Читать книгу Eine echt verrückte Story - Ned Vizzini - Страница 15
zehn
ОглавлениеDie Wohnung hatte sich stark geleert.
Himmel. Ich erhob mich. Die Wiedergabeliste auf dem Laptop war durch. Meine Nacht war vorüber. Ich hatte nichts anderes getan als mir Platten anzusehen und beinahe mit einem Mädchen zusammenzukommen, hatte aber trotzdem das Gefühl, etwas geschafft zu haben.
»Äh, Ronny?«, fragte ich.
Ronny spielte auf Aarons Couch PlayStation. Das PlayStation-Kabel ringelte sich durchs Zimmer. Er hob den Blick.
»Was?«
»Wo sind denn alle?«
»Im Bett mit deiner Mom.«
Neben Ronny lag ein Mädchen namens Donna zusammengerollt an einem Ende der Couch. Der Junge mit dem Eight-Ball-Jackett saß in einem Sessel. Einem, der schreiend nach mehr Musik verlangte, gab Ronny, gleichfalls schreiend, Antwort: Fresse, Alter! Überall in der Wohnung standen Tassen, Kaffeebecher und Gläser – als hätten sie sich während der Party vermehrt.
»Weiß jemand, wo Aaron ist?«
»Pause.« Mehr brachte Ronny nicht heraus.
»Aaron!«
»Halt die Klappe, Mann! Der ist mit seiner Mieze zusammen.«
»Ich bin ja da, ich bin ja da!« Aaron kam aus seinem Zimmer, zog seine Hose zurecht. »Großer Gott.« Er betrachtete das Chaos. »Was ist los? Hast du gut gepennt?«
»War total weg, ja. Wo ist Nia?«
»Schläft.«
»Hast’s ihr gut besorgt, was?«, sagte Ronny. »Die Eroberung Asiens.«
»Halt die Klappe, Ronny.«
»Das asiatische Fieber.«
»Halt die Klappe.«
»Die Chinapfanne.«
Mit einem Ruck zog Aaron seinen Controller aus der PlayStation.
»Al-der!« Ronny griff hektisch danach.
»Möchtest du vielleicht einen kleinen Spaziergang machen?«, fragte Aaron.
»Klar.« Ich holte meine Jacke.
Aaron weckte Eight-Ball-Jackett und Donna und schmiss sie raus; Ronny bugsierte er unter dessen heftigem Protest ebenfalls aus der Wohnung. Wir fuhren alle mit dem Fahrstuhl nach unten; Eight-Ball-Jackett und Ronny fuhren nach Uptown; Donna und zwei andere stiegen in ein Taxi, und ich und Aaron schlugen instinktiv den Weg in Richtung Brooklyn Bridge ein, die sich ungefähr drei Blocks von Aarons Wohnung entfernt schimmernd in die Nacht emporschwang.
»Willst du über die Brücke gehen?«, fragte Aaron.
»Nach Brooklyn?«
»Ja. Du kannst heimgehen oder wir können mit der U-Bahn wieder zu mir fahren.«
»Wann wird es hell?«
»In drei, vier Stunden.«
»Ja dann, also los, gehen wir. Ich geh zu Hause vorbei und hol uns Frühstück.«
»Cool.«
Wir gingen im gleichen Schritt. Mir war kein bisschen kalt an den Füßen. Aber schwindlig. Ich sah kahle Bäume und fand sie sehr schön. Besser hätte es nur noch sein können, wenn es auch geschneit hätte. Dann wären Flocken auf mich gefallen und ich hätte sie mit dem Mund auffangen können. Hätte mir nichts ausgemacht, wenn Aaron das gesehen hätte.
»Also, wie geht’s dir?«, sagte ich.
»Wie meinst du das denn?«, entgegnete er.
»Du weißt schon«, sagte ich.
»Warte mal.« Aaron hatte eine Flasche Snapple-Eistee an der Bordsteinkante erspäht; sie sah aus, als sei sie mit Urin gefüllt, was man in Manhattan häufiger sieht. Ich weiß nicht warum, aber die Obdachlosen pinkeln in die Flaschen und haben nicht mal den Anstand, sie anschließend in den Müll zu werfen. Es konnte aber auch Apfelsaft sein – gab’s das bei der Marke? Aaron machte einen Satz darauf zu und schoss sie über die Straße, wo sie nach dreimaligem Aufschlagen wieder an der Bordsteinkante landete und unter dem gelben Licht der Straßenlaterne zersprang.
