Читать книгу Eine echt verrückte Story - Ned Vizzini - Страница 5

eins

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Es fällt so schwer zu reden, wenn man sich umbringen will. Und zwar ist es das vor allem anderen. Und ich jammere nicht bloß rum. Es tut körperlich weh, den Mund aufzumachen und die Wörter rauszuquetschen. Sie gehen dir nämlich nicht glatt über die Zunge, wie du sie gerade gedacht hast, und wie das bei den Wörtern normaler Leute der Fall ist; sie kommen in Bröckchen wie Eis aus dem Crusher, und du stolperst drüber, wenn sie sich hinter deiner Unterlippe ansammeln. Also hältst du lieber gleich den Mund.

»Ist euch schon mal aufgefallen, dass die Leute in der Fernsehreklame dauernd fernsehen?«, fragt mein Freund.

»Schwachsinn, Alter«, sagt mein anderer Freund.

»Nein, das stimmt«, sagt darauf mein anderer anderer Freund. »Dauernd sitzt einer auf einer Couch, außer die Reklame ist für Allergien, da gehn sie über ein Feld –«

»Oder reiten am Strand lang.«

»Die Reklame ist immer für Herpes.«

Gelächter.

»Wie bringt man jemandem überhaupt bei, dass man das hat?« Das kommt von Aaron. Er wohnt hier. »Muss ja ein verrücktes Gespräch sein: ›Hey, bevor wir loslegen, solltest du wissen ...‹«

»Hat eure Moms gestern Abend nicht gestört.«

»Ohhh!«

»Alter!«

Aaron verpasst Ronny, dem Schwätzer, einen Stoß vor die Brust. Ronny ist klein und trägt Schmuck; er hat mal zu mir gesagt: Craig, wenn ein Mann seinen ersten Schmuck anlegt, gibt’s kein Zurück mehr. Die Hand mit der dicken, losen Goldkette boxt zurück, scheppernd trifft sie Aarons Uhr.

»Alter, was machst du da mit meinem Gold, hä?« Ronny schüttelt die Hand und greift sich den Joint.

Aaron hat zu Hause immer was zu kiffen; er wohnt in einem Zimmer mit separater Entlüftung und abschließbarer Tür, das seine Eltern als Extrawohnung vermieten könnten. Um den Lichtschalter ist eine Schutzfolie geklebt, und seine Bettdecke ist mit schwarzen Kreisen gesprenkelt. Flecke sind da auch drauf, schimmernde Flecke, die auf gewisse Aktivitäten hindeuten, die zwischen Aaron und seiner Freundin stattfinden. Ich schau sie an (die Flecken, dann die beiden). Bin eifersüchtig. Dann aber bin ich wieder über Eifersucht hinaus.

»Craig? Willst du?«

Das Ding wird mir rübergereicht, aber ich gebe es weiter. Ich führe ein Experiment mit meinem Kopf durch, prüfe, ob das Gras womöglich das Problem ist; vielleicht ist das ja der Eindringling, der mich entführt hat. Das mach ich jetzt seit Wochen immer wieder mal, und dann rauche ich eine Masse Gras und teste, ob es vielleicht das fehlende Gras war, das mich entführt hat.

»Alles okay, Mann?«

So sollte ich heißen. Ich könnte ein Superheld sein. Der Alles-Okay-Man.

»Äh ...«, stammle ich.

»Nervt Craig nicht.« Das kommt von Ronny. »Er ist in der Craig-Zone. Ist weggetreten.«

»Ja.« Ich bewege die Muskeln, die bei mir das Lächeln erzeugen. »Ich bin ... irgendwie ... ihr wisst schon ...«

Merkt ihr, wie das mit den Wörtern ist? Die betrügen den Mund und spazieren davon.

»Bist du okay?«, fragt Nia. Nia ist Aarons Freundin. Sie und Aaron haben ständig Körperkontakt. Im Moment sitzt sie, an sein Bein gelehnt, auf dem Fußboden. Sie hat große Augen.

»Mir geht’s gut«, sage ich. Der blaue Schimmer des Flachbildschirmfernsehers spiegelt sich in ihren Augen, als sie den Blick wieder darauf richtet. Wir sehen uns eine Doku über die Tiefsee an.

»Scheiße, sieh dir das an!«, ruft Ronny, der gerade Rauch ausstößt – keine Ahnung, wie das Ding so schnell wieder bei ihm gelandet ist. Ein Tintenfisch zieht über den Bildschirm. Er hat riesige, durchscheinende Ohren, gleitet im kalten Licht des Unterseeboots durch das Wasser.

