Читать книгу Eine echt verrückte Story - Ned Vizzini - Страница 10
sechs
ОглавлениеDer Abend bricht herein, am Himmel ist nur noch ein dünner grauer Streifen, die Bäume triefen vor Regen, und der Niesel fällt auf mich, während ich unser Haus erreiche. Regenbogen im Frühling – Fehlanzeige. Ich beuge mich vor und drücke auf die Klingel, die vom jahrelangen Gebrauch bronzene Streifen hat – es ist die am häufigsten gedrückte Klingel im ganzen Haus.
»Craig?«
»Hi, Mom.«
Brrrr. Ein tiefes Brummen, vom Hausflur verstärkt. (Hausflur – von wegen! Eher ein Postraum, bloß ein Kabuff für die Briefkästen.) Ich stoße eine Tür auf, dann die andere. Im Haus ist es warm und es riecht nach gekochter Stärke. Die Hunde empfangen mich.
»Hi, Rudy. Hi, Jordan.« Sie sind noch klein. Die Namen hat ihnen meine Schwester gegeben; sie ist neun. Rudy ist eine Promenadenmischung; mein Vater meint, eine Kreuzung aus Chihuahua und deutschem Schäferhund, was bestimmt ein toller Hundesex war. Ich hoffe, der deutsche Schäferhund war das Männchen. Denn sonst hat das Schäferhundweibchen womöglich nicht viel davon gehabt. Rudy hat einen ausgeprägten Unterbiss; er sieht wie zwei Hunde auf einmal aus, von denen der eine von unten den Kopf des anderen anfrisst, aber wenn ich ihn ausführe, gefällt er den Mädchen, und sie sprechen mich an. Doch dann merken sie, dass ich noch jung und/oder total verkorkst bin, und sie gehen weiter.
Jordan, ein Tibet-Spaniel, sieht wie ein kleiner brauner Löwe aus. Er ist klein und süß, aber völlig verrückt. Seine Rasse wurde in Tibet gezüchtet: als Wachhunde für Klöster. Als er zu uns kam, hat er sich darauf fixiert, unser Zuhause sei auch ein Kloster und das Badezimmer die heiligste Zelle darin. Meine Mutter ist für ihn die Äbtissin. Man kann sich ihr nicht nähern, ohne dass Jordan sie gleich beschützt. Wenn sie morgens im Bad ist, muss Jordan mit ihr zusammen da drin sein, er sitzt auf dem Bord neben dem Waschbecken, während sie sich die Zähne putzt.
Jordan bellt mich an. Seit ich durchgedreht bin, bellt er mich an. Aber das bringt keiner von uns zur Sprache.
»Craig, wie war’s bei Dr. Minerva?« Mom kommt aus der Küche. Sie ist immer noch groß und dünn und sieht jedes Jahr besser aus. Ich weiß, es ist verrückt, so was zu denken, und außerdem – was soll’s? Sie ist auch bloß eine Frau – zufällig meine Mutter. Schon erstaunlich, dass sie immer imposanter und selbstbewusster aussieht, je älter sie wird. Ich hab Fotos von ihr aus dem College gesehen, da hat sie nicht besonders toll gewirkt. Als hätte Dad jedes Jahr eine bessere Wahl getroffen, so sieht es aus.
»Es ... war okay.« Ich lege den Arm um sie. Sie hat sich so lieb um mich gekümmert, seit es mir schlecht geht; ich schulde ihr alles, und ich hab sie gern, und das sage ich ihr neuerdings auch, obwohl es jedes Mal, wenn ich es ausspreche, ein bisschen dünner wird. Ich glaub, bei jedem ist der Vorrat an Ich hab dich lieb irgendwann mal erschöpft.
»Bist du immer noch froh, dass du zu ihr gehst?«
»Ja.«
»Denn falls nicht, besorgen wir dir jemanden anders.«
Jemanden anders könnt ihr euch nicht leisten, denke ich beim Blick auf den Riss in der Wand – direkt da, wo meine Mom steht. Dieser Riss in der Diele ist jetzt seit drei oder vier Jahren sichtbar. Dad überstreicht ihn mit Farbe, aber der Riss bricht einfach wieder auf. Wir haben ihn schon mit einem Spiegel verdecken wollen, aber der Platz – an einer Seite des Flurs – wäre seltsam für einen Spiegel. Und meine Schwester fing dann damit an, das sei ein Vampirspiegel, mit dem man herausbekäme, ob die Leute, die das Haus betreten, Vampire sind. Also haben wir ihn ein paar Wochen später, als ich zugedröhnt heimkam und reingestolpert bin, wieder abgehängt. Jetzt sieht man dort wieder den Riss in der Wand. Der wird nie repariert werden.