»Rrrrums!«, schrie Aaron. Dann sah er sich um. »Cops siehst du hier auch keine, oder?«
Ich musste lachen. »Nein.« Wir kamen an den Aufgang zur Brücke. »Also mal im Ernst, wie war’s?«
»Sie ist unglaublich. Ich meine, sie mag alles – mag es wirklich. Sie mag ... Sex.«
»Du hattest Sex mit ihr?«
»Nein, aber das merk ich. Sie mag ja auch alles andere.«
»Was hast du gemacht?«
Er erzählte es mir.
»Gibt’s doch gar nicht!« Ich schob ihn, als wir zur Brücke hinaufstiegen. Luft aus dem kalten New York Harbor wehte uns ins Gesicht, und ich zog meine Kapuze über den Kopf und zog die Kordel fester. »Wie war es?«
»Total verrückt«, sagte Aaron. »Es fühlt sich an wie deine Wange von innen.«
»Im Ernst?« Ich zog die Hand aus meiner Hosentasche.
»Ja.«
Ich steckte einen Finger in den Mund und schob ihn an die Seite. »So ist das?«
»Genau so«, sagte Aaron. Er hatte ebenfalls einen Finger im Mund. »Im Ernst, das ist so geil.«
»Aha.«
Wir liefen schweigend weiter, die Finger im Mund.
»Hast du jemanden aufgegabelt?«
»Nö. Julie wollte aber.«
»Die ist nett. Nicht mal bisschen was gelaufen?«
»Was? Nein.«
»Du warst ganz schön platt da im Korridor.«
»Ich hatte den Scotch von meiner Mom getrunken und hab mir die Platten von deinem Dad angesehen.«
»Du bist schon eine Marke, Craig.«
»Ganz schön kalt hier draußen.«
»Sieht auch ganz schön kalt aus.«
Wir waren noch kein Zehntel der Strecke über die Brücke gegangen, und es sah echt kalt aus. Hinter uns führte der Fußweg zur City Hall, da war die Stadt finanziell für ein paar Strahler eingesprungen, die die Kuppel des Gebäudes beleuchteten. Es sah aus wie eine weiße Perle, eingekuschelt zwischen Riesen, wie etwa dem Woolworth-Gebäude, das Ayn Rand – hatte ich in Englisch gelernt – als »Finger Gottes« bezeichnet hatte. Und das stimmte auch. Es war oben an der Spitze grün und weiß und sah aus wie das meistdekorierte Pfefferminz der Welt. Zu unserer Linken lagen die anderen Brücken von Manhattan: hintereinander angeordnet wie wechselnde Sinus- und Kosinus-Wellen, trugen sie ein paar spätnächtliche Trucks, hinter deren Dächern Nebelfahnen wehten.
Zu unserer Rechten gab es den schönsten Blick: die New York Harbor. Größtenteils schwarz. Die Freiheitsstatue war erleuchtet, kam mir aber ein bisschen geschmacklos vor, wie sie da herumstand – so niedlich. Richtig ging die Post an den Seiten ab: Manhattan hat sein effizientes, nüchternes Zentrum, wo Geld gemacht wird, und auf der anderen Seite lag Brooklyn, schläfrig und dunkel, aber mit einer Trumpfkarte – den Containerkränen, die nicht bloß fürs Auge oder aus Betreiberstolz beleuchtet waren, sondern weil dort gearbeitet wurde, sogar um diese Zeit – Schiffe entluden Fracht, die bekanntlich nicht nach terroristischem Gefährdungspotential durchsucht wurde und uns trotzdem noch nicht in die Luft gejagt hatte. Brooklyn war ein Hafen. New York war ein Hafen. Wir bekamen Sachen erledigt. Ich hatte auch schon Sachen erledigt bekommen.
Zwischen Brooklyn und Manhattan, meilenweit hinter dem Wasser, sahen wir den letzten Vorhang von New York City – die Verrazano Narrows Bridge. Sie überspannte den Eingang in den Hafen, ein stahlblaues Oberlippenpaar, das die Schwärze grüßte.
Ich konnte überall alles machen, in alle vier Richtungen.
»Craig?«, meldete sich Aaron.
»Was ist?«
»Was ist mir dir? Alles klar?«
»Ich bin glücklich«, sagte ich.
»Warum nicht?«
»Nein, ich sagte, ich bin glücklich.«
»Ich weiß. Warum auch nicht?«
Wir kamen zum ersten Brückenturm, an dem eine Plakette den Namen ihres Erbauers mitteilte; ich blieb stehen und las. John Roebling. Assistiert von seiner Frau und danach auch von seinem Sohn. Er starb während der Bauzeit. Aber hey, war doch möglich, dass die Brooklyn Bridge achthundert Jahre hier stand. Etwas Vergleichbares wollte ich ebenfalls hinterlassen. Ich wusste zwar nicht, wie ich das anstellen sollte, doch mir war, als hätte ich bereits den ersten Schritt dazu getan.