»Wissenschaftler haben dieser Art den Kosenamen Dumbo gegeben«, sagt der Fernsehsprecher.

Ich lächle in mich hinein. Ich habe ein Geheimnis: Ich wünschte, ich wäre Dumbo, der Tintenfisch. An die Eiseskälte auf dem Grund der Ozeane angepasst, würde ich dort friedlich herumpaddeln. Die großen Fragen meines Lebens wären, von welcher Sorte Schleim am Meeresgrund ich mich ernähre – da ist kein so großer Unterschied zu jetzt. Und dass ich keine natürlichen Feinde habe. Die hab ich zwar jetzt auch nicht, aber das hat mir nicht besonders viel gebracht. Doch auf einmal ergibt es schon einen Sinn: Gern würde ich unter Wasser leben, als Tintenfisch.

»Ich komm wieder«, sag ich und kraxel von meinem Platz auf der Couch, den Scruggs, ein Freund, der auf den Fußboden verbannt war, sofort in Beschlag nimmt. In einer flüssigen Bewegung kommt Scruggs hoch.

»Du hast nicht eins-fünf gerufen«, sagt er.

»Eins-fünf?« Ich versteh ihn nicht.

»Zu spät.«

Ich zucke die Achseln und steige über die Klamotten und Beine der Leute weg, hin zu der beigen Tür im Stil einer Wohnungstür; durch die durch, dann geh ich nach rechts: in Aarons warmes Badezimmer.

Bei Bädern hab ich ein System. Ich verbringe viel Zeit darin. Es sind Heiligtümer, über die ganze Welt verteilte öffentliche Ruheorte für solche wie mich. In Aarons Bad reinzugehen ist nichts anderes, als in meinem normalen Trott weiter Zeit zu verplempern. Als Erstes schalte ich das Licht aus. Dann seufze ich. Dann drehe ich mich um, der Tür zu, die ich gerade geschlossen habe, ziehe mir die Hose runter und lasse mich auf die Toilette plumpsen – ich setze mich nicht, sondern lasse mich wie einen Kadaver fallen und spüre, wie sich mein Hintern an den Sitz anschmiegt. Dann stütze ich den Kopf in die Hände und atme aus beim – na ja, ihr wisst schon – Pissen. Ich geb mir immer Mühe, das zu genießen, genau zu spüren, wie es rauskommt und mir klarzumachen, dass mein Körper das tut, weil er es tun muss, genauso wie essen, obwohl das nicht meine Stärke ist. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und wünsche mir, es könnte ewig weiterlaufen. Es fühlt sich so gut an! Man macht es und dann ist es getan. Man braucht sich dafür nicht anzustrengen und nichts zu planen. Man verschiebt es nicht auf später. Das wäre ja auch richtig verkorkst. Wenn man solche Probleme hätte, meine ich, dass man nicht pissen könnte. Wie magersüchtig, bloß halt bei Urin. Wenn man das zurückhielte, um sich selber zu bestrafen. Ob das jemand tut?

Ich werd fertig und spüle, greife hinter mich, mein Kopf ist noch gesenkt. Dann stehe ich auf und mach das Licht wieder an. (Ob die gemerkt haben, dass ich im Dunkeln hier drin war? Ob denen aufgefallen ist, dass kein Licht durch den Türspalt kam? Ob Nia es gemerkt hat?) Dann schau ich in den Spiegel.

Ich seh so normal aus. Ich seh aus, wie ich immer ausgesehen habe, nicht anders als voriges Jahr im Herbst. Dunkles Haar, dunkle Augen, ein schiefer Zahn. Dichte Augenbrauen, die in der Mitte zusammenwachsen. Lange Nase, irgendwie schief. Pupillen, die von Natur aus groß sind – nicht vom Kiffen – und, ins Dunkelbraun übergehend, zwei tellergroße Augen entstehen lassen, richtige Löcher. Haarbüschel über der Oberlippe. Das ist Craig.

Außerdem sehe ich immer aus, als würde ich jeden Moment anfangen zu heulen.

Ich dreh das warme Wasser auf und klatsche es mir ins Gesicht, um was zu fühlen. In ein paar Sekunden muss ich wieder zurück und der Meute gegenübertreten. Dabei könnte ich doch noch ein bisschen im Dunkeln auf der Toilette sitzen bleiben, oder? Ich schaff es immer, dass ein Gang aufs Klo fünf Minuten dauert.

Eine echt verrückte Story

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