»Ihr braucht niemanden anders zu besorgen.«
»Wie ist es mit essen? Hast du Hunger?«
Ich glaub schon. Ich werde essen, was meine Mom für mich gekocht hat. Ich hab meinen Kopf immer noch unter Kontrolle, ich hab Medikamente, und ich sorge dafür, dass das passiert.
»Ja.«
»Gut. Dann in die Küche!«
Ich geh rein, alles ist für mich vorbereitet. Dad und meine Schwester Sarah sitzen an dem runden Tisch, Messer und Gabel schon in der Hand, und werfen sich für mich in Pose.
»Wie sehen wir aus?«, fragt Dad und klopft schon ungeduldig mit dem Silberbesteck. »Sehen wir aus, als ob wir Hunger hätten?«
Meine Eltern denken sich immer was Neues aus, damit ich wieder in Ordnung komme. Sie haben es mit Akupunktur probiert, mit Yoga, Kognitionstherapie, Entspannungsbädern, den verschiedensten Kraftsportarten (bis ich aufs Radfahren kam), Selbsthilfe-Büchern, Tae Bo und Feng Shui in meinem Zimmer. Sie haben eine Menge Geld für mich ausgegeben. Ich schäme mich.
»Iss! Iss! Iss!«, sagt Sarah. »Wir warten schon auf dich.«
»Muss das sein?« frage ich.
»Wir wollen es dir nur ein bisschen gemütlicher machen.« Mom bringt eine Bratpfanne auf den Tisch. Es riecht heiß und fruchtig. In der Pfanne sind große orange Dinger, in der Mitte aufgeschnitten.
»Es gibt Kürbis«, sagt sie und dreht sich wieder zum Herd um, »Reis und Huhn.« Sie hebt einen Topf weißen, mit Gemüsestückchen besprenkelten Reis herüber und eine Platte mit Hühnerpasteten. Ich stürz mich drauf – auf eine sternenförmige, eine dinoförmige. Sarah grabscht im selben Augenblick nach der dinoförmigen.
»Die Dinosaurier gehören mir.«
»Okay.« Ich lass sie ihr. Unter dem Tisch tritt mich Sarah. »Wie geht’s dir?«, flüstert sie.
»Nicht gut.«
Sie nickt. Sarah weiß, was das bedeutet. Es bedeutet, ich werde heute Abend auf der Couch liegen, mich herumwälzen, und Mom wird mir warme Milch bringen. Es bedeutet, ich werde vor dem Fernseher hocken, aber im Grunde nicht hinsehen, bloß in die Luft stieren und nicht mal lachen, während ich meine Hausaufgaben nicht mache. Sie reagiert gut. Sie macht noch mehr Hausaufgaben und hat noch mehr Spaß. Sie will nicht so enden wie ich. Wenigstens gebe ich jemandem ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen soll.
»Tut mir leid. Sie wollen dir was Gutes tun.«
»Das weiß ich.«
»Also, Craig, wie war’s heute in der Schule?«, fragt Dad. Er spießt die Gabel in den Kürbis und sieht mich durch seine Brille an. Er ist klein und trägt eine Brille, aber wenigstens hat er noch Haare, wie er immer sagt – dicke, dunkle Zausen, die er mir vererbt hat. Er sagt, ich hätte Schwein gehabt, die Gene seien auf beiden Seiten gut, und wenn ich jetzt auch meinte, ich hätte Depressionen, sollte ich mal überlegen, wie es wäre, wenn ich wie alle anderen Männer eine Glatze bekäme! Ha!
»Es ging«, sagte ich.
»Was hast du gemacht?«
»Im Unterricht gesessen und die Aufgaben erledigt.«
Wir machen uns über das Essen her. Ich nehme meinen ersten Bissen auf – eine sorgfältig zusammengestellte Gabel voll mit Huhn, Reis und Kürbis – und schaufle es mir in den Mund. Ich werde das essen. Ich kau es und merke, dass es gut schmeckt, schiebe meine Zunge nach hinten und schicke es runter. Ich behalte es bei mir. Gut. Es ist drin.
»Was hast du in ... lass mal überlegen ... amerikanischer Geschichte gemacht?«
»Die Stunde war nicht so gut. Der Lehrer hat mich aufgerufen, aber ich konnte nicht sprechen.«
»Oh, Craig ...«, fängt Mom an.
Ich stelle mir den nächsten Happen zusammen.
»Was meinst du damit, du konntest nicht sprechen?«, will Dad wissen.
»Ich hab die Antwort gewusst, aber ... ich konnte einfach ...«
»Du hast den Faden verloren«, sagt Mom.
Ich nicke und nehme mir den nächsten Happen.
»Craig, so kannst du nicht weitermachen.«
»Liebling –«, fängt Mom an.
»Wenn du die Antwort auf irgendetwas weißt, musst du den Mund aufmachen und sie sagen, was kann daran denn unklar sein?«
Dad schiebt sich mit der Gabel einen Berg Kürbis in den Mund und kaut ihn wie ein Feuerofen.
»Bedräng ihn nicht«, sagt Mom.
»Tu ich nicht, ich bin ganz freundlich.« Dad lächelt. »Craig, du bist mit einem scharfen Verstand gesegnet. Du brauchst bloß Vertrauen dazu zu haben und zu sprechen, wenn Leute dich ansprechen. Früher hast du das auch gemacht. Damals hat man dich bitten müssen, mal für einen Moment mit dem Reden aufzuhören.«
»Jetzt ist es anders ...« Der dritte Happen.
»Wissen wir. Deine Mutter und ich wissen das, und wir tun, was wir können, um dir zu helfen. Richtig?« Er sieht über den Tisch zu Mom hinüber.
»Ja.«
»Ich auch«, sagt Sarah. »Ich tu auch, was ich kann.«
»Das stimmt.« Mom streckt die Hand über dem Tisch aus und strubbelt ihr das Haar. »Du machst das ganz toll.«
»Gestern hätte ich was rauchen können, aber ich hab’s nicht getan«, sage ich und schaue, über meinen Teller gebeugt, hoch.
»Craig!«, sagt Dad scharf.
»Darüber reden wir jetzt nicht«, sagt Mom.
»Aber ihr solltet es wissen, es ist wichtig. Ich mach Experimente mit meinem Kopf, ich will rauskriegen, wodurch er geworden ist, wie er jetzt ist.«
»Wovon redest du?«
»Nicht vor deiner Schwester«, sagt Mom. »Ich möchte euch was von Jordan erzählen.« Als er seinen Namen hört, kommt der Hund in die Küche gelaufen und postiert sich neben Mom. »Gestern war ich mit ihm beim Tierarzt.«
»Du bist gar nicht zur Arbeit gegangen?«
»Richtig.«
»Und deshalb hast du gekocht.«
»Genau.«
Ich bin eifersüchtig auf sie. Eifersüchtig auf die eigene Mutter, weil sie alles im Griff hat – ja, gibt’s denn das? Ich hätte mir nicht einen Tag freinehmen, mit dem Hund zum Tierarzt gehen und Essen kochen können. Das ist dreimal mehr, als ich an einem Tag zustande brächte. Wie soll ich es da je zu einem eigenen Haus bringen?
»Du willst also nicht wissen, was beim Tierarzt war?«
»Es ist verrückt«, sagt Sarah.
»Wir sind wegen der Anfälle, die er manchmal hat, mit ihm hingegangen«, sagt Mom. »Und was der Arzt gesagt hat, das glaubst du nicht.«
»Was denn?«
»Das letzte Mal hatten sie schon ein paar Bluttests bei ihm gemacht, und jetzt sind die Ergebnisse da – ich hab mit Jordan in dem kleinen Raum gesessen; er war sehr brav. Der Arzt kommt rein, sieht auf seine Unterlagen und sagt: ›Mit solchen Zahlen kann man gar nicht leben.‹«
Ich muss lachen. Auf der Gabel vor mir liegt ein Essenshäufchen. Es zittert. »Was meinst du damit?«
»Das hab ich ihn auch gefragt. Und, wie sich herausstellt, sollte der Blutzuckerspiegel bei einem Hund irgendwo zwischen vierzig und einhundert liegen. Und weißt du, was Jordan hat ?«
»Was?«
»Neun.«
»Wuff!«, bellt Jordan.
»Dann« – Mom muss inzwischen auch lachen – »gibt es noch eine andere Zahl, irgendeinen Enzymwert, der sollte zwischen zehn und dreißig liegen, und bei Jordan beträgt er eins achtzig.«
»Guter Hund«, sagt Dad.
»Der Tierarzt musste passen. Er hat mir gesagt, ich soll ihm weiter die Nahrungsergänzung und die Vitamine geben, aber im Grunde sei Jordan ein medizinisches Wunder.«
Ich sehe zu Jordan, dem Tibet-Spaniel, hinüber. Ein eingedrücktes Gesicht mit zotteligem Fell drumherum, eine schwarze Nase, große dunkle Augen, wie ich sie auch habe. Er hechelt und sabbert. Sitzt auf seinen behaarten Vorderpfoten.
»Er dürfte gar nicht am Leben sein, ist es aber«, sagt Mom.
Ich seh mir Jordan noch eine Weile an. Worüber machst du dir Sorgen? Du hast doch eine Ausrede. Du hast schlechtes Blut. Offenbar gefällt dir das Leben; würde es mir auch, wenn ich an deiner Stelle wäre. Du lebst von einer Mahlzeit zur anderen und bewachst Mom. Es ist ein Leben. Tests oder Hausaufgaben sind darin nicht enthalten. Zu kaufen brauchst du auch nichts.
»Craig?«
Du dürftest gar nicht am Leben sein und bist es doch. Möchtest du tauschen?
»Ich ... ich find das cool.«
»Es ist sehr cool«, sagt Mom. »Dieser Hund lebt durch die Gnade Gottes.«
Ah, ja, Gott. Den hatte ich ja ganz vergessen. Er wird, wenn es nach Mom geht, definitiv dazu beigetragen haben, wenn es mir mal wieder besser geht. Ich halte Gott aber als Seelenklempner für einen Stümper. Er hat sich die therapeutische Methode des Nichtstuns zu Eigen gemacht.
»Ich bin fertig«, sagt Sarah. Sie nimmt ihren Teller und trottet aus dem Zimmer, ruft Jordan zu sich. Er geht ihr nach.
»Ich kann auch nichts mehr essen«, sage ich. Fünf Bissen hab ich geschafft. Mir dreht sich der Magen um; jetzt macht er ganz dicht. Dabei war das ein so harmloses Essen, ich hätte eigentlich keine Schwierigkeiten damit haben sollen. Im Gegenteil, ich hätte drei Teller davon wegputzen können sollen. Ich bin noch im Wachstum; ich sollte auch keine Schlafschwierigkeiten haben; ich sollte Sport treiben! Ich sollte mich mit Mädchen treffen. Sollte herausfinden, was mir an dieser Welt gefällt. Ich sollte mit Volldampf essen und schlafen und trinken und lernen und fernsehen und normal sein.
»Probier doch, ob noch ein bisschen geht«, sagt Mom. »Ich will dich nicht drängen, aber essen solltest du schon.«
Sie hat recht. Ich werde essen. Ich teile mir, in Straßen und Avenues geschnitten, ein großes Stück Kürbis ab, spieße es mit meiner Gabel auf und schiebe es mir in den Mund. Ich werde dich essen. Ich zerkaue den Brocken, der weich ist, nachgiebig, sich leicht zu etwas formen lässt, das durch meine Kehle passt. Er schmeckt süß. Jetzt drinbehalten. Das Zeug ist in meinem Magen gelandet. Ich schwitze. Im Beisein meiner Eltern ist das Schwitzen jedes Mal schlimmer als sonst. Mein Magen hat ihn. Meinen Magen füllen sechs Bissen von dieser Mahlzeit. Ich kriege sechs Bissen runter. Ich verlier den Kampf nicht. Ich behalte die Mahlzeit bei mir, die meine Mutter gekocht hat. Wenn der Hund leben kann, kann ich auch essen. Ich behalte das Essen bei mir. Mache eine Faust. Spanne die Muskeln an.
»Bist du okay?«
»Moment«, sage ich.
Ich verliere den Kampf.
Mir hebt sich der Magen, als ich vom Tisch aufstehe.
Was sollte das werden, Soldat?
Ich wollte etwas essen, Sir!
Und, was ist passiert?
Mir ist ein blöder Gedanke dazwischengekommen, Sir!
Was denn für einer?
Dass ich weniger gern lebe als der Hund meiner Eltern.
Konzentrierst du dich immer noch auf den Feind, Soldat?
Ich glaube nicht.
Weißt du überhaupt, wer der Feind ist?
Ich glaube ... ich selber.
So ist es.
Ich muss mich auf mich selber konzentrieren.
Ja. Aber nicht in diesem Moment, denn jetzt gehst du ins Bad, um dich zu übergeben! Ist schwer zu kämpfen, wenn man sich gerade übergibt.
Ich taumele ins Bad, schalte das Licht aus, schließe die Tür. Das Schreckliche ist, dass ich diesen Teil gern habe, denn wenn er vorbei ist, wird mir, wie ich weiß, warm sein. Ich werde in mir die Wärme eines Körpers haben, der gerade ein Trauma durchgemacht hat. Ich beuge mich im Dunkeln über die Toilette – ich weiß, wie ich mich halten muss – und mein Magen erhebt sich wieder und drischt auf mich ein. Ich mach auf und stöhne. Es kommt heraus. Ich hör meine Mutter draußen schniefen und meinen Vater, der sie vermutlich stützt. Ich fasse nach dem Griff und spüle ein paar Mal, fülle die Toilette und spüle runter, immer im Wechsel. Wenn ich damit fertig bin, geh ich schlafen und mache keine Hausaufgaben mehr; dem bin ich heute Abend nicht mehr gewachsen.
Und wie ich da unten kauere, denke ich:
Die Wende kommt. Die Wende muss kommen. Denn wenn du so weiterlebst, stirbst du.