»Das richtig Coole an Nia ...«, sagte Aaron und breitete anatomische Details aus, erzählte Dinge von ihr, die ich nicht zu wissen brauchte; ich blendete ihn aus, wusste, dass er eigentlich nur Selbstgespräche führte. Das nämlich machte ihn glücklich. Ich freute mich über andere Sachen. Ich war glücklich, denn eines Tages würde ich über diese Brücke gehen und diese Stadt sehen, und ein Teil davon würde mir gehören, weil ich dann auch etwas geleistet hätte.
»Ihr Hintern ist ... ich glaub, nach ihrem Hintern haben sie das Herz-Logo entworfen ...«
Wir kamen zur Mitte der Brücke. Beiderseits von uns rauschten Autos vorüber, rot auf der linken und weiß auf der rechten Seite, die Fahrbahnen flankiert von schmalen Überbauten, die vom Fußgängerweg ihren Ausgang nahmen.
Plötzlich überkam mich der Drang, auf einen dieser Überbauten hinauszusteigen und mich der Welt zu erklären. Einmal auf die Idee gekommen, wurde ich den Gedanken nicht wieder los.
»Keine Ahnung, ob es richtig –« sagte Aaron gerade.
»Ich möchte mich außen über das Wasser stellen«, sagte ich zu ihm.
»Was?«
»Komm mit. Willst du auch?«
Er blieb stehen.
»Ja«, sagte er. »Ja, ich sehe, was du vorhast.«
Auf den Überbauten befanden sich oben schmale Fußwege, Stellen, von wo aus die Brückenarbeiter zu den Drahtseilen steigen und sie reparieren konnten. Ich kraxelte auf einen auf der Hafenseite, der Seite, die von der Verrazano gekrönt war, hielt mich am Handlauf fest und balancierte, einen Fuß vor dem anderen, auf einem Stück Metall, knapp zehn Zentimeter breit. Unter mir surrten Taxis und Geländewagen vorbei. Vor mir waren das schwarze Wasser, der schwarze Himmel und die Kälte.
»Du bist verrückt«, sagte Aaron.
Ich ging einige Schritte vorwärts. Es war leicht. Das sind solche Sachen immer. Das, was einem die Erwachsenen verbieten, ist immer am leichtesten.
Unter mir befanden sich drei Fahrspuren; ich hatte die erste hinter mich gebracht und war schon halb über der zweiten, als Aaron schrie:
»Was zum Teufel willst du da draußen?!«
»Ich will bloß nachdenken!«, schrie ich zurück.
»Worüber denn?«
Ich schüttelte den Kopf. Das konnte ich nicht erklären. »Es dauert nicht lange.«
Aaron kehrte mir den Rücken zu.
Ich war an der zweiten Spur vorbei, hielt den Blick auf den Horizont geheftet, sah auch das ganze Stück über die dritte Spur hinweg nur dorthin und packte in raschem Wechsel abwechselnd mit der linken und der rechten Hand das Geländer. Ich kam an den Rand der Brücke und war ein bisschen überrascht, dass es dort keine Begrenzung gab. Nichts hielt einen von einem Absturz zurück, bloß die eigenen Hände und der eigene Wille. Ich umfasste die Stangen, die sich auf beiden Seiten befanden – sie waren eiskalt – , ließ dann los und breitete die Arme weit aus, fühlte, wie der Wind mich peitschte und an mir zerrte, als ich mich über das Wasser hinausbeugte wie ... na ja, wie Jesus wahrscheinlich.
Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder, und der einzige Unterschied war das Gefühl des Windes auf meinen Augäpfeln, denn wenn ich die Augen schloss, sah ich die Lichtpunkte trotzdem ganz genau. Ich warf den Kopf zurück und schrie. Als Kind hatte ich die Bücher aus der Redwall-Serie gelesen, Fantasy-Geschichten über einen Haufen von Killermäusen. Und diese Killermäuse hatten einen Schlachtruf, den ich immer cool fand: »Eulalia«.
Und wie ein Idiot schrie ich genau das von der Brooklyn Bridge:
»Eulaliaaaaaaaaaaaaa!«
Danach hätte ich glatt sterben mögen.
Und wenn man bedenkt, wie es mit mir weiterging, hätte ich das mal besser auch getan.