetzt sagen, dass du frei bist zu gehen, wohin du willst, aber bedenke, dass dich irgendwann dein Schicksal einholen wird. Du musst lernen, deine Kräfte zu beherrschen, sonst beherrschen sie dich!“
„Außer ich trage dieses Amulettding nicht“, erwiderte der Junge ungerührt. „Dann können mich meine Kräfte nicht beherrschen, weil ich keine Magie besitze.“
„Du besitzt sehr wohl Magie, auch ohne Amulett.“ Vegas Stimme war nun sehr ernst. „Sie kann dich nicht beherrschen, das ist richtig, aber wie lange kannst du noch von deinem Amulett wegbleiben?“
„Das ist mir egal!“
„Sei nicht naiv!“
„Ich bin ein Dieb und Diebe neigen dazu, naiv zu sein, oder nicht?“ Jerinos Stimme triefte vor Spott, dann trat er einen Schritt von der Gruppe weg. „Ich habe keine Lust mit euch zu gehen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und rannte fort. Die drei Aleanders sahen ihm kopfschüttelnd nach.
Jerino lief atemlos durch die Straßen von Karpensas. Einmal nahm er einen Geheimgang, dann kletterte er über ein Dach und stieg in einer Sackgasse in das geheime Labyrinth der Diebe hinab. Nur weit weg wollte er von den drei Menschen, die ihn aus dem Gefängnis herausgeholt hatten. Er war sich nicht ganz sicher, wieso eigentlich, aber er hatte Angst, Angst vor einem Leben, das er nicht mehr selbst bestimmen konnte.
Es war ihm egal, was diese Isa, die wie eine Lady aussah, aber keine war, jetzt über ihn dachte. Sollte sie denken, was sie wollte!
Jerino blieb keuchend stehen. Oder war es ihm doch nicht so egal? Immerhin war sie so wie er … anders. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wieso reiste sie nur mit diesen zwei Pecunabundas? Sie schien nicht die Art von Person zu sein, die Aufpasser brauchte.
Jerino rannte weiter. Vielleicht war das, was sie ihm erzählt hatten, eine Lüge gewesen, um ihn in eine Falle zu locken? Aber das ergab keinen Sinn. Wieso hätten sie ihn dann aus dem Gefängnis herausgeholt?
Und da war noch Isas Magie. Leicht wie Luft umgab sie sie, und knisternd wie die Energie der Blitze.
Jerino war ratlos. Das erste Mal in seinem Leben war er ratlos. Was sollte er bloß tun? Aus der Stadt verschwinden? Irgendwo untertauchen?
Über eine Leiter verließ er das Labyrinth der Diebe und überquerte eine breite Straße.
Wieso hatte er nur versucht, die junge Dame in dem blauen Kleid zu bestehlen? Wieso war ihm nicht aufgefallen, dass sie keine Adlige war? Er hatte gespürt, dass sie anders war als die anderen reichen Damen. Sie war aufmerksam gewesen, hatte sich immer wieder umgeschaut, doch gerade das hatte er als Herausforderung angesehen.
Jerinos Gedanken wirbelten wirr durcheinander und er spürte, dass er davon Kopfschmerzen bekam. Er huschte über ein Dach hinweg, sprang auf eine Mauer und kam schließlich federnd auf dem Untergrund auf.
Isa hatte ihn sogar angegriffen. Noch immer erinnerte er sich an das reiche Mädchen, das ihn voller Hass in den Augen anblickte und ihn dann angesprungen hatte, als hätte es schon viele Kämpfe ausgefochten. Und dann, ganz plötzlich, als es die Tasche wieder in der Hand gehabt hatte, war der Hass verschwunden gewesen … und er, der Dieb, vergessen.
Diese Isa war keine Adlige, konnte es unmöglich sein.
Immer wieder spukte ihr Bild durch seinen Kopf und wollte ihn einfach nicht loslassen. Sollte er wirklich einfach so verschwinden? Oder sollte er zu dieser außergewöhnlichen Familie zurückkehren? Er würde sie finden. Denn es gab nur einen einzigen Gasthof in der ganzen Stadt, der für diese Leute infrage kam